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Ein Gedicht!

Sozusagen grundlos sauer
(nach Mascha Kaléko, »Sozusagen grundlos vergnügt«)

Mich ärgert, dass der Himmel blau ist
Die Sonne scheint, die luft so lau ist.
Mich ärgert auch die weiße Jahreszeit,
Wenn Eiskristalle blühen und es von oben schneit.
Dass Wölfe heulen und die Bären brummen,
Dass Gänse schnattern und die Krähen krähen.
Dass Flocken aus dem Schwarzen fallen.
Dass Vögel stumm sind. Und dass Fische singen.

Mich ärgert, dass kein Stern vom Himmel fällt
Und dass die Sonne uns den pelz verbrennt.
Dass Herbst dem Sommer folgt und lenz dem Winter
Gefällt mir nicht. Da steckt kein Sinn dahinter,
So wenig wie in diesem komischen Gedicht.
Wenn auch die ach so Schlauen einen sehn
Man kann nicht alles ungeköpft verstehn!
Ich ärgre mich. Und das ist meines lebens Sinn.
Ich ärgre mich vor allem, dass ich bin.

In mir ist alles durcheinander und ganz düster:
Hab keine Kohle, keinen Kerl und kaum noch Kraft.
An solchem Tag, da fällt man von der leiter
Die Stufen bis zur Hölle und noch weiter.
Da kann kein Mensch, wie es ihm vorgeschrieben,
weil er sich selber hasst – den Nächsten lieben.
Mich ärgert, dass gedankenlos ich nach dem Schönen greife
Und blind bin für die Wunder dieser Welt.
Dass alles immer gleich bleibt, so beim Alten!
Mich ärgert so, dass ich … Dass ich mich ärgere.

Corinna Reinke, Hamburg

 

Was mein Leben reicher macht

Meine Frau muss seit zwei Jahren in einem Pflegeheim leben. Kürzlich, beim Abschied von ihr ein längeres, freundschaftliches Gespräch mit ihrem Arzt. »Du musst dich jetzt nicht kasteien«, sagt er. »Du hast auch ein Anrecht auf ein eigenes Leben!«

Jürgen Hagenmeyer, Hamburg

 

Straßenbild: Jederzeit

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Auf dem Nachhauseweg von Norderney kamen wir kürzlich im Ostfriesischen an diesem Schild vorbei – und an mindestens einem Dutzend engagierter Boßlergruppen. Auch strömender Regen und eine Temperatur von zwei Grad Celsius konnte sie nicht davon abhalten, ihrem Sport nachzugehen – den nur Böswillige als »Bauerngolf« bezeichnen.

Sabine Dippner, Vögelsen, Niedersachsen

 

Was mein Leben reicher macht

Ich parke in einer Straße im Stuttgarter Westen. Am Straßenrand stehen zwei Männer. Der eine gehört zu der Kfz-Werkstatt, die sich im Hinterhof befindet, wie seine Arbeitskleidung mit dem Logo verrät. Der andere ist wohl ein Kunde. Der aus der Werkstatt rezitiert einen Text. Die Sprache klingt nicht wie Latein, aber auch nicht wie heutiges italienisch. Ich sage: »Das hört sich an wie Dante.« Er antwortet mit strahlendem lächeln: »Das ist Dante, Signora!«

Regine Bonfert, Horb

 

Was mein Leben reicher macht

Heute passiert: in einem Kaffeehaus trinke ich einen Cappuccino und lese die ZEIT. Da tritt ein Herr vom Tisch gegenüber heran. Er hat die deutsche Zeitung gesehen und bittet mich, ihm ein Gedicht von rainer Maria Rilke vorzulesen. Er könne Deutsch zwar lesen und verstehen, vermisse jedoch den Tonfall des gesprochenen Wortes. So lese ich ihm aus dem Bändchen, das er dabei hat, eines von rilkes Apollo-Gedichten vor. Der Herr ist erkennbar gerührt, sitzt schweigend da und bittet mich schließlich, den Text noch einmal vorzutragen. Beim Abschied hinterlasse ich einen glücklichen Menschen.

Christoph Käufer, Philadelphia, USA

 

Pallawatsch: Mein Wort-Schatz

Ein Wort, das ich früher ab und zu von meiner sudetendeutschen Mutter hörte und inzwischen tot geglaubt hatte, ist der Pallawatsch. Meine Mutter benutzte diesen Ausdruck etwa, wenn sie durch Unachtsamkeit Durcheinander angerichtet hatte. Nun habe ich gegoogelt, und siehe da, in Österreich und zwar vor allem in den östlichen Bundesländern benutzt man ihn noch heute. Der Pallawatsch ist eine Verballhornung des italienischen balordaggine, wörtlich übersetzt »Tölpelei«. Das Wort erinnert an die Zeit, als Österreich noch bis an die Adria reichte.

Ingrid Schmid, Dornstadt, Baden-Württemberg

 

Was mein Leben reicher macht

Schweine, Hühner und Hasen sind gefüttert. Ich ziehe die Stallklamotten wieder aus und hole meine Jüngste aus ihrem Kinderbett. Wir kuscheln uns gemeinsam noch einmal ein, neben dem wärmenden Ofen.

Anja Meyer, Rosche, Niedersachsen

 

Was mein Leben reicher macht

Nach einer sehr schmerzlichen Trennung erlebe ich außer Verlust überraschend auch Gewinn: Ich stehe mit meinem erwachsenen Sohn vor einem Blumenstand mit Frühblühern. »Blühfreudig und robust«, liest er vor. Und ergänzt: »Wie du, Mama!«

Jenny Wagner, Berlin

 

Wiedergefunden: Ein Bild von einem Moped

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Beim Durchwühlen einer alten Bilderkiste fiel mir ein Foto aus dem Jahr 1958 in die Hände. Es zeigt mich auf dem NSU-Moped mit dem Namen Quickly. Vor genau 60 Jahren kam dieses Zweirad auf den Markt, was in den einschlägigen Medien auch gewürdigt wurde: NSU hat über die Jahre hinweg nicht weniger als 1,5 Millionen Exemplare gebaut und mit ihnen viel Geld verdient.
An der Namensgebung übrigens war ich beteiligt. An einem Sonntagvormittag fragte mich mein Vater, der damals für die NSU-Werbung zuständig war, was wohl besser klänge: »Quick 50« oder das Adverb von quick, also quickly. Es wurde Quickly, auch weil ein y jeden Namen dekorativ schmückt.

Klaus Westrup, Bad Wimpfen, Baden-Württemberg

 

Was mein Leben reicher macht

Mein Mann ist 57. Seine Fahrradleidenschaft führt so weit, dass immer mal wieder ein gerade angeschafftes Fahrrad für längere Zeit in unserem Esszimmer steht. Letztlich sitze ich morgens um sieben bei einer Tasse Kaffee, da kommt er wortlos und noch spärlich bekleidet herein, setzt sich zielstrebig aufs Fahrrad, fährt mit höchster Konzentration artistisch um den Esszimmertisch herum und stellt mit spürbarer Zufriedenheit das Rad wortlos wieder ab.

Ursula Croisier, Köln