Sexuelle Orientierung? Egal! Hier kommt das unglaubliche Debütalbum von Frank Ocean, der auf dem besten Weg ist, ein moderner Marvin Gaye Prince D’Angelo Wonder zu werden.
Was haben Fußballprofis und R’n’B-Künstler gemeinsam? Beide scheinen ausnahmslos heterosexuell veranlagt zu sein. Besonders im Hip-Hop geriert man sich gern als hypermaskuliner Frauenheld – „no homo“ lautet die Devise. Entsprechend groß war der Wirbel, als Frank Ocean vor zwei Wochen im Netz offenbarte, dass seine erste große Liebe ein Mann war.
Noch in den Neunzigern wäre die Karriere dieses R’n’B-Musikers wohl mit einem Schlag vorbei gewesen. Heute ist das glücklicherweise anders. Viele von Oceans Kollegen – darunter Jay-Z, Beyoncé und Tyler, The Creator – reagierten positiv auf dessen Coming-out als Bisexueller. Dass er damit nur wenige Tage vor dem Erscheinen seines Debüts an die Öffentlichkeit gegangen ist, ja, darüber mag man denken, was man will.
Wenig später dann sein erster Fernsehauftritt, mit dem Ocean dem US-amerikanischen Publikum Gänsehaut bereitet: Schüchtern tritt er vor Jimmy Fallons Hausband, es ertönen Akkorde einer Kirchenorgel, Ocean beginnt zu singen: „Taxi driver / Be my shrink for the hour / Leave the meter running„. Ein gerade mal 24-Jähriger vereint in diesem Song den Soul von Marvin Gaye, die Stimme von D’Angelo und die emotionale Wucht von Purple Rain. Und das ohne einen Anflug von Selbstgefälligkeit. Wie weit Ocean hinter seine Musik zurücktritt, zeigt auch das Albumcover, auf dem weder sein Foto noch sein Name prangen. Als Produzent fungierte sein Hund Everest.
Das unterscheidet ihn (noch) von anderen R’n’B-Stars: Nicht er, sondern die Songs und vor allem die Lyrics stehen im Mittelpunkt. Als Hintergrundmusiker fing er denn auch an. Als Hurrikan Katrina seine Heimatstadt New Orleans unter Wasser setzte, stieg der Musiker – damals hieß er noch Christopher Breaux – mit 1.200 Dollar ins Auto und fuhr nach L.A. Dort schrieb er Songs für Justin Bieber und John Legend, wurde Teil des Hip-Hop-Kollektivs Odd Future.
Die thematische Bandbreite seiner Songs reicht von unerwiderter Liebe und Forrest Gump bis zu Groupiesex und Cracksucht. Oceans Genre könnte man Post-Neo-Soul nennen. Das hinreißende Thinkin Bout You besteht aus Streichern, Synthesizern und einem simplen Beat. Mit einer Verletzlichkeit, die nichts mit Gefühlsduselei zu tun hat, lässt Ocean seine Stimme ins Falsett kippen. Die Wirkung ist überwältigend. Vielleicht ist seine einzige Schwäche, dass er sich diesen Minimalismus nicht oft genug zutraut.
Jeder Song des Albums eröffnet eine neue Welt. Pop, Soul, Funk und Hip-Hop: Alles nur Teile eines größeren Oceanismus, ergänzt durch Gastauftritte von André 3000, Pharrell Williams, Earl Sweatshirt und – warum auch immer – John Mayer. Wenngleich der Einfluss von Prince und Stevie Wonder nicht zu überhören ist, klingt das Album erstaunlich frisch und eigenständig. In der öden R’n’B-Wüste wirkt Frank Ocean wie eine Eisteebar mit Sonnenschirm.
Exemplarisch für den Klang des Singer-Songwriters ist das zehnminütige Pyramids: Ambientsounds und Achtziger-Funk verschmelzen mit Psychedelic-Rock-Gitarren und Trompeten zu einem Gleichnis über Königin Kleopatra und eine moderne Prostituierte. Dazu Synthiebässe, Autotune und ein Ibiza-Beat.
Pyramids von Frank Ocean
Zweifelsohne ein brillantes Album, von dem man noch lange sprechen wird. Hoffentlich wegen seiner wegweisenden Musik und nicht, weil sein Schöpfer mal was mit einem Mann hatte.
Abschließend noch ein Hinweis für Freunde des Shufflemodus: channel ORANGE ist ein Gesamtkunstwerk, zusammengehalten durch Einschübe und Interludien – von den Sounds einer Spielkonsole bis zu einer mütterlichen Moralpredigt. Man darf es also ganz unzeitgemäß von Anfang bis Ende hören.
„channel ORANGE“ von Frank Ocean ist erschienen bei Universal.