an einem grauen Dienstagmorgen nach Tagen voller ausufernder Arbeit ausschlafen und vor dem Aufstehen noch lesen. Bis um elf Uhr frühstücken, danach auf dem Sofa sitzen und meiner Tochter, die längst selbst lesen kann, vorlesen. Dann in die Küche gehen, in die jetzt die Herbstsonne scheint und Linsensuppe kochen. Der Duft der Sellerieknolle. Wie wunderbar sind Herbstferien!
Christine Illgner, Erkrath
Nach langer Zeit wieder einmal – zusammen mit unseren Kindern – auf dem Weg nach Südtirol ins Pustertal, wo wir vor vielen Jahren einmal für einige Zeit gelebt haben. Vorfreude auf das wiedersehen mit freunden, auf den Ort Bruneck und seine Umgebung und auf das Hotel Pragser Wildsee. dort wollen wir der Geschichte nachspüren. Nach der Lektüre des Buches Hammerstein oder der Eigensinn von Hans Magnus Enzensberger kann der Aufenthalt dort nicht mehr aufgeschoben werden. Ganz in der Nähe haben unsere Kinder zum ersten Mal auf Skiern gestanden. Anschließend mussten sie auch den Pragser Wildsee mit dem wunderschönen alten Alpenhotel besuchen, und immer haben wir bedauert, dass das Hotel im Winter nicht geöffnet war.
Glücklicherweise hat sich das mittlerweile geändert. Und so stehen wir nun vor einem vor Kurzem vollständig renovierten Hotel – der See vor den steil aufragenden Felsen unter strahlend blauem Himmel, umgeben von Bäumen im Herbstlaub. Ein geradezu märchenhafter Anblick. Später beginnt es zu schneien. Am nächsten Tag liegt die ganze Landschaft unter einer weißen Decke. Alle Erwartungen werden übertroffen. Mit alten Originalmöbeln eingerichtete Hotelzimmer versetzen uns in die Vergangenheit, erinnern an die ersten Jahrzehnte des letzten Jahrhunderts. Heute ein Ort der Ruhe, der besinnung – ein Alpenhotel, dessen Eigentümerfamilie seit 110 Jahren die Geschichte bewahrt.
Morgens um sechs, unser Sohn, 16, schläft noch. Ich gehe leise in sein Zimmer, fest eingekuschelt in seine Decke liegt er da, tief in seiner Traumwelt versunken. Leise rufe ich seinen Namen, sage ihm, dass es Zeit ist aufzuwachen, frage ihn, ob er gut geschlafen habe. Oft ist nur ein Brummen seine Antwort. Dann sein erster Griff zum Handy, die Freundin anrufen. Gerade war er doch noch mein Baby! Jetzt höre ich ihn mit rauer Stimme sagen: „Hey Kleine, hast du gut geschlafen? Ich hab von dir geträumt.“ Ich schließe leise die Tür. Und mein Leben ist reicher.
Manchmal, aber eben nur manchmal, erlaubt es mein Schicksal, gen Mittag das Büro zu verlassen, die Krawatte abzustreifen und zum nahegelegenen Meer zu eilen. Der Wind läßt heut‘ die Bäume sich biegen, ab und zu ein Sonnenstrahl sich durch die dahinziehenden Wolken blicken. Das Surfboard zum Wasser tragen, das Segel trimmen, den wärmenden Anzug an und los: Kaum daß ich das Ufer hinter mir lasse, trägt mich der zunehmende Wind aufs Meer hinaus, schiebt mich mit seiner Kraft voraus, läßt mich eins werden mit den Elementen der Natur. Das Gleiten geht über in diese berauschende Geschwindigkeit, meine Gedanken können schon längst nicht mehr folgen, meine Sinne genießen – und ich fühle tiefe, ganz tiefe Dankbarkeit, für dieses Geschenk, für das Leben.
Während meines Auslandssemesters auf einem Flohmarkt das Buch meiner Kindheit zu entdecken: Die Brüder Löwenherz von Astrid Lindgren. In Originalsprache. Abends habe ich ein bisschen darin geblättert und zu lesen begonnen. Sicher eine gute Übung! Stunden später, es ist inzwischen mitten in der Nacht, bin ich gefesselt und überwältigt wie beim ersten Mal. Manche Geschichten verlieren ihn nie, ihren magischen Reiz.
Ich bin 63 und hatte für mein Leben noch zwei Träume. Einer davon war, noch einmal einen echten Liebesbrief zu bekommen. Der zweite war, noch einmal die Stadt Kairo zu sehen, in der ich vor 45 Jahren drei Jahre lang zur Schule ging. Nun hat ein Mitschüler aus jener Zeit zu mir Kontakt aufgenommen und mir einen wunderschönen Liebesbrief geschickt. Demnächst fliegt er mit mir nach Kairo. Ist das nicht wunderbar?
Einer dieser schönen Herbsttage. Sieben Kinder sitzen draußen am Boden bei einem Kreisspiel, gespannt, konzentriert. Jedes will der Sieger sein. Auf einmal Julia: „Klasse, hurra!“ Sie hat es geschafft! Ein Junge starrt vor sich hin, einer sagt halblaut: „Scheiße!“ Keiner rührt sich. Da springt Julia auf: „Ach, Quatsch, wir haben alle gewonnen!“ Es ist zum Heulen schön. So einfach kann das sein, das mit dem Frieden!
Ein Schachturnier in einem grossen Saal. An zwanzig Brettern dampfen die Gehirne. Als ich mich an den mir zugewiesenen Platz setze, erkenne ich sofort: Mein Gegenüber ist blind. Vor ihm, seitlich versetzt, steht sein spezielles Blindenbrett. Runde und eckige Aufsätze auf den Figuren lassen ihn erfühlen, was weiße und was schwarze Figuren sind. Er reicht mir die Hand. „Schönes Spiel“ murmeln wir beide und beginnen die Partie. Sobald ich ihm flüsternd meinen Antwortzug nenne, beginnen seine Hände einen flinken Tanz auf seinem Brett. Faszinierend zu sehen, wie die Fingerspitzen über die Figuren streichen, um ihre Lage zu ertasten. Es raschelt leise. Seine Augen ruhen starr irgendwo auf einem fernen Punkt im Raum.
Es geschieht etwa beim 20. Zug. Meine Dame, die ich gerade mitten in seine Stellung setze, scheint ihm Probleme zu bereiten. Unruhig gleiten seine Hände über die Spitzen, er wirkt sichtlich nervös. Plötzlich erkenne ich den Grund seiner Unruhe: Ich habe die Dame „eingestellt“, er kann sie ohne Kompensation schlagen. Und dann, nach einer für mich unendlich langen Weile des Wartens, fragt der Blinde den Sehenden: „Haben Sie das übersehen?“ Was für eine wunderbare Frage! Ich reiche ihm die Hand zum Zeichen der Aufgabe. Das war mein berührendster Partieverlust.