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Was mein Leben reicher macht

Wenn ich an kalten Tagen – wie immer ein paar Minuten zu spät – das Haus verlasse, um zur Arbeit zu fahren, und sehe, dass mein Mann die Autoscheiben für mich freigekratzt hat.

Eva Steinhagen, Seligenstadt

 

Was mein Leben reicher macht

Der Winter hat Einzug gehalten, die Tiere frieren, wir menschen auch. meine Frau holt die Gartenschuhe aus der Kälte herein. In einem Schuh hat eine große Fliege Unterschlupf gesucht. Sie ist fast bewegungsunfähig. Dietlind, die keiner Fliege etwas zuleide tut, aber auch keine in der Wohnung duldet, nimmt die erstarrte Kreatur behutsam in die Hände und trägt sie an einen geschützten Platz auf der Terrasse. Danke, Dietlind, ich liebe dich, auch dafür!

Peter Listemann, Eschen, Fürstentum Liechtenstein

 

Advent

(Nach robert Gernhardt, »Gebet«)

Lieber Gott, nimm es hin,
dass ich weiter skeptisch bin.
Und gib ruhig einmal zu:
Keiner ziert sich so wie du.
Preisen werd ich deinen Namen,
aber zeig dich vorher. Amen.

Wolfgang Klosterhalfen, Düsseldorf

 

Hienieden: Mein Wort-Schatz

Aus meiner Kindheit ist mir das Wort hienieden im Gedächtnis geblieben. Klar, auch ich spreche heute von »auf dieser Erde«, aber wie nüchtern und kühl klingt diese moderne Ausdrucksweise. »Hienieden« jedoch lässt ein wenig von Schönheit, Poesie und Übernatürlichkeit empfinden, zumal in der Weihnachtszeit. Denn wenn in der Heiligen Nacht die Strophe des Liedes gesungen wurde, in der dieses Wort steht, war ich von Ehrfurcht und Freude ergriffen. »Heiligste Nacht, heiligste Nacht. Finsternis weichet, es strahlet hienieden lieblich und prächtig vom Himmel ein Licht.« Der Text ist mir auch nach mehr als sechzig Jahren noch geläufig. Auch am kommenden Weihnachtsfest werde ich mich an damals erinnern und bedauern, dass das Lied im Katholischen Gesangbuch unserer Diözese (Augsburg) nicht mehr enthalten ist.

Karl-Josef Mewaldt, Buxheim, Schwaben

 

Asch: Mein Wort-Schatz

Meine älteste Tochter ist Designerin, ihr Lebenspartner Chocolatier. Sie haben eine wahre Künstlerküche – in der ich gestern ein großes trogartiges Gefäß entdeckte, das mir irgendwie bekannt vorkam. »Gib mir doch einmal den Asch«, bat ich testweise den Schwiegersohn. Er bringt ihn mir, ohne weiter nachzufragen. »Woher kennst du als Erfurter den begriff »Asch«?«, frage ich. Es stellt sich heraus, dass seine Großeltern aus dem böhmischen Osterzgebirge stammten. Die Oma wusch in einem solchen Trog das Geschirr ab. »Meine Oma auch«, sagte ich.

Rudolf Keßner, Weimar

 

Fragen eines korrigierenden Deutschlehrers

(Nach bertolt brecht, »Fragen eines lesenden Arbeiters«)

Wer wiederholte endlos die Schreibung von »des Weiteren«?
In den Blättern steht beharrlich »desweiteren«.
Haben wir das nicht ein Dutzend Mal besprochen?
Wer warnte davor? Auf welchen Ohren
Saßen die Schreiber?
Wohin gingen die Gedanken allmorgendlich?
Der große Duden
Ist voll von Rechtschreibung. Wer nutzt ihn?
Gehören die Reichtümer der Orthografie
Nur manchen? Selbst in den guten Arbeiten
Schreit mancher Ausdruck noch immer
Zum Himmel. Als Deutschlehrer hat man Träume.
Vergebens?
Haben wir nicht wenigstens »das« und »dass« zu unterscheiden versucht?
Es ist zum Weinen, wenn wieder einmal
Eine Satzkonstruktion im Meer der Prädikate versinkt.
Weint sonst niemand?
Kaum einer begreift. Wer
Steht ihm zur Seite?

Auf jeder Seite Fehler.
Wer ist dafür verantwortlich?
Nur alle zehn Arbeiten ein Lichtblick.
Wer trägt die Schuld?

So viele Blätter.
So viele Fehler.

Eberhard Stephan, Weißenburg, bayern

 

Was mein Leben reicher macht

Nach fünf Tagen Zugreise von Innsbruck nach Athen erreichen wir am Sonntagabend den Hafen von Piräus. Vergeblich versuchen wir, Brot zu kaufen. eine Frau am Postkartenstand schenkt uns einen Laib aus ihrem eigenen Vorrat. Später finden wir dann noch einen Händler, der uns Zaziki und Oliven verkauft. Bei Dunkelheit, an Deck der Fähre nach Kreta genießen wir dieses Festmahl.

Hannah Spielmann, Innsbruck

 

Was mein Leben reicher macht

Ich verbringe einige Monate als Stipendiatin in der Cité Internationale des Arts Paris. ein großes Glück für eine Malerin! Und besonders schön ist es, immerzu mit »Madame« angesprochen zu werden (auch wenn man gar nicht so elegant gekleidet ist wie die Pariserinnen).

Dora Wespi, Paris/Luzern

 

Wiedergefunden: Der Schulfreund

»Oma, hattest du einen Freund, als du so alt warst wie wir?«, fragen meine pubertierenden Nichten meine Mutter beim Sonntagskaffee. meine Mutter ist 81 Jahre alt und im Kriegswinter 1945 von Schlesien ins Münsterland geflüchtet. »Mein liebster Freund war ein Schulkamerad namens Friederich Menke aus unserem Nachbardorf in Schlesien«, antwortet meine Mutter und holt aus ihrer Erinnerungsschublade ein winziges, vergilbtes Foto mit einem noch winzigeren Kerlchen mit roter Zipfelmütze.

Gedankenverloren erzählt sie von diesem Freund, den sie am Abend vor der Flucht das letzte mal gesehen hat. Traurig vermutet sie, dass der Junge wohl damals ums Leben gekommen sei. Einige Wochen später meldete sich meine mutter völlig aufgelöst bei mir: »Du kannst dir nicht vorstellen, wer mich gerade angerufen hat: Friederich Menke aus Schlesien.«

Ich war tatsächlich sprachlos. Wie konnte der Jugendfreund nach 66 Jahren auf einmal anrufen? Doch die Lösung ist ganz einfach. mein Bruder, der das Gespräch verfolgte, hatte den Namen im Internet ausfindig gemacht. Der Mann wohnt nur 100 Kilometer entfernt, und ein erstes Treffen, welches uns alle tief berührte, fand kurz nach dem Telefonat statt.

Barbara Specht, Münster

 

Spülstein: Mein Wort-Schatz

In den Ferien bei meinen Großeltern lag ich nach dem mittagessen, eingemummt in eine Decke, auf der Chaiselongue in der Küche. Das Wasser wurde auf dem Herd heiß gemacht – es roch leicht nach Gas. Der Kanarienvogel zwitscherte im Käfig, und Oma stand am Spülstein und machte den Abwasch. Wo gibt es heute noch diese Gerüche, Geräusche und Gemütlichkeit?

Michael Kunze, Hannover