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Die Kritzelei der Woche

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Vor 30 Jahren schafften wir den Fernseher ab und gewannen ein wichtiges Gut: Zeit! Am Abend saß ich am Küchentisch und fertigte Zeichnungen an. Vorgaben für mich selbst waren: kein Entwurf, einfach loslegen – unter Benutzung eines Ra­pidografen Stärke 0,35 mm. So füllten sich im Laufe der Jahre 20 Skizzenbücher. In der Anlage mein schönstes Werk. Das Zeichnen ist meine Meditation.

Karl Merkel, Baden­-Baden

 

Vigelinsch: Mein Wort-Schatz

Mein Vater Friedrich Evers, der vor zwei Jahren in Ratzeburg verstarb, sprach als gebürtiger Fehmaraner stets plattdeutsch. Besonders liebte er es, vertrackte Angele­genheiten »eine vigelinsche Sache« zu nennen – ob in der Garage beim Wer­keln oder auf dem heimischen Sofa beim Sudoku. Schon als Kapitän zur See und später als Seelotse auf dem Nord-­Ostsee­-Kanal gab es genügend vigelinsche Situa­tionen zu meistern. Im Himmel ist hoffent­lich nichts mehr knifflig­verzwickt, sondern alles nur klar und eindeutig…

Felix Evers, Neubrandenburg

 

Was mein Leben reicher macht

Unser kurdisches Adoptivenkelkind Avesta erzählt nach den Ferien ihrer Kindergarten­freundin: »Ich war mit Mama und Papa in der Türkei!« – »Ich war auch in der Türkei, aber ich hab dich nicht gesehen!« – »Dann warst du in einer anderen Türkei!« Ist doch logisch, oder?

Marion Fiekers, Bad Soden am Taunus

 

Was mein Leben reicher macht

So spät im Jahr an die mecklenburgische Ostseeküste fahren, dass es schon Leb­kuchen in den Geschäften zu kaufen gibt, und nicht zu spät, als dass man nicht noch die Herbstsonnenstrahlen am Strand lie­gend genießen könnte. Die würzige Seeluft einatmen, Schokoladenlebkuchen essen und dabei das Salz auf den Lippen schme­cken: eine wunderbare Einstimmung auf Herbst und Winter.

<strong>Ulrike Schürmann</strong>, Wuppertal

 

Begegnung

(Frei nach Texten von Bertolt Brecht, Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse und wohl noch ein paar anderen)

Vor vierzehn Tagen traf ich eine nette Wolke,
die sah ganz ähnlich aus wie Afrika.
Sie war so halbwegs transparent wie Molke,
und auf den zweiten Blick war sie noch immer da.

Ich lag im Gras und ließ die Zeit verstreichen.
Der Sommer war sehr groß und Rilke tot.
Bald würde sich der Herbst in die Gedichte schleichen.
Die Verse würden bräunlich sein und rot.

Ich würde melancholisch durch die Gegend wandern,
Vergänglichkeit und Einsamkeit würd ich besingen:
Die Welt zerbröselt … Keiner sieht den andern …
In diesem Stil. Und keinem würd’s was bringen.

Die Wolke aber würde das nicht kümmern.
Sie hätte nach wie vor die Form von Afrika
und würde transparent wie Molke schimmern.
Und wär auch auf den dritten Blick noch da.

Paul Pfeffer, Kelkheim

 

Fallobst

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In meiner Nachbarschaft lebt ein älteres Ehepaar mit einem großen Garten. Jeden Herbst steht an der Eingangspforte ein Korb mit Äpfeln, und Tüten zum Ein­packen liegen gleich dabei. Allein der Anblick erfreut mich. Oft habe ich mich davon bedient. Besser geht es doch nicht!

Ingrid Schneider, Hamburg

 

Was mein Leben reicher macht

Lissabon. Im Fernando­-Pessoa­-Museum frage ich einen Bibliothekar beiläufig, wie ich nach Azinhaga käme, in den Geburtsort von José Saramago. Zwanzig Minuten lang bemüht sich der Mann im Internet und am Telefon um Auskunft und notiert schließ­lich: »Abfahrt Estação Santa Apolónia, 9 Euro, bis Mato de Miranda, Taxi im Café bestellen, nach Azinhaga 7 Euro.« Kein Anzeichen von Ungeduld. Nur ein Strahlen in den Augen, weil er mir helfen konnte.

Helen Schäfer, Regensburg