Wer beim Wort „Austro-Dub“ an plörrige Wiener Mélange denkt, liegt falsch. Denn Hey-O-Hansens skurriler Musikkosmos ist dort, wo sich Rastafari und Bergziege gute Nacht sagen
Es gibt Platten, bei denen bereits der Blick aufs Cover erahnen lässt, in welch geheimnisvolle Welt sie den Hörer entführen werden. Dies ist so eine Platte: Auf einer Wiese in einer zerfurchten Alpenlandschaft halten ein Hase und ein Geißbock ein Pläuschchen am Lagerfeuer. Von rechts stiefelt ein Murmeltier heran, am linken Bildrand hockt ein Dachs auf einer Bergkuppe. Alle Tiere sind festlich gekleidet, sie tragen Frack, der Hase und das Murmeltier außerdem einen Zylinder, die Größenverhältnisse sind dem Zeichner insgesamt ein wenig aus dem Lot geraten. Eine zufriedene Sonne und ein skeptischer Mond beobachten das Treiben, ihre Gesichter ähneln denen zweier Musiker: Helmut Erler und Michael Wolf.
Das alles ist natürlich kein Zufall, denn in der Musik von Erler, genannt „Hey“, und Wolf, Spitzname „Hansen“, geht es bisweilen ähnlich surreal zu wie auf dem Cover-Motiv. Unter dem Namen Hey-O-Hansen haben die beiden Innsbrucker, die seit langem in Berlin leben, in den vergangenen 15 Jahren eine Reihe von Kassetten und Vinylsingles veröffentlicht. Außer einem Häuflein Eingeweihter nahm allerdings kaum jemand davon Notiz.
Warum nur? Weil Erler und Wolf solch gemütliche Eigenbrötler sind, die sich nicht am hektischen Szenetrubel beteiligen? An ihren Songs kann es nicht liegen, denn es sind mitunter kleine Hits, die Hey-O-Hansen da hervorzaubern. Einige davon hat das Lüneburger Elektronik-Label Pingipung nun auf einer CD zusammengestellt: Sonn und Mond heißt sie, Untertitel: Rare And Unreleased Austro-Dub Tracks 1995–2009.
Austro-Dub – das klingt ein bisschen nach einer plörrigen Wiener Mélange à la Kruder & Dorfmeister, doch davon ist Hey-O-Hansens Musik ungefähr so weit entfernt wie ein Tiroler Bergwiese von einem Tonstudio auf Jamaika. Wobei: Liegt Kingston Town nicht in Wirklichkeit in Tirol? Wer die 16 hier versammelten Stücke hört, ist jedenfalls versucht, das zu glauben. Hey-O-Hansen sind Meister der Entwurzelung, hin und wieder verrücken sie auch die Champs-Élysées in die Berliner Alpen. Französische Chansons, österreichische Volksmusik, Reggae, Ska, Dubstep, nichts ist ihnen heilig, alles überführen sie mit beinah kindlicher Naivität in ihren grenzenlosen Mikrokosmos.
Albern oder gar komödiantisch wirkt das nie. Das mag auch mit der Ernsthaftigkeit der Produktionsweise zusammenhängen: Das Mischpult dient Hey-O-Hansen, wie im Dub üblich, als eigenständiges Musikinstrument – und das Spiel mit der Tiefe des Raumes beherrschen sie virtuos. Die aufregendsten Effekte jedoch erzeugen sie nicht mit Hilfe der Studiotechnik, sondern allein kraft ihrer zauseligen Fantasie. Was etwa hat die Harfe in John Holts Reggae-Klassiker Strange Things zu suchen? Und überhaupt, was singen die da eigentlich?
Wenn sich die Japanerin Kazumi in dem Lied Die Sonn und der Mond mit dem deutschen Text abmüht, eine falsche Französin namens Frauke-Marie in Sans Toi und J’ai peur das Mikrofon ergreift oder Dirk von Lowtzow von der Band Tocotronic in Abraxas Version in deutsch gefärbtem Englisch den Schweizer Psychologen C. G. Jung rezitiert, dann … ja, dann … fehlen dem Hörer angesichts solchen Mutes zum Skurrilen die Worte.
Vor allem diese Verfremdungseffekte sind es, die Hey-O-Hansens Musik zu etwas Besonderem machen. Es ist wie mit dem Cover: Nichts will auf Sonn und Mond so recht zusammenpassen. Aber weil Erler und Wolf aus der Not konsequent eine Tugend machen und zudem in jeder Sekunde Charme und Herzensbildung beweisen, fügt sich am Ende eben doch alles zu einem runden Ganzen – ’s passt scho, wie man in Kingston zu sagen pflegt.
„Sonn und Mond – Rare And Unreleased Austro-Dub Tracks 1995–2009“ ist bei Pingipung erschienen
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