Mein Sommerglück: Erstmals nach 19 Jahren wieder mit meinem inzwischen erwachsenen, 28-jährigen Sohn unterm Sternenhimmel von Ibiza Geschichten erzählen, Erinnerungen austauschen, einander zuhören, auch mal zusammen schweigen. Ein wunderschöner Vater-Sohn-Urlaub, den es – vielleicht – so nicht wieder geben wird.
Die vergangene Konzertsaison hat mir beglückende Eindrücke beschert. Getrübt wurde das Glück allerdings – wieder einmal – durch Begleiterscheinungen, die mit dem Verhalten eines großen Teils des Publikums zu tun haben.
So hebt, sobald der letzte Ton eines Satzes verklungen ist, ein ungehemmtes Räuspern, Husten und Schneuzen an, das an ein Lungensanatorium erinnert und mich, der ich gerade in überirdischen Gefilden schwebe, unsanft auf den Boden zurückholt. Dieses kollektive Ritual, dessen Sinn darin zu bestehen scheint, nur ja keine Stille aufkommen
zu lassen zwischen den von der Partitur vorgegebenen Pausen, hat nichts zu tun mit Grippewellen oder Novembernebeln, denn es ist im gleichen Maße auch im Hochsommer zu beobachten. Ähnlich ärgerlich ist der häufig unmittelbar nach dem letzten Ton eines Konzerts einsetzende Schlussapplaus, der, zusammen mit lauten
„Bravo“- und sonstigen Jubelrufen an die Geräusche erinnert, die ein Torschütze auf dem Fußballplatz auslöst. Immer häufiger sind es auch die Dirigenten, die nicht begriffen zu haben scheinen, dass zu den Tönen der Musik auch Stille gehört, damit das Gehörte in Ruhe nachklingen und seine Wirkung auf Seele und Gemüt entfalten kann: Noch im Schlussakkord lassen sie den Taktstock schwungvoll sinken, wenden sich abrupt von Orchester und Chor (und damit von der Musik) ab und dem Publikum zu, um in Siegerpose den stürmischen Jubel einzufordern. Lautstärke und Dauer des Schlussapplauses scheinen für viele Konzertbesucher und auch so manchen Dirigenten wichtiger zu sein, als das, was Musik in den Zuhörern auslösen kann.
Hinter mir liegen acht wunderbare Tage, in denen ich von Gargellen im Montafon nach Tirano im Veltlin gelaufen bin. Über drei Alpenpässe, durch das Davoser Land, das Oberengadin und das Puschlav. 6000 Meter hinauf und 5000 Meter hinab. Vor mir das Domleschg – ein Fleckchen Erde, das aussieht, als habe der liebe Gott es nach den
Aquarellen der alten Meister geformt. Und ich sitze da im Fenster eines alten Gasthofs und fühle die Sommerseligkeit meiner Kindheit, tauche ein in ein längst verloren geglaubtes Glück.
Wer bestimmt, welche Ortsnamen auf Autobahnwegweisern stehen und welche nicht? Karlsruhe zum Beispiel ist an der A 5 und der A 6 allgegenwärtig, Freiburg dagegen taucht auf den Schildern gar nicht auf.
Der prächtigste Ort Venedigs ist die Insel Giudecca. Nirgendwo sonst leuchtet der Himmel wie Bronze und das Wasser wie Quecksilber. Und nirgendwo sonst lässt es sich so romantisch Geburtstag mit dem Freund feiern, bevor er mich nach einem abenteuerlichen Jahr Auslandsstudium wieder mit nach Deutschland nimmt: Schöner kann man ein neues gemeinsames Kapitel nicht beginnen.
Südwestlich von Freiburg durchschneidet die A 5 einen Ausläufer des Tunibergs. Rechts und links stehen meterhohe Lösswände, die immer wieder zuwachsen, aber durch die Autobahnmeisterei regelmäßig vom Bewuchs befreit werden. Kaum einer der vielen Menschen, die hier vorbeifahren, bemerkt das große Kopfrelief, das bei Kilometer 761 auf der Westseite der Autobahn in die Lösswand eingeritzt ist.
Es stellt meinen Vater dar. Meine Mutter hat es zwischen 1961 und 1965 geschaffen. Sie hatte Kunst studiert, war Lehrerin gewesen, und als wir 1961 einmal – ich war damals elf Jahre alt – mit dem Fahrrad auf der frisch betonierten Autobahn von Freiburg nach Müllheim fuhren, brachte die glatte Lösswand meine Mutter auf die Idee, hier das Bild meines Vaters einzustechen – so wie auch ein leerer Zeichenblock oder eine frisch aufgespannte Leinwand einen Künstler reizen.
Mein Vater stand Modell, und 1965, als das Relief durch ein großes Q und die Jahreszahl vollendet wurde, wollte meine Mutter noch das Bild eines Freundes hinzufügen. Aber die Autobahn war inzwischen eröffnet worden und die Arbeit zu gefährlich.
Ein mit Tomatensoße verzierter Mund, der ein zartes Schmatzen von sich gibt, blaue Kulleraugen, die mich bei jedem neuen Löffel erwartungsvoll anhimmeln. Der Latz schon wieder völlig bekleckert. Das Mittagessen mit meinem zehn Monate alten Sohn ist für mich täglich ein Highlight. Wie sehr genieße ich doch meine Elternzeit!
Unsere 88-jährige Mutter ermöglichte uns in diesem Jahr einen Urlaub, indem sie für drei Wochen in ein Altenheim ging. Als ich sie abholte, erzählte sie strahlend: „Ich habe Zeit für viele Gespräche gehabt. Ich kam mir vor wie früher, als ich Gemeindeschwester war. Ich kann das noch!“