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Was mein Leben reicher macht

Auf dem Tempelhofer Feld fühle ich mich immer an ein kleines, schmales Bild von Carl Spitzweg erinnert. Es zeigt fast nur Himmel. Aber ganz unten, in gelb-braunen Tönen, erkennt man spielende Kinder auf einem weiten Feld. Folgt man ihrem Blick, entdeckt man knapp unter dem oberen Bildrand einen winzigen Drachen. Der Traum vom Fliegen macht mich glücklich. Und der alte Flughafen die Stadt unendlich reicher.

Moritz Grund, Berlin

 

Was mein Leben reicher macht

Meine Uhr ist schon alt, ich habe sie bei meinem Bruder im Schreibtisch gefunden. Er brauchte sie nicht mehr, jetzt gehört sie mir. Der große Zeiger war allerdings abgebrochen. Der Uhrmacher hat das schnell repariert, aber: »Die Uhr müsste mal überholt werden: 20 Euro!« Also gut. Und jetzt habe ich keine Uhr mehr, schon seit einer Woche. Und auf einmal habe ich mehr Zeit. Ich liege morgens länger im Bett und lese und höre den Enten zu, die unten im Fluss herumquaken. Und wenn ich Hunger kriege, denke ich, ah, ist wieder Mittag, na also, der Körper funktioniert auch ohne Uhr. Und wann fängt Fußball an? Nein, ich brauche keine Uhr.

Burckhard Metzger, Witten

 

In zwei Welten: Brief an Felix

Du bist da und doch nicht. Du schaust mich an und durch mich hindurch. Jeden Tag spreche ich mit Dir und erhalte keine Antwort. Für Augenblicke suchst Du den Körperkontakt, um Dich dann wieder Deinen Spielen zuzuwenden. Du liebst alles Runde und alles, was sich dreht, spielst stundenlang mit bunten Ringen und reiseln. Die Ringe ordnest Du in Mustern auf dem Fußboden an und tänzelst darum herum, dabei gibst Du kehlige Laute von Dir oder auch Gekreische, weshalb wir Dich manchmal unseren »Urwaldvogel« nennen. Oft hältst Du einen Ring dicht vor Dein Auge und schaust konzentriert hindurch wie durch eine Lupe. Wie gerne wüsste ich, was Du dann siehst. Du bist mein Sohn. Du bist fünfeinhalb Jahre alt. Du bist frühkindlicher Autist und gehörlos. Erst seit drei Jahren hörst Du rechtsseitig dank eines Cochlea-Implantats. Ich kenne nicht Dein Lieblingstier und Deine Lieblingsfarbe. Ich weiß noch nicht einmal, ob Du weißt, was eine Farbe ist. Ich weiß nicht, warum Du nur sü.en Brei essen möchtest. Du bist ein hübscher blonder Junge mit großen braunen Augen, man sieht Dir Deine Behinderung nicht an. Und doch fallen wir unterwegs auf. Wenn Du akribisch Oberflächenstrukturen abtastest, im Supermarkt die Vibration der Kühlregale Dich begeistert, Du in Geschäfte hineinläufst und Dich an der Beleuchtung erfreust, wenn Du um Gullideckel herumspringst und dabei vor Vergnügen kreischst oder freudestrahlend auf jeden Rollstuhl und Kinderwagen zusteuerst. Dein Lachen ist ansteckend. Doch Deine Welt ist nicht nur Freude. Deine Welt ist auch Hilflosigkeit und Abhängigkeit. Einsamkeit,  Verzweiflung, Autoaggression. Umso mehr freue ich mich über die Momente, in denen Du an unserer Welt teilhast. Wenn Du beim Kinderturnen ein Hindernis allein bewältigst und meine Freude mit einem Strahlen erwiderst, wenn Dein kleiner Bruder Dich im Garten »fangen« darf und Du umfällst vor Lachen, wenn Du mir immer wieder den Kreisel hinhältst, damit ich ihn für Dich in Bewegung setze, wenn Du abends beim Einschlafen meine Hand nicht loslassen magst. Ich wünsche mir, dass wir mit Liebe und Geduld weit mehr solcher
Momente schaffen können. Und doch befürchte ich, dass wir niemals in ein und derselben Welt leben werden.
Katja Tappesser, Soest

 

Was mein Leben reicher macht

Meine vor jetzt schon fast zehn Jahren neu erhaltene Lebensqualität. Danke an alle Hinterbliebenen, die dem mutigen Schritt einer Organentnahme zugestimmt hatten.

Jürgen Claußen, Großalmerode

 

Betthupferl: Mein Wort-Schatz

Aus meiner Kindheit tauchte unlängst das altmodische Wort Betthupferl wieder auf, das ich schon lange nicht mehr gehört oder verwendet hatte. Und da uns Begriffe mit auf eine  Zeitreise nehmen, sah ich mich plötzlich wieder mit meinen Schwestern und meiner Mutter am Mittagstisch sitzen…

Wenn alle Teller leer, alle Schulerlebnisse erzählt sind, ist die Zeit für den Mittagsschlaf meiner Mutter gekommen. Der ist heilig und darf nur in Ausnahmefällen entfallen. Zuvor aber gibt es für uns alle ein Betthupferl – eine kleine Süßigkeit, die gerecht an uns drei Mädchen verteilt wird, aber nur meine Mutter tatsächlich bis ins Bett begleitet, während wir Kinder uns an die Hausaufgaben machen. Nie hat ein Stückchen  Schokolade köstlicher geschmeckt als damals!

Stefanie Eckes, Großaitingen

 

Zeitsprung

1997

2011

Das wunderbare Gedicht Der Schwimmer (Zeit der Leser, Nr. 34/11) sprach uns aus dem Herzen: Wir sind vier schwimmbegeisterte Freundinnen (darunter ist auch eine Mutter mit ihrer Tochter) und haben uns in ungezählten Sommern im örtlichen Freibad getroffen und nach dem Schwimmen an der kleinen Mauer verabredet, immer umhüllt von unseren »Umkleidezelten« (weil man das Klönen so während des Umziehens fortsetzen kann und die Kabinen ziemlich eng sind). Im Sommer 1997 trafen wir uns fast täglich, um unsere  Bahnen zu ziehen. In diesem Sommer haben wir uns für den Zeitsprung extra verabredet. »Ihr glücklichen Schwimmer, die Tage verwehn. Bald werden wir seufzen: Es war doch so schön.«
Gerlinde Ehl, Dietlind Roll, Ruth und Ellen Volkhardt, Wolfhagen

 

Herbsttag

(Nach Rainer Maria Rilke)

Herr, es ist Zeit, das Leben wird sehr lang,
Da viele Rentner über neunzig werden;
Wie lang, oh Herr, geht das noch gut auf Erden?
Bei dieser Frage wird mir angst und bang.

Befiehl den Kindeskindern Fruchtbarkeit,
Nur so lässt sich die Rechnung noch bezahlen,
Da helfen auch nicht neue Bundeswahlen – da
Kommt kein Rat, kommt auch nicht mit der Zeit.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr,
Der Zukunftsrentner kann sich das nicht leisten,
Das trifft nicht wenige, das trifft die meisten;
Wir altern ohne Qualitätsgewähr.

Die Medizin kann zwar mit Fortschritt prahlen,
Doch frag ich: Wer, oh Herr, soll das bezahlen?

Brigitta Weiss, Bad Lauterberg

 

Was mein Leben reicher macht

Wir, seit 1950 verheiratet, 85 und 82 Jahre alt, sitzen gemütlich beim Sonntagsfrühstück. Ein schöner Tag, da klingelt’s, Tür auf – und drei fast 2 Meter lange Jungs stehen im Raum. Unser Enkel Maximilian und seine Freunde Alex und Maui! Nach durchgemachter Nacht in Dortmund hatten sie spontan Lust, bei Oma und Opa zu frühstücken. Das ist Medizin für alte Leute. Klasse, Jungs!

Gertrud Thieme, Norden/Norddeich

 

Was mein Leben reicher macht

Ich bin gerade aufgestanden und trete ans offene Fenster, um dem lauten Gekrächze einer Krähe zu lauschen. Da tönt es aus der Nachbarwohnung: »Was hast du denn zu schreien, du Fuzzi?« Ein Montagmorgen in der Hauptstadt …

Gabriele Zimmer, Berlin

 

Famos: Mein Wort-Schatz

Es gibt viele Worte, mit denen man ausdrückt, dass man etwas gut findet: toll, prima, großartig. Oder auch, heute gern verwendet: cool, geil. Gibt es Alternativen mit mehr Stil? Wie wäre es mit grandios oder brillant? Vielleicht ein wenig dick aufgetragen? Vor einiger Zeit entdeckte ich ein anderes, scheinbar aus unserem Wortschatz völlig verdrängtes Wort bei der Lektüre von Hemingways Fiesta. Nicht selten drücken die Protagonisten dort ihre Zustimmung mit famos aus. Zugegeben, es klingt ein wenig ungewohnt und altbacken. Aber es hat Charme! Wir sollten es wiederbeleben. Wenn ich demnächst nach einem gemeinsamen Abendessen gefragt werde, dann antworte ich mit: »Famose Idee!«

Michael Popp, Lingen/Ems