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Die Provinz

(nach Theodor Storm, »Die Stadt«)

Am grauen Band der Autobahn
Liegt seitab die Provinz;
Die Langeweile drückt uns schwer,
So manche Magd wär’ gerne wer
Und wartet auf den Prinz.

Es rauscht der Wald, es läuft dieweil
Der Fernseher ohn’ Unterlass;
Die Weihnachtsgans – mit hartem Schrei
War’s bald mit ihr des Nachts vorbei,
Am Strande rauch’ ich Gras.

Doch hängt mein schlaffes Herz an dir,
Du herzlose Provinz;
Voll Jugend, doch zu träg zu flieh’n.
Hat jemand je dich so verdient –
Ich bin’s, oh du Provinz.

Jan Schoenmakers, Bremen

 

Zeitsprung

um 1960

2011

Ich bin heuer 90 (neunzig!) Jahre alt geworden, und anlässlich der Geburtstagsfeier wurde ich mit meinen beiden Söhnen abgelichtet. Dann habe ich in meinen Fotoalben geblättert, und tatsächlich fand ich ein ganz ähnliches Schwarz-Weiß-Foto, das uns vor circa 50 Jahren zeigt – genauer kann ich es leider nicht mehr feststellen. Man sieht deutlich, dass der Zahn der Zeit an uns genagt hat. Aber nur äußerlich, denn innerlich sind meine Buben noch fast genauso kindisch wie vor Jahrzehnten. Und ich? Nun: Für mich erlaube ich mir kein Urteil abzugeben.

Christof Albert, Vogau, Österreich

 

Was mein Leben reicher macht

Ein sechsjähriger Junge bringt sein Meerschweinchen mit zur logopädischen Therapie. »Mit Rotauge übe ich immer mein ›sch‹«, sagt er. »Kannst du ihm jetzt auch das Sprechen beibringen?« Bei so viel Vertrauen wird mir warm ums Herz.

Marita Behr, Kargow, Mecklenburg

 

Zug um Zug

Ich bin wegen meiner Arbeit oft mit der Bahn unterwegs. Und ich liebe das Zugfahren, weil man dabei die schönsten Geschichten erlebt. Ich haben begonnen, sie zu sammeln. Zum Beispiel: An einem Sonntagabend auf dem Weg von Berlin nach Essen. Der Zug ist heillos überfüllt, ich muss stehen. Der Schaffner kommt. Ich zeige ihm meine Fahrkarte und frage, ob es irgendwo noch ein Plätzchen für mich gibt. Er zückt seinen Schreibblock, notiert etwas und drückt mir den Zettel in die Hand: »Geben Sie den meiner Kollegin in der ersten Klasse!«  Ich bedanke mich und mache mich auf den Weg. Die Schaffnerin in der ersten Klasse schmunzelt. Auf dem Zettel steht: »Liebe Frau Kollegin, bitte nimm diese junge Frau bis Essen bei Dir auf. Danke. Dein Klaus«. Eine Viertelstunde später kommt eine ältere Frau in das Abteil. Auch sie hat einen Zettel bei sich. Die Schaffnerin schmunzelt wieder und sagt: »Ach, der Klaus!«
Vor ein paar Wochen auf dem Weg von der Arbeit zurück nach Hause. Es war ein langer Tag, ich bin müde, und der Regionalexpress ist natürlich bis auf den letzten Platz besetzt.  Meine Laune ist nicht gerade die beste. Da kommt der Schaffner zur Fahrkartenkontrolle. Er strahlt jeden Fahrgast an und sagt: »Guten Abend. Wie geht es Ihnen? Ich hoffe, Sie hatten einen schönen Tag.« Mir geht es gleich viel, viel besser.
Heute auf dem Weg von Essen nach Berlin. Die Schaffnerin kontrolliert gerade meine Fahrkarte, als ein Mann an ihr vorbeimöchte. Er ist auf dem Weg zum Bordrestaurant. Sie blickt auf, strahlt ihn an und sagt: »Wurden Sie heute schon gedrückt?« Er stutzt einen Augenblick, lacht und sagt: »Nein, aber meine Frau da vorne hat die Fahrkarten.«

Anna-Lena Schneider, Essen

 

Was mein Leben reicher macht

Meine drei Frauen: die vor Jahren Angetraute und unsere beiden Töchter. Beim Wachwerden nach der langen Operation ihre Hände zu spüren, ihre Stimmen zu hören.

Dieter Steves, Hürth

 

Was mein Leben reicher macht

50 Jahre lang habe ich als Mann gelebt und war es irgendwie nie so richtig. Wie ein Rad, das unrund läuft. Seit einigen Monaten lebe ich jetzt als Frau und bin endlich in meinem Leben angekommen. Zum ersten Mal kann ich sagen: »Ich bin glücklich.«

Manfred (demnächst Monika) Forster, München

 

Selbstvergessen

Ein Samstagmorgen in Budapest, der Sperrmüll ist fällig. Ein Mann und seine kleine Tochter (die er auf dem Bild fast verdeckt) haben Lesestoff gefunden und schmökern selbstvergessen.  Es ist ihnen nicht peinlich und muss es ja auch nicht sein. Und ich freue mich mit ihnen.

Tina Wagner, Koblenz

 

Was mein Leben reicher macht

An einem der letzten schönen Herbsttage mit Freunden Fußball gespielt. Ein paar Jugendliche aus dem nahen Waisenhaus, Flüchtlinge aus Südafrika, fragen, ob sie gegen uns spielen dürfen. Sie spielen uns in Grund und Boden. Ihre strahlenden Augen wiegen unsere Niederlage tausendmal auf.

Christian Wolf, München

 

Was mein Leben reicher macht

Donnerstagmittag in der Schulmensa. Die Meute drängt, und ich – 66 Jahre und ehrenamtlich hier, versteht sich – sitze an der Kasse. Das bedeutet: Essenswünsche erfragen, Bons verkaufen, Schüler in Listen eintragen, Getränke ausgeben. Und potenzielle Langfinger, die sich im Schutz des Gewimmels an die Süßwaren heranschleichen, durch böse Blicke von ihrem Tun abhalten. Da höre ich, wie ein Kunde mit dem andern tuschelt: »Ey, Spasti, das kannst du bei der Alten vergessen! Die blickt voll durch.« Danke, Kumpel, für das zeitgemäße Lob!

Christel Olejar, Sexau, Baden

 

Milchbüechli: Mein Wort-Schatz

Zur Abwechslung mal ein Wort aus der Schweiz: Als ich ein Kind war, kam der Milchmann täglich ins Haus und brachte Milch, Butter, Rahm, Eier und so weiter – wie im Milchbüechli gewünscht. Es war ein einfaches Heftchen mit Zeilen für jeden Tag und dem Sortiment des Milchmannes. Ende des Monats nahm er das Büchlein mit und rechnete zusammen, was wir bezogen hatten, dann gingen wir in den Laden und bezahlten bar. Die Rechnung im Milchbüechli war einfach: Multiplikation und Addition. Und im übertragenen Sinne wird die Milchbüechli-Rechnung für alle logischen Zahlenoperationen verwendet, wie jedermann und jedefrau machen kann. Die astronomischen Finanzdebakel, Überschuldungen und Spekulationen mit nicht vorhandenen Gewinnen – mit einfachen Milchbüechli-Rechnungen wären sie zu vermeiden gewesen.

Annemarie Gehring, Basel