Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Einführung ins Uramerikanische

 

Mit ihrem neuen Album beweisen Okkervil River, was für eine großartige Rockband sie geworden sind. „I Am Very Far“ zeugt von viel Sinn fürs Detail.

© Cargo Records

Okay, Will Sheff war ja selbst schuld. Benennt seine Band nach einer Kurzgeschichte einer halbberühmten russischen Dichterin. Bringt dann mit dieser Band kein Album ohne Konzept heraus. Und schreibt dazu auch noch vielschichtige, poetische Songtexte. Da braucht er sich ja nicht zu wundern, dass Okkervil River bisweilen weniger für ihre musikalischen Fähigkeiten gerühmt, sondern meist nur verstanden wurden als Vehikel für die literarischen Ambitionen ihres Chefs.

Sieht man das so, dann ließe sich I Am Very Far, das neue Album von Okkervil River, interpretieren als zweiter Schritt, nun endlich deutlicher als Rockband wahrgenommen zu werden. Der erste Versuch fand bereits vor einem Jahr statt und hieß True Love Cast Out All Evil. Für das Comeback des legendären Wahnsinnigen Roky Erickson agierten Sheff als musikalischer Direktor und Okkervil River als Hintergrund-Band. Es war ein ziemlich tolles Album, aber auch ein Signal: Hallo, guckt mal, ich kann mich auch zurücknehmen.

Das tut der mittlerweile 34-jährige Sheff auch auf I Am Very Far. Es ist das sechste Album von Okkervil River, vor allem aber das erste seit geraumer Zeit, auf dem er darauf verzichtet, seine Songs als Zyklus anzulegen und einem Thema unterzuordnen. Die neuen Songs sind einfach Songs. Sehr gute, ach was: irre gute Songs. Songs, die Okkervil River alle Möglichkeiten geben, zu beweisen, was für eine großartige Rockband sie geworden sind.

Waren die letzten beiden, kommerziell ziemlich erfolgreichen Alben der Band von einem vergleichsweise einheitlichen, vielleicht sogar etwas zu polierten Sound charakterisiert, demonstriert die Band aus dem texanischen Austin nun eine erstaunliche Bandbreite. Die reicht nicht nur von der verträumten Ballade Lay Of The Last Survivor bis zum fast schon monotonen Boogie des White Shadow Waltz, sondern rekapituliert wie nebenbei alle wesentlichen Kapitel uramerikanischer Rockmusik, die im vergangenen halben Jahrhundert geschrieben wurden. Ein wenig klingt I Am Very Far wie eine Vorlesungsreihe zu Geschichte, Bedeutung und Einordnung der Americana. Allerdings eine, die ganz großartig und völlig unwissenschaftlich rockt – nie so heftig wie in Rider, in dem Arcade Fire in einem dicken Chevy von Bruce Springsteen überholt werden.

Ein nahezu akademischer Anspielungsreichtum: Seit George Martin mit den Beatles experimentierte, wurde wohl nicht mehr so viel Wert auf klangliche Details gelegt, ohne einfach in die digitalisierte Trickkiste zu greifen. Für Piratess zerrissen Okkervil River Papier und Isolierband im Rhythmus. Für Rider sperrten sie zwei Schlagzeuger, zwei Bassisten, zwei Pianisten und gleich sieben Gitarristen in einen Raum, um den Dampf einer live spielenden E Street Band zu rekonstruieren. Aufgenommen wurde dann aber zum großen Teil auf einer altmodischen Acht-Spur-Bandmaschine, um so einen angemessen erdigen Sound zu garantieren. Da hat, man muss es wohl so sagen, jemand ziemlich gebastelt und gebosselt. Selbst schuld. Aber es hat sich gelohnt.

„I Am Very Far“ von Okkervil River ist erschienen bei Jagjaguwar/Cargo.