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Briefe über Deutschland (4)

Lieber Rich,

Deutschland profitiert davon, dass sein Tellerrand niedriger ist als der Kanadas: Mit neun Nachbarländern muss man einfach mehr auf die Meinungen und Gepflogenheiten anderer achten als mit einem. Und ein Ausflug in die USA bedeutet hier oft einstündige Grenzprozeduren mit strengen Fragen. Seit Neuerem braucht man sogar einen
Pass. Das lässt den Tellerrand weiter wachsen. Dabei hat Kanada allen Grund, stolz zu sein: Als klassisches Einwanderungsland mit einer weithin gelungenen Integrationspolitik kommt es dem Ideal eines kosmopolitischen Landes wohl weltweit am nächsten. Es holt die Welt zu sich und genießt dafür weltweit einen guten Ruf. Davon kann
Deutschland noch lernen. Aber Weltoffenheit und Neugier marschieren nicht automatisch im Gleichschritt. Die recht homogene Sprach- und Kulturlandschaft Nordamerikas und die geografische Einsamkeit machen es der Nabelschau zu leicht.

Wenn Deutschland es aber schaffen kann, bestehende Neugier mit Offenheit zu vereinen, und auch noch die von Dir angesprochene neue Lockerheit verinnerlicht, dann wird es hier auch mehr als das Bier-Wurst-Hitler-Ingenieursland sein: Dann wird es richtig respektiert.

Darauf freut sich
Dein Julian

Im wöchentlichen Wechsel schreiben sich hier Julian Lee, 30, Umweltberater aus Montreal, und sein Stiefvater Friedrich Engelke, 68, Physiker aus Villingen

 

Briefe über Deutschland (3)

Lieber Julian,

wer nicht über den Tellerrand schaut, der hält sich rasch für den Nabel der Welt. So klingt Dein Brief über Kanada. Für eine kurze Zeit nach 1990 war Deutschland ebenfalls auf sich fixiert. Doch dann besann es sich. Heute versucht Deutschland, seine Identität mehr im Blick nach außen zu finden. Uns ist wichtig, was in Paris, Washington, London und Moskau über uns und die Welt gedacht wird.

Vergessen wir nicht, dass Deutschland das letzte Jahrhundert in Europa über weite Strecken dominierte. Unsere Nachbarn lernten den Koloss der Mitte zu fürchten. Heute sind wir erneut die stärkste Macht Europas ­ und doch ein fundamental verändertes Land: Sogar die wiedererlangte Souveränität wollen wir auf supranationaler Ebene mit unseren Nachbarn teilen. Wir wissen, dass man ein wohlhabendes, angesehenes und zufriedenes Mitglied der internationalen Gemeinschaft sein kann, ohne dabei überkommene Vorstellungen von nationaler Eigenständigkeit und Ruhm nachzuhängen.

Ein neuer Ton herrscht in unserem Land. Muss man fremde Ohren haben, um ihn zu hören? Biederes überdauert, seine neue Form ist „Wir kriegen das hin“ und „Ich sag das mal so“. Etwas Ungewohntes: Selbstironie. Liebevolle Distanz zu sich selbst verrät Selbstbewusstsein. Eine Ewigkeit war das wahrlich nicht unsere Stärke,

meint Dein Rich

Im wöchentlichen Wechsel schreiben sich hier Friedrich Engelke, 68, Physiker aus Villingen, und sein Stiefsohn Julian Lee, 30, Umweltberater aus Montreal

 

Briefe über Deutschland (2)

Lieber Rich,

an den Pulli erinnere ich mich gut. Ich sah darin aus wie ein dünner Genscher junior. Von Herrn Westerwelle nimmt man hier in Kanada überhaupt keine Notiz. Sicherlich kein gutes Zeichen für einen Außenminister. Der Star ist die Kanzlerin, und sie ist so ziemlich die einzige Repräsentantin Deutschlands, von der in der Presse ab und zu mal die Rede ist. Im Moment hauptsächlich im Bezug auf die griechische Finanzkrise; dabei kommt ihre feste Haltung bei den Kanadiern nicht gut an.

Glücklicherweise machen sie hier kein großes Aufheben um das Privatleben von Politikern. Im sonst für liberal gehaltenen Québec war die Homosexualität eines Premierkandidaten zwar vor ein paar Jahren mal Thema – aber es gibt hier kaum Boulevardblätter, so haben die Politiker eine gewisse Ruhe. Damit ein ausländischer Politiker hier wahrgenommen wird, braucht er schon eine Frau vom Schlage einer Carla Bruni. Ansonsten schauen die Kanadier vor allem nach innen. Außenpolitik und Interesse an den Geschehnissen anderer Länder sind auf einem Tiefpunkt der öffentlichen Wahrnehmung angelangt.
Da müsste sich Herr Westerwelle kräftig ins Zeug legen, und mit Hartz-IV-Provokationen wird er es hier nicht weit bringen.

Das begrüßt Dein Julian

Im wöchentlichen Wechsel schreiben sich hier Julian Lee, 30, Umweltberater aus Montreal, und sein Stiefvater
Friedrich Engelke, 68, Physiker aus Villingen

 

Briefe über Deutschland

Lieber Julian,

erinnerst Du Dich noch an meinen gelben Pullover? Mommy hatte ihn zu heiß gewaschen, da passte er plötzlich Dir. Dieser Pullover erinnerte mich immer an Genscher, unseren damaligen Außenminister. Er wurde verehrt wie ein Halbgott, und doch kann ich von ihm keinen markanten Satz wiedergeben, außer dem in der Prager Botschaft, den niemand so richtig verstand, weil er im Jubel der Ausreisewilligen unterging.

Aber dieser Außenminister vertrat uns bestens im Ausland, und das genügte. Und der jetzige? Nimmt man außerhalb unserer Grenzen überhaupt Notiz von ihm? Dieser Westerwelle hat schon mancherlei ungute Eindrücke hinterlassen. Und nun dieses innenpolitische Desaster: Hartz-IV-Debatte und der völ-lig missratene Start der Koalition. Zudem die Klientelpolitik seiner Partei, der FDP. Und zuletzt die Vorwürfe von Vettern- und Freundeswirtschaft. Ist so etwas in Kanada auch an der Tagesordnung? Und wie geht man dort eigentlich mit homosexuellen Politikern um?

Komisch: Wenn ich an Westerwelle denke, dann trägt er vor meinem inneren Auge keinen gelben Pullover sondern eine rote, runde Nase – wie ein Clown!

Darüber schmunzelt dann
Dein Rich

Im wöchentlichen Wechsel schreiben sich hier Friedrich Engelke, 68, Physiker aus Villingen, und sein Stiefsohn Julian, 30, Umweltberater aus Montreal