Wäre Marvin Gaye vor 25 Jahren nicht erschossen worden, hätte er seine Stimme wohl den Junior Boys aus Ontario geliehen. Denn deren Elektro hat den Soul
Wie klänge es wohl, hätte Marvin Gay Senior seine moralinsaure Aggression am 1. April 1984 an einem Boxsack ausgelassen – und nicht an seinem Sohn? Hätte er ein Bad in kalifornischer Sonne genommen, anstatt zum Revolver zu greifen? Marvin Gaye Junior wäre noch am Leben – und würde musizieren, natürlich! Im vergangenen Monat wäre er 70 geworden, wahrlich kein Alter für eine Soul-Legende.
Und so wär’s wohl gekommen: In den Neunzigern hätte ein Starproduzent ihn aus der kokainbestäubten Versenkung geholt, seine politischen Kanten geschliffen und seinen Soul weichgespült. Unzufrieden mit sich und dem Dauerengagement in Las Vegas hätte er sich bald aktueller Musik gewidmet. Von Kieran Hebden hätte er sich beibringen lassen, wie man Computern ansprechende Töne entlockt und im Jahr 2009 mit den kanadischen Junior Boys ein irrwitziges Album aufgenommen.
Marvin Gay Senior hatte sich damals schlecht unter Kontrolle, so mussten die Junior Boys das Album nun allein aufnehmen. Begone Dull Care heißt es, es ist ihr drittes. Und es hat Soul, auch ohne den populären Gastsänger.
Matt Didemus und Jeremy Greenspan sind die Junior Boys
(Foto: Joe Dilworth)
Die Junior Boys bringen so ziemlich alles zum Klingen, was im Elektronischen gerade angesagt ist: analoge Synthesizer aus den Achtzigern, scheppernde Computerspielklänge, hochmoderne Sequenzer. Wo da der Soul bleibt? Tagsüber ließen die Musiker ihre acht neuen Stücke in der milden Sonne Süd-Ontarios liegen, sie sogen die Wärme auf und bekamen einen gesunden Teint. Nachts führten sie sie in die Engtanz-Kaschemmen von Hamilton aus, der Hafenstadt aus der sie stammen, und ließen sie zwischen euphorisiert Tanzenden in den Clubs von Toronto taumeln. So kam die Seele und vertrieb die Kühle.
Einen großen Anteil an der Lebendigkeit des Werks hat der Sänger Jeremy Greenspan. Natürlich reicht seine Stimme nicht an die des zu früh verblichenen potenziellen Gastsängers heran, wie auch. Sie ist weich, fast ein bisschen dünn. Doch Greenspan schiebt die Worte bewusst und feinsinnig flach über die kristallklare Elektronik. Wie Eiswürfel schmelzen die Klänge dahin, jeder Wassertropfen wird ein Beat, zum Rinnsal versammelt gehen sie direkt ins Ohr, ins Herz, in den Bauch.
Ob sie also schwerfällig stapfen, die Lieder, oder ins Wolkige verklingen, ob sie zum Tanz auffordern oder die Magengrube durchforsten, immer ist da Wärme, wahrhaftiger Soul. Natürlich ist da noch mehr, fluffiger Pop, Tanzbodenmelancholie, kleine Krümel Funk, Frickelei, Indietronics, aber das alles klingt nur im Hintergrund mit.
Und Marvin Gaye? Nach diesem elektronischen Meisterwerk, das mehr alte Fans verprellte, als neue anzog, wäre er vielleicht doch wieder in ein kreatives Loch gefallen. Die Strickleiter hinunter ließe demnächst sicherlich Rick Rubin, es entstünde ein angemessenes Alterswerk. Zu schade, diese blöde Geschichte mit dem Revolver.
„Begone Dull Care“ von den Junior Boys ist auf CD und Doppel-LP erschienen bei Domino Records/Indigo
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