Es war die Zeit des sanften Protests: Im Jahr 1973 nahm der junge schwedische Pianist Bobo Stenson gemeinsam mit dem norwegischen Saxofonisten Jan Garbarek das Album Witchi-Tai-To auf. Der Titel bezog sich auf eine Komposition von Jim Pepper, die wiederum auf dem heiligen Lied des Wassers der amerikanischen Ureinwohner vom Stamm der Kaw beruhte. Das Witchi-Tai-To galt der Anerkennung der Kultur amerikanischer Ureinwohner, die seit Kolonialzeiten als „Indianer“ diskriminiert wurden. Auch Hasta Siempre von Carlos Puebla wurde damals immer wieder gespielt, es war – zwei Jahre vor der Ermordung Allendes in Chile – Sinnbild des gesellschaftlichen Aufbruchs. Jazzmusiker wie Garbarek, Stenson und Pepper, aber auch Charlie Haden und Don Cherry widmeten sich in ihrer Musik diesem Aufbruch.
Bobo Stenson lernte die amerikanischen Musiker in seiner Zeit in Paris und später in Stockholm kennen und spielte mit ihnen. Er war an vielen wichtigen Aufnahmen des spirituellen, politischen und stilistischen Aufbruchs beteiligt und nahm auch mit seinen eigenen Gruppen immer wieder Stücke auf, die den gesellschaftlichen Wandel thematisierten. So interpretiert er auf seinem neuen Album Cantando Stücke des kürzlich verstorbenen tschechischen Komponisten Petr Eben, des kubanischen Liedermachers Silvio Rodriguez, von Ornette Coleman und Don Cherry sowie die von Alban Berg vor einhundert Jahren komponierte Liebesode.
Don Cherrys Don’s Kora Song – in dem dieser das Thema von Hasta Siempre aufgriff – erinnert Stenson an die Zeit, die er mit Cherry verbrachte. Auf den Busfahrten der Band legte er oft Musik aus Mali ein. Dieser Klang habe ihn über Jahre begleitet, sagt Stenson. Viele der von ihm nun neu interpretierten Musiker sind nicht mehr am Leben, Cantando trägt ihre Musik weiter. Gerade in Don’s Kora Song taucht er so tief und konzentriert in die Melodie ein, als spiele er sie wieder gemeinsam mit Don Cherry.
Stenson lässt seinem Trio auf Cantando weiten Raum zum gemeinsamen Improvisieren. Er nennt das „freie Kammermusik“: Die Töne seines Klaviers breiten sich aus, wie die Schwingen eines gleitenden Vogels. Die gestrichenen Melodien des Bassisten Anders Jormin gleiten in den Raum, manchmal klingt sein Instrument wie ein Saxofon. Sparsam akzentuiert der Schlagzeuger Jon Fält das Spiel der beiden, obwohl er gerade erst zu Stensons Trio stieß, finden sie die Klänge. Viele Sequenzen sind ruhig und flächig, andere experimentell. Die Stilistiken fließen ineinander, die Töne haben Raum.
Cantando ist als Aufforderung zu verstehen, „Sing mir Dein Lied!“ Es kann auch bedeuten „Erzähl mir Deine Geschichte!“ Bobo Stenson erzählt die Geschichten seines Klanguniversums, die Stücke sind sanft und lockend, wie geflüsterte Liebeslieder – als singe er sein persönliches Witchi-Tai-To.
„Cantando“ vom Bobo Stenson Trio ist bei ECM erschienen.
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