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Zeitsprung: Ost-West-Freundschaft

Vor 25 Jahren fiel die Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland, und vielleicht erinnert sich noch jemand an die Aktion, die die ZEIT damals startete: Westdeutsche Abonnenten wurden dazu aufgerufen, ostdeutschen Lesern für ein halbes Jahr die ZEIT zu sponsern. Dank dieser Idee entstand zwischen unse- rer Familie aus Jänschwalde (Brandenburg) und Familie Perchermeier aus München eine tolle, bereits 25 Jahre währende Freundschaft.
Die Abonnenten-Paarungen wurden wie bei einer Kontaktanzeige nach Interessen und Berufen zusammengestellt. Die Perchermeiers (Arzt und Lehrerin, damals ein Kind, zwei weitere sollten noch folgen) wurden dabei meinen Eltern (Arzt und Kindergärtnerin, drei Kinder) »zugeteilt«. Keiner hatte Ost- beziehungsweise Westverwandtschaft, umso größer war die Freude bei meiner Familie, als plötzlich eine Einladung nach München kam.
Im Sommer 1990 machten wir uns auf. Ein Trabbi auf der Autobahn, mit drei kleinen Kindern – die an uns vorbeiziehenden Wessis schüttelten den Kopf. Unsere Familienkutsche schaffte es aber ohne Anschieben in den Westen.
Hier prallten zwei verschiedene Lebensentwürfe aufeinander: Meine Eltern waren gerade 30 Jahre alt, das älteste Kind aber bereits fünf. Perchermeiers waren zehn Jahre älter und hatten erst eine einjährige Tochter. Trotzdem – oder gerade deshalb – war die Vermittlungsaktion ein Erfolg: Für uns wurden dadurch Ost und West auf persönlicher Ebene zusammengebracht! Und die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 feierten wir schon zusammen in Leipzig. Es folgten jährliche Unternehmungen mit Spreewald-Paddeltour, Wanderung auf die Zugspitze, Skifahren, Oktoberfest, Einladung zur Einschulung und zur Silberhochzeit… Mittlerweile sind wir Kinder erwachsen. Meine Schwester studiert in München Medizin, genau wie die älteste Tochter von Perchermeiers. Die jüngste Tochter studiert Biologie in Jena – und hat durch uns meinen Cousin kennengelernt. Jetzt sind die beiden seit fast zwei Jahren ein Paar.
Nach 25 Jahren sind unsere Familien also fast verwandt!

Anne Holzschuh, Jänschwalde, Brandenburg

 

Zeitsprung: Pedalo

Als Kind war ich klein und schwächlich, deshalb suchte meine Mutter (Ruth Weidenbach) nach einem Spiel- und Sportgerät, um mich zu kräftigen. Es fand sich nichts Passendes, weshalb sie mit meinem Vater (Richard Weidenbach), der als Grafiker bei WMF arbeitete und technisch sehr begabt war, schließlich selbst ein passendes Vehikel entwickelte: das Pedalo. Meine Eltern begannen es auch zu vermarkten, waren davon aber bald überfordert – insbesondere als die ersten Plagiate auftauchten. So verkauften sie ihre Erfindung an die Firma Holz-Hoerz, die das Pedalo bis heute im Programm hat. An seinem kommerziellen Erfolg haben wir seither zwar keinen Anteil mehr, dennoch freue ich mich jedes Mal (ich bin Erzieherin von Beruf), wenn ich Kinder mit einem Pedalo spielen sehe, und natürlich fahre ich – auch nach 50 Jahren noch – ab und zu selbst gerne damit.

Winni-Sophie Gunzenhauser, Kuchen, Baden-Württemberg

 

Zeitsprung: Fahrrad

Das Bild links zeigt unseren Sohn Lukas auf einem Kinderrad, das er kurz vorher von seiner älteren Schwester übernommen hatte. Und auch für sie hatten wir das Rad schon gebraucht erworben. Als Lukas dem Rad dann entwachsen war, verkauften wir es weiter, und zwar an eine Frau, mit der wir damals beruflich zu tun hatten. Es sollte fortan ihrem Enkelkind gehören – damit schien die Fahrradgeschichte für uns zu Ende.
2014 knüpften wir Kontakt zu einer Familie, die seit Kurzem in einer Flüchtlingsunterkunft wohnt. Ahmed, 4, und seine Eltern kommen aus Syrien und sind erst seit ein paar Wochen hier. Über einen E-Mail-Verteiler erfuhren wir, dass zwei Kinderräder abzugeben seien. Name und Adresse verrieten uns, dass wir die Spenderin kennen. Und tatsächlich ist das eine Fahrrädchen das, das wir ihr vor fast 20 Jahren verkauften. Dank sorgfältiger Wartung hat es derweil fünf Enkelkindern treue Dienste geleistet. Das nicht mehr ganz zeitgemäße Mintgrün des Rahmens war zwischenzeitlich durch eine orangerote Lackierung ersetzt worden.
Der kleine Ahmed kann zwar noch nicht Fahrrad fahren, aber wir sind sicher, auf einem so kindererfahrenen Rad wird er es in kürzester Zeit erlernen.

Heike und Georg Schiller, Schöffengrund, Hessen

 

Zeitsprung: Apfelbäumchen

Meine Sucht sind nicht Schokolade oder Nikotin, sondern Äpfel. Also warum nicht einen eigenen Apfelbaum anpflanzen? Endlich, nach über einem Jahr des Probierens keimte am 28. April ein kleiner Apfelkern, und in den folgenden Wochen konnte ich ihm förmlich beim Wachsen zusehen.
Ich bin unglaublich stolz. So muss sich Mutterschaft anfühlen. Spätestens wenn mein Bäumchen Früchte trägt, sollte ich aus meiner kleinen Berliner Altbauwohnung in die Uckermark ziehen.

Evelin Valentin, Berlin

 

Zeitsprung: Porträt einer Dame

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1960 – ich war 19 Jahre alt, absolvierte eine Buchhändlerlehre und wohnte noch zu Hause bei meinen Eltern in Oldenburg. Da stand eines Tages ein unbekannter Mann vor der Tür und hinterließ ein Bild mit der Bitte, es an die Porträtierte (mich!) weiterzugeben. Mir war es etwas unheimlich, von jemand gemalt worden zu sein, den ich gar nicht kenne. Bei welcher Gelegenheit bloß hatte er mich ausgespäht? Überdies fand ich mich auf dem Bild recht brav. Niemals trug ich solch eine weiße Kappe! So verschwand das Gemälde auf dem Dachboden. Jahre später fand ich das Bild beim Aufräumen wieder. Dann stand ein Umzug an, also verschenkte ich es an eine Freundin, die es (selbst über mehrere Umzüge hinweg) liebevoll hütete. 2014 zog sie dann erneut um, diesmal nach Oldenburg, und bei dieser Gelegenheit schenkte sie mir mein Bild zurück. Nach über 50 Jahren also hängt es jetzt in meinem Haus und hat meinen Kindern eine schöne Geschichte zu erzählen. Eigentlich schade, dass wir nichts über den Maler wissen (das Bild ist nicht signiert), aber vielleicht findet sich der unbekannte Künstler ja noch – es wäre zu schön.

Helga Brandhorst, Oldenburg, Niedersachsen

 

Zeitsprung: Großer Bruder

Auf dem Bild links, das vor 41 Jahren entstand, wacht mein neun Jahre älterer Bruder Roland über mich. 2013 hatte ich das Glück, zum zweiten Mal Mutter zu werden. Und nun wacht mein fast 13 Jahre alter Sohn James über seine kleine Schwester Mila Matilda. Das ganze Gerede vom zu großen Altersabstand ist für mich unverständlich. Ich hatte ein Leben lang einen Beschützer, meinen GROSSEN Bruder. Und wie man sieht, wiederholt sich alles: Mein Sohn liebt seine kleine Schwester und geht auf in seiner Rolle als GROSSER Bruder.

Romy Amori, Berlin

 

Zeitsprung: Held meiner Kindheit

Ein Held meiner Kindheit, neben Bill Bo und den Mainzelmännchen, war Lurchi. Schuhekaufen mit Mama hasste ich. Aber wenn man danach mit einem neuen Abenteuerheft von Lurchi aus dem Laden entlassen wurde, waren selbst die schlimmsten Schmerzen der Anprobe mit meterlangen Schuhlöffeln verkraftbar. Die Heftchen erzählten in gereimter Form und in kindgerechter Schreibschrift die Abenteuer von Lurchi und seinen Freunden. Alle endeten jeweils mit der Zeile: „Und lange schallt’s im Walde noch: Salamander lebe hoch!“ Als ich vor ein paar Tagen meiner inzwischen 88-jährigen Mutter von einem Feuersalamander erzählte, den ich vor Kurzem in einem Seitental der Jagst fotografiert habe, kramte sie aus einer alten Spielkiste die kleine Gummifigur hervor, die mir damals eine Schuhverkäuferin geschenkt hatte: Lurchi!

Stefan Labude, Kirchberg an der Jagst

 

Zeitsprung: Klare Entscheidung

Ein Sonntagnachmittag im Garten, die ganze Familie ist versammelt. Der Schwager hat einen großen Fisch in der Elbe gefangen, der hängt jetzt im Räucherofen. Schönes Wetter, plaudern, essen. Als dann doch einige Wolken heraufziehen und bald die ersten Tropfen fallen, zögern wir: Schnell alle Sachen zusammenpacken und ins Haus gehen? Das wäre naheliegend, aber auch sehr schade.
Der Regen wird stärker, jetzt müssen wir uns wirklich entscheiden! Und da kommt jemand mit einer Handvoll Regenschirme aus dem Haus. Die sind schnell verteilt, alle sitzen wieder im Trockenen, die
Gespräche werden fortgesetzt. Nun begleitet vom gemütlichen Klang der Regentropfen. Und auch die Kleinen lassen sich nicht stören: Sie planschen gut beschirmt in ihrem Ballbecken.

Jörg Lipskoch, Halle an der Saale

 

Zeitsprung: Das Klassenbild

Das linke Foto zeigt unsere Oberprima auf dem Schulhof der Liebig-Schule, des städtischen Realgymnasiums für Jungen in Frankfurt am Main. Etwa ein Vierteljahr vor dem Abitur hatten wir uns während der Pause zum Gruppenbild aufgestellt. Der Sohn unseres Klassenlehrers spielte gerade draußen und wollte unbedingt mit aufs Bild. Auf dem rechten Foto sieht man uns – besser gesagt: die verbliebenen sechs – am gleichen Ort während des Abi-Treffens 60 Jahre später. Wir haben intensive Stunden miteinander verbracht, und auch wenn wir nicht dauernd von früher redeten, wurde uns der Zeitsprung von damals zur Gegenwart sehr bewusst. Erst nach zwei Tagen trennten wir uns – dankbar auch für die Zeit mit denen, die beim Abi-Treffen nicht mehr dabei waren.

Jürgen Steffen, Hamburg

 

Zeitsprung: Sallieu lebt!

Auf dem Foto links ist mein Patenkind Sallieu Bundu aus Sierra Leone zu sehen, das mir Plan International im Jahr 1991 vermittelt hat. 1993 bekam ich die Nachricht, Sallieus Familie habe »das Projektgebiet verlassen«. Es war Krieg in Sierra Leone, ein unvorstellbar brutaler Krieg. 20 Jahre lang stand Sallieus Bild auf unserem Kaminsims, dreimal habe ich Organisationen erfolglos nach dem Jungen suchen lassen. Vor einiger Zeit gab ich seinen Namen bei Google ein, und – ich konnte mir aussuchen, ob ich zuerst ein YouTube-Video ansehe oder bei Wikipedia nachlese, wie sein Lebensweg verlaufen ist: Seine Familie hat bei einer Green-Card-Lotterie ein US-Visum gewonnen, Sallieu ist heute Profifußballer in den USA und hat auch schon in der Nationalmannschaft von Sierra Leone gespielt. Natürlich habe ich versucht, Kontakt zu Sallieu aufzunehmen, aber er konnte sich nicht an eine Patin erinnern. Er war damals ja noch sehr klein gewesen und hat seither viel erlebt. Ich aber bin einfach nur froh, dass Sallieu lebt! Und Tore schießt.

Carolin Böse-Krings, Bremen