Das ist der Sound von London: Die Sons of Kemet verquirlen Einflüsse aus Afrika, Amerika, Europa, Jazz, Reggae, Dub zu einem starken Cocktail.
Wie das losrockt. Ein Latin Groove, lärmend auf der Stand-Tom, düster und präsent, druckvoll und unausweichlich, ein zweites Schlagzeug, das den Groove in einen Dschungel der Akzente auffächert, laut oder leise, in kontrastierenden Mustern oder unisono, unter Hochdruck oder entspannt.
Schon bevor Oren Marshall mit den schmatzenden Bassläufen seiner Tuba den musikalischen Horizont in Richtung Marching Band und Karneval verschiebt, haben Tom Skinner und Seb Rochford, die beiden Schlagzeuger der Sons of Kemet, im rhythmischen Untergrund eine Spannung aufgebaut, die die Gelenke in Bewegung versetzt.
Die Sons of Kemet, die sich Anfang November zum Abschluss des Jazzfests Berlin erstmals einem begeisterten Publikum auf dem europäischen Festland vorstellten, sind das neue Power-Quartett aus London, ein quicklebendiger, stilistisch unersättlicher Musik-Organismus, der lässig die Plüschsessel und Notenpulte des Jazzbetriebs von der Tanzfläche wischt und Platz schafft für eine Musikmixtur, deren Bewegungsintensität die Grenzen zwischen Dissonanz und Geräusch, zwischen Harmonie und Seligkeit dahinschmelzen lässt.
Im Zentrum steht: Shabaka Hutchings, 30 Jahre alt, Bandleader. Geboren in London, aufgewachsen in Barbados, bevor seine Familie wieder nach London zog. Hybridisierung qua Biografie: Hutchings spricht von „Ortlosigkeit“ und einem „Gespür für das Nomadische“, womit er weniger einen „Erbanspruch“ meint auf „das idyllische Bild, das die Tourismusindustrie von der Karibik zeichnet“, als vielmehr die Offenheit für entwurzelte Ideen und versprengte Einflüsterungen, für überraschende Kombinationen der musikalischen Sedimente, die die Migrationsbewegungen der Moderne hin und her schwemmten.
„Die Musik, die wir spielen“, erklärt der klassisch ausgebildete Klarinettist, Saxofonist und Komponist, „ist wie ich, ein Bastard. Ich bin der Bastard, der sie hierher gebracht hat, ich bin der Typ, der Elemente des Jazz aus Amerika entwendet.“ Bei Hütern der reinen Jazzlehre trifft er damit nicht auf Gegenliebe. In seinen Stücken für die Sons of Kemet lässt er die Rhythmen der Karibik auf die molligen Tonleitern Kleinasiens treffen, das kehlige Bratzen der Tuba auf den Schrei des Saxofons, den zarten hölzernen Ton der Klarinette auf Phrasierungen, die einen Hauch von Dub und Reggae herüberwehen lassen.
Alles ist möglich und folgt einer persönlichen Logik, die mit den Mitteln der Improvisation die Fäden von der Musik der Karibik über den Reggae der Rastafari und die Musik der Maroons, entlaufener Sklaven, die sich in schwer zugänglichen Regionen der karibischen Inseln zusammenschlossen, bis nach Afrika zurückverfolgt. Wobei das „Kemet“ im Bandnamen auf das prähistorische Ägypten verweist, während der Vornama Shabaka in die Nachfolge des letzten nubischen Pharao setzt.
Komplizierte Verhältnisse, die von den Sons of Kemet auf einen musikalischen Nenner gebracht werden: Musik für Tanz und Trance gleichermaßen, eine wilde Mischung, die Grenzen ausradiert und Bauch wie Kopf strapaziert und gleichzeitig erfreut. Eine alchimistische Versuchsanordnung aus musikalischer Archäologie und Freibeuterei, die nur in London zum Erfolg führen kann: Die unverminderte Zuwanderung aus der Karibik, wo sich die verschiedenen Kultursphären des vorkolumbianischen Amerika, Afrikas und Europas drastischer und vielgestaltiger begegneten als auf dem amerikanischen Festland, sich voneinander abgrenzten und aufeinander reagierten, sorgt für die kritische Masse an Hörern, die für die verschiedenen Schichten dieser Musik so aufgeschlossen sind, dass sie ihr die nötige Prozessenergie zuführen. „Das ist der Trend in der aktuellen britischen Musik“, erklärt Hutchings mit Überschwang. „Das ist der Sound von London, das könnte sonst nirgendwo entstehen.“
„Burn“ von Sons of Kemet ist erschienen bei Naim/Indigo.
Aus der ZEIT Nr.4/2014