Lesezeichen
 

Der eigentliche König

Es war keine bedeutende Rede, aber eine gute. Paul Ryan schluckte ein paarmal, redete manchmal ein bisschen zu schnell und suchte zwischendurch immer mal wieder Halt am Wasserglas. Die Nervosität war dem republikanischen Vizepräsidentschaftskandidaten bei seinem großen Auftritt am Mittwochabend auf dem Parteitag in Tampa durchaus anzumerken.

Aber nach Ann Romney hat auch er die Bewährungsprobe ziemlich glanzvoll bestanden. Ryan war angriffslustig, ohne dabei zu überziehen. Er war ernsthaft, ohne mit zu vielen Details zu langweilen. Und er wurde der Erwartung gerecht, die treibende Kraft hinter der neuen ideologischen Ausrichtung der Romney-Kampagne zu sein. „Lass es uns anpacken!“, sagte er zu Romney, als dieser ihm das Vizeamt antrug.

Die alte Regel sagt, Amerikaner wählen den Präsidenten und nicht den Vize. Und in der Regel nimmt das Volk vom Stellvertreter kaum Notiz. Doch unweigerlich fühlte man sich an den Republikanerparteitag vor vier Jahren erinnert, als der müde John McCain seiner Kampagne mit der überraschenden Kür von Sarah Palin für einen kurzen Moment neues Leben einhauchte.

Gegen den Staat

Auch Mitt Romney brauchte diesen neuen Schub. Aber Ryan ist keine zweite Palin. Dafür ist er zu seriös, dafür fehlt ihm zum Glück die Dreistigkeit und Frechheit der Ex-Gouverneurin von Alaska. Und dafür ist Ryan unter Republikanern viel zu bekannt. Schließlich sitzt der 42-jährige Kongressabgeordnete aus Janesville, Wisconsin, seit 14 Jahren im Parlament zu Washington, er führt den Haushaltsausschuss, schreibt politische Programme und gilt seit mindestens zwei Jahren als der Kopf der neuen konservativen Antistaatsbewegung.

Auch wenn in der Halle von Tampa vielleicht die ganz große Euphorie ausblieb, die damals für einen kurzen Moment Palin zuteil wurde, ist Ryan der unumstrittene Liebling der Republikanischen Partei von 2012. Sein Glaubensbekenntnis ist auch ihres. Wie er stellt auch sie die reine Lehre über den politischen Kompromiss. Das gemeinsame Dogma lautet: Weniger Staat, weniger Gesetze, weniger Steuern!

Natürlich war manches, wie immer bei solchen Reden, geschönt. So ist Ryan nicht der Junge aus Janesville geblieben, der dem einfachen, bodenständigen Leben einer Kleinstadt verhaftet ist. Seit mehr als anderthalb Jahrzehnten arbeitet er die Woche über in Washington. Politik ist sein Beruf und seine Berufung. Und die Familie Ryan ist sehr vermögend.

Der Mittwochabend hatte außerdem eine Überraschung parat. Einen Moment lang dachte man, Ryan würde die Schau gestohlen. Denn kurz vor ihm sprach Condoleezza Rice, die ehemalige Sicherheitsberaterin und Außenministerin von George W. Bush. Als sie die Bühne betrat, tobte der Saal vor Begeisterung, Rice konnte es selber kaum fassen.

Rice sagt auch Unpopuläres

Es heißt, einen Moment lang habe Mitt Romney überlegt, die Stanford-Professorin zu seiner Vize zu machen. Außenpolitik ist Romneys schwache Stelle, und auch Ryan versteht nichts davon. Zudem ist Rice schwarz und eine Frau. Das alles schien verlockend. Doch die Idee wurde schnell verworfen, die Ära Bush und der Irakkrieg werfen einen zu langen Schatten.

Rice hielt eine großartige, eine aufrüttelnde und die bislang einzige bedeutende Rede. Man muss mit ihr nicht übereinstimmen und kann trotzdem konzedieren: Sie sagt, was sie denkt und flüchtet nicht in Allgemeinplätze. Manche ihrer Botschaften waren bei diesem Publikum sogar äußerst unpopulär. Wie etwa ihr klarer Appell für eine mitfühlende, eine menschliche Einwanderungspolitik.

Aber weil Rice so echt und authentisch wirkte. Weil ihre Lebensgeschichte so beeindruckend ist und so gut ins Bild vom amerikanischen Traum passt. Und weil ihre Präsenz vielleicht so manchen Delegierten wehmütig an Zeiten erinnerte, als die Republikaner im Weißen Haus regierten. Wahrscheinlich aus all diesen Gründen flogen Condoleezza Rice plötzlich die Republikanerherzen zu. Hätte Ryan seinen Auftritt verpatzt, wäre nur noch von der Stanford-Professorin die Rede gewesen. Doch er reüssierte, und Rice war schnell vergessen.

Allerdings zeigte Ryans Auftritt wieder einmal: Mitt Romney ist mit seiner Vizewahl ein großes Risiko eingegangen und muss aufpassen, dass er nicht in den Schatten gestellt wird. Die Republikaner von heute sehen nicht in ihrem Präsidentschaftskandidaten, sondern in dessen Stellvertreter ihren Hoffnungsträger und geistigen Anführer.

Ein neuer Mitt Romney

Mit seiner Entscheidung hat Romney den Stab bereits an eine neue Generation weitergegeben. Egal wie die Wahl am 6. November ausgeht, nicht Mitt Romney, sondern Paul Ryan läutet die neue republikanische Ära ein. Gewinnt Romney, wird zwangsläufig das Ryan-Programm zur Richtschnur des Präsidenten. Die Partei wird ihn gnadenlos daran messen. Verliert Romney, wird der Abgeordnete Paul Ryan die Republikaner führen und erster Anwärter für die republikanische Präsidentschaftskandidatur 2016.

Noch immer wissen viele Wähler nicht, was sie von Mitt Romney halten sollen. Deshalb hatten seine Strategen drei Dinge geplant: Ehefrau Ann Romney kam die Aufgabe zu, ihrem oft unterkühlt und hölzern wirkenden Mann ein wenig Herz und Gefühl zu verleihen. Chris Christie, der bullige Gouverneur von New Jersey, sollte Romney das Image eines entschlossenen, unerschrockenen Politikers verpassen. Und Paul Ryans Rolle war es, den Herausforderer Obamas inhaltlich aufzupumpen.

Donnerstag ist nun der große Mitt-Romney-Tag: Da wird man sehen, ob ein neuer Mitt Romney entstanden ist.

 

Outsourcer! Selber!

Mitt Romneys Umgang mit Kritik ist bemerkenswert. Zumindest versucht der Herausforderer von US-Präsident Barack Obama nicht platt, das Thema zu wechseln oder anderweitig abzulenken, wenn er angegriffen wird. Stattdessen folgt der Republikaner offenbar einer viel perfideren Strategie: Die eigenen Schwachpunkte kann man ruhig auch mal dem Gegner vorwerfen, besser noch in einem Atemzug für sich selbst als Stärke umdeuten.

Dabei greift er gern zu zweierlei Maßstäben. Etwa wenn es um die gigantischen Erweiterungspläne für seine Villa am Strand von San Diego inklusive Aufzug für Autos geht – nicht gerade ein Zeichen von Bodenständigkeit. Angesichts der Kritik daran, solche Errungenschaften regelmäßig als Zeichen seines großen Erfolgs und Verwirklichung des amerikanischen Traums zu verkaufen, erscheint clever. In den USA lieben sie Gewinnertypen. Im Jahr 2004 aber porträtierte er den damaligen Präsidentschaftskandidaten der Demokraten John Kerry wegen seiner großen Häuser als abgehoben und fern der Sorgen des einfachen Mannes. Das ist schon dreist.

Und dieses Muster setzt sich nun im Wahlkampf um das Weiße Haus in unzähligen Varianten fort. Romney wird den Ruf nie so ganz los, ein weltfremder Multimillionär zu sein, der schon mit dem goldenen Löffel im Mund geboren wurde und sich nicht für die Durchschnittsbürger interessiert. Natürlich ist das kein Anlass, auf ganz ähnliche Kritik an Präsident Obama zu verzichten. Der habe doch viel zu viel Zeit an der elitären Harvard-Universität verbracht, sei deshalb völlig „out of touch“. Dumm nur, dass Romney genau dort sogar zwei Abschlüsse gemacht hat, also viel länger blieb als Obama.

Meine Steuer, deine Steuer

Am besten lässt sich das Spiel mit den ungleichen Maßstäben derzeit an zwei Themen beobachten: an der Auslegung des Supreme-Court-Urteils zur Krankenversicherung und immer dann, wenn es um Jobs und die Wirtschaftslage geht.

Die Krankenversicherungspflicht aus Obamas großer Reform oder vielmehr die Strafzahlung für alle, die sich nicht versichern, ist in den Augen der höchsten Richter eine Steuer – nur so konnten sie die Vereinbarkeit mit der Verfassung begründen. Diese Einschätzung kommt Romney gerade recht, kann er Obama so doch eine Steuererhöhung vorwerfen. Allerdings bleibt der Republikaner die Erklärung schuldig, warum dann die sehr ähnliche Regelung zur Krankenversicherung, die er als Gouverneur von Massachusetts eingeführt hatte, eben keine Steuer gewesen sein soll. So zumindest sieht Romney die Dinge heute. Wühlt man etwas in den Archiven, stellt man fest, dass er damals sogar kurzzeitig selbst von einer Steuer gesprochen hatte.

Und dann ist da noch die Sache mit dem Outsourcing amerikanischer Jobs ins Ausland. Obamas Wahlkämpfer haben sich mit einigem Erfolg darauf eingeschossen, Romney als Pionier auf diesem Gebiet darzustellen, der in seiner Zeit an der Spitze des Finanzinvestors Bain Capital massenhaft Arbeitsplätze vernichtet habe – die Washington Post hatte berichtet, dass Bain Capital unter seiner Führung stark in Unternehmen investiert hatte, die Jobs in Niedriglohnländer verlagerten, etwa nach China.

„Outsourcer-in-chief“

Grundsätzlich konnte Romney dies nicht abstreiten, also verhedderte er sich erst einmal in Wortklauberei: Outsourcing sei der falsche Begriff, Offshoring müsse es heißen, Arbeit in Übersee könne ja auch den amerikanischen Export stützen.

Am Ende aber warf der Kandidat Obama genau dasselbe vor: dass der Präsident mit seinem staatlichen Hilfspaket zur Ankurbelung der Wirtschaft eben auch zu verantworten habe, dass Jobs ins Ausland abwanderten. Vom Geld der Steuerzahler hätten auch viele Firmen profitiert, die im Ausland produzieren ließen. Die Republikaner gehen mittlerweile sogar so weit, ihn als „Outsourcer-in-chief“ zu bezeichnen, also genau jenen Titel aufzugreifen, den das Obama-Lager selbst in einer Anzeigenkampagne benutzt, um Romney zu diskreditieren. Das mag knapp an der Wahrheit vorbeigehen, denn das Stimulus-Gesetz beinhaltet ausdrücklich Regelungen, die sicherstellen sollen, dass die Mittel direkt amerikanischen Jobs zugute kommen.

Doch auf diese Art nimmt Romney den Angriffen wegen seiner Tätigkeit als Finanzinvestor einiges an Wucht. Mehr noch ist Obama auf diesem Feld durchaus angreifbar: Längst fordern Kritiker etwa, er müsse stärker auf Chinas Währungspolitik einwirken, um die Gefahr einer Abwanderung amerikanischer Arbeitsplätze zu verringern. Und dass seine Kampagne Marketingaktivitäten in großem Stil in Call Center im Ausland auslagert, macht seine Lage auch nicht besser.

 

Alle Kraft den Visionen

Barack Obama will die Ende des Jahres auslaufenden Steuererleichterungen fortführen. Aber nur für die Mittelklasse, also nur für Amerikaner, die nicht mehr als 250.000 Dollar im Jahr verdienen. Die Steuererleichterungen für Reiche, die weiland der republikanische Präsident George W. Bush gleich mit durchsetzte, sollen gestrichen werden.

Das hat der Präsident am Montag verkündet und den Kongress aufgefordert, ihm möglichst sofort ein dementsprechendes Gesetz zur Unterzeichnung vorzulegen.

Daraus wird wohl nichts werden. Die Republikaner haben bereits gesagt: Entweder profitieren alle oder keiner. Und Obama hat bereits geantwortet: Er werde kein Gesetz unterschreiben, das auch fürderhin Millionäre und Milliardäre begünstige.

Populäres Thema für den Wahlkampf

Es war von vornherein klar, dass aus Obamas schönem Plan nichts wird. Schon in den vergangenen Jahren scheiterte er immer wieder damit. Selbst in seiner eigenen Partei waren längst nicht alle für die Trennung zwischen Reichen und Normalverdienern. Jetzt droht dem Plan erst recht das Aus. Denn schließlich ist Wahlkampf, und die Republikaner gönnen Obama keinen Erfolg.

Aber gerade weil Wahlkampf ist, musste das Thema jetzt auf den Tisch. Denn der Demokrat Obama, dessen Wiederwahl angesichts hoher Arbeitslosigkeit und lahmender Wirtschaft aufs Äußerste gefährdet ist, braucht dringend ein populäres Thema. Und eine Fortsetzung der Steuererleichterungen für Amerikas Mittelklasse ist populär. Außerdem markiert sie den Unterschied zum republikanischen Gegner.

Vor vier Jahren bewarb sich Obama mit dem Wahlkampfmotto „Hoffnung und Wandel“. Gezielt betonte er damals das Verbindende zwischen den Parteien und ihren Wählern und versprach, zu versöhnen und Brücken zwischen Demokraten und Republikanern zu bauen.

Staat als Motor des Wandels

Diesmal hingegen setzt er bewusst auf die Unterschiede. Obama sucht nicht nach dem Gemeinsamen, sondern nach dem Trennenden und streicht es heraus. Er stellt seine Vision gegen die seines Herausforderers Mitt Romney.

In Obamas Amerika ist der Staat zumindest für eine Übergangszeit Motor des Wandels und zugleich unabdingbare Voraussetzung, um etwa die veraltete Infrastruktur und das marode öffentliche Bildungssystem zu erneuern. Dazu braucht Obama Geld und will darum unter anderem die Reichen stärker zur Kasse bitten.

Laut Umfragen wird es ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Die Mehrheit der Amerikaner sind mit der Wirtschaft und Obamas Amtsführung unzufrieden. Verständlicherweise möchte der Präsident darum keinen Wahlkampf über Arbeitslosenzahlen und leere Auftragsbücher, also über die wenig schmeichelhafte Gegenwart. Sondern lieber über die Zukunft und über unterschiedliche gesellschaftliche Visionen.