Bengt Säve-Söderbergh, der ehemalige schwedische Botschafter und jetzige Präsident der Schwedischen Jazz-Föderation, saß an der Bar des Hotel Rival in Stockholm. Das Hotel gehört Benny Andersson von ABBA. Auf den Tischen im Foyer lagen Zettel, mit denen ein Konzert des Free-Jazz-Saxofonisten Mats Gustafsson in einem kleinen Club in der Nähe beworben wurde. Oben im Restaurant des Hotels saß der Posaunist Nils Landgren bei der Familie des verstorbenen Pianisten Esbjörn Svensson. Die Menschen kennen sich hier in Stockholm. Sie wissen umeinander, kennen die Geschichten der anderen.
Nach dem Tod Svenssons am 14. Juni 2008 hatte Benny Andersson den Theatersaal seines Hotels einer Gedenkfeier zur Verfügung gestellt. Ausgerichtet wurde sie von Svenssons Schlagzeuger und Freund Magnus Öström. Es war eine berührende Feier: Im Saal lief leise ein getragenes Stück von Sigur Rós, der Lieblingsband Svenssons. So war das immer vor Konzerten von e.s.t., des Esbjörn Svensson Trios. Auch die Instrumente auf der Bühne waren angeordnet, als trete die Band auf, der Flügel geöffnet, Bass und Schlagzeug in stummer Erwartung. Viele schwedische Künstler, mit denen Esbjörn Svensson zusammengearbeitet hatte, waren gekommen: Die Dichterin Kristina Lugn, der Saxofonist Joakim Milder und die Sängerin Lina Nyberg, die später mit dem Pianisten Anders Persson den Waltz For The Lonely Ones sang.
Später an der Bar erzählte Bengt Säve-Soderbergh von seiner Zeit mit Olof Palme und seiner ersten Begegnung mit dem Jazz, der Musik des gesellschaftlichen Aufbruchs. Und er erzählte von seiner ersten Begegnung mit Esbjörn Svensson, noch lange vor der Gründung des Trios. Berichtete, dass Svensson und Öström in den kleinen Clubs Stockholms auftraten und sie sich mit Aushilfsarbeiten im Ministerium ihre Musik finanzierten. Er habe die beiden damals gebeten, in die Schulen zu gehen, um den Kindern Jazz zu erklären.
Nun, zehn Jahre nach der Gründung des Trios, war Esbjörn Svensson auf dem Höhepunkt seines Erfolgs angelangt. e.s.t. spielten Konzerte überall auf der Welt, selbst die New York Times und die Jazz-Zeitschrift Downbeat zollten ihnen Anerkennung. Im vergangenen Jahr nahmen sie in Sydney das Album Leucocyte auf, das jetzt erscheint. Der Titel ist programmatisch, wie die weißen Blutkörperchen, die den Körper vor Krankheiten schützen, erneuerten sich e.s.t. beständig.
So scheinen sie mit Leucocyte in eine neue Phase eingetreten zu sein. Lange, mehrteilige Kompositionen mit weiten, sich elektronisch verdichtenden Improvisationsbögen dominieren das Album. Die solo gespielte Ballade Decade eröffnet voller Ruhe und Offenheit. Metallische Klänge und das Inferno des Stücks Earth wischen diese Ruhe weg, das folgende Jazz beginnt düster, entwickelt sich zu einem treibenden Modern Jazz und zerfällt schließlich in seine Teile. Serielle Abfolgen, die an asiatische Tempelgongs erinnern, bilden eine meditative und verstörende Kulisse. Im fünfundzwanzigminütigen Titelstück fügen e.s.t. Fragmente zu einer langsamen Melodie zusammen.
Esbjörn Svensson engagierte sich im Umweltschutz, die Leukozyten im Titel könnten ein Sinnbild des Zustands der Erde sein. Stücke wie Decade oder Ad Mortem klingen wie unheimliche Vorahnungen, sie zeichnen ein düsteres Bild der Welt. Die poetischen, spielerischen Titel früherer Alben findet man hier nicht. Am Ende des Albums klingt in der malmenden, sich immer bedrohlicher wendenden Musik vereinzeltes Vogelgezwitscher auf, danach entfernt sich der Geräuschkreisel immer weiter. Zurück bleibt Stille.
„Leucocyte“ von e.s.t. ist bei Act/Edel erschienen.
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