Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Gehirnspülung aus Klangwellen

 

In diese Musik muss man eintauchen! Cold Specks aus Kanada schafft es, mit melancholischem Songwriterpop die Gemüter zu erhellen. Ein brillantes Debütalbum.

© Jim Anderson

Gute Musik liegt am Grund eines tiefen trüben Flusses. Mit dem Gepäck des Anspruchs muss man mühsam waten, statt Hals über Kopf hindurch zu kraulen. Muss eine Furt finden im dunklen Wasser, muss sie mit den Füßen über glitschige Steine hinweg ertasten im klebrigen Schlick. Muss fühlen, ahnen, balancieren, während die Brust zwischen Oberfläche und Untergrund den Widerstand besiegt. Die leichte Muse ist ein seichtes, klares, durchscheinendes Gewässer; es segelt sich schnell darüber hinweg, beschwingt, gedankenlos. Gute Musik erfordert langen Atem, man muss schon nach ihr tauchen.

Das Wasser von Cold Specks ist besonders tief und trübe. Man glitscht gehörig, tastet lange erfolglos, taucht fast zu lange und möchte rasch wieder auftauchen, kraulen, am besten zurück. Doch wer es bis zum Ende des Flusses schafft und zurück an Land die letzten Tropfen aus den Ohren schüttelt, wird merken: Das Debüt der kanadischen Songwriterin ist gute Musik, brillante sogar, selten zuvor gehört, nicht so zumindest.

Al Spx, die Sängerin hinter Cold Specks, nennt diesen getragenen, bisweilen pathetischen, dennoch zwanglos ergreifenden Folkwavepop „Doom Soul“. Der em>NME hält ihn für „geradezu besessen“. Wir sprechen nicht minder fasziniert mal von: Wassermusik.

Wem das zu poetisch klingt, dem sei das Video, was heißt Video: das Kunstwerk zur Single Holland empfohlen. Schon die Ballade selbst, mit der Al gewohnt hintergründig in Rotterdamer Rinnsteinen nach irgendwas wie Gott sucht (und nicht findet), schwappt mit leisen Gitarren und Geigen durchs Hirn wie finstere Gedanken, die gospelflankiert in einen Fluss münden. Doch erst die Bebilderung öffnet alle Schleusen. Überall tropft und wächst und wogt es, eine Stromschnelle der Gleichnisse. Eine Gehirnspülung. Man muss sie nur zulassen.

Denn Al Spx‘ Stimme ist sperrig, undurchdringlich. Sie klingt ein wenig, pardon, nach den Reiberöhren der Siebziger, die Anfang der Achtziger in Schnulze machten: Kim Carnes, Bonnie Tyler, so was. Und sie macht das Wasser so schlammig wie es die grüblerische Schwermut dahinter undurchsichtig macht, für Menschen ohne psychische Belastungsstörung also erstmal wenig attraktiv.

Doch in dieses tiefe trübe Wasser müssen auch Gutgelaunte kurz hinein, dann eröffnet sich auf der anderen Seite eine der schönsten Platten melancholischen Songwriterpops mit etwas Soul, dem ein Doom voranzustellen viel zu sakral und düster klänge.

I Predict A Graceful Expulsion heißt das Album und kündigt, vage übersetzt, eine anmutige Austreibung an. Doch anders als es die getragenen Texte voll beerdigter Träume und Wintersonnenwenden, beträufelt mit effektarmer Instrumentierung am Rande des Countryfolk andeuten, wird hier kein Teufel exorziert; höchstens die trügerische Gewissheit der Spaßgesellschaft, gute Laune gäbe es nur quietschfidel. Cold Specks hellt das Gemüt auf. Man muss dafür nur kurz untertauchen.

„I Predict A Graceful Expulsion“ von Cold Specks ist erschienen bei Broken Hertz Records/Mute.