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Der Zeuge

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Die Geste meines Lieblingsbaums bleibt zweideutig. Will er sagen: »Stop! Bis hierher und nicht weiter!«? Seine Arme freilich sind dünn. Liegt deshalb das Stück Totholz im Weg? Oder sagt die Geste: »Komm zu mir! Übersteige das Hindernis, und umarme mich«? Mein Baum steht mitten in den tausendjährigen Eichen im mecklenburgischen Dorf Ivenack. Der folgenschwere Todesschuss in Sarajevo, die Mordmaschinen der Nazis: gestern! Der 30-jährige Krieg: vor ein paar Jahren! Die Städtegründungen der Slawen im 13., 14. Jahrhundert: Ja, da waren wir fast noch Kinder… Was ohne Worte erzählt werden kann, ist grenzenlos.

Hans-Peter Taubitz, Malchin, Mecklenburg

 

Vorbeigeschlundert: Mein Wort-Schatz

Berlin, Nikolaiviertel: In einem der Läden dort bestellte ich eine Spitzengardine. Ich musste ein bisschen warten, bis die Stickerinnen im Sächsischen damit fertig waren. Dann kam der Anruf aus dem Laden: »Ihre Gardine ist da. Kommen Sie doch demnächst mal vorbeigeschlundert!« Seitdem schlundere ich gern auf Einkaufswegen – statt herumzuschlendern.

Ursula Franke, Berlin

 

Was mein Leben reicher macht

Sonntagnachmittag. Käsekuchen essen mit Familie Bieler, meinen absoluten Lieblingskuchen. Und selbst gemachtes Quittengelee im Gepäck für die Rückreise von Mecklenburg-Vorpommern nach Köln. Und einen neuen Krimi!

Sabine Wrobel, Köln

 

Was mein Leben reicher macht

Im Frühjahr 1989 ließ ein kleiner Junge in Münster einen Luftballon steigen, an dem ein Zettel mit seiner Adresse hing. Wochen später kam Post aus einem Dorf nahe Görlitz. Ein Mädchen und seine Freundin hatten den Ballon in einem Baum entdeckt. Obwohl es verboten war, holten die Väter den Ballon herunter.

Die beiden Kinder hatten sich nicht viel zu schreiben, aber die östliche Mutter begann einen regen Briefwechsel mit der westlichen. Die beiden Familien waren ähnlich und doch verschieden: ähnliches Alter der Eltern, jeweils zwei Kinder, die einen Mädchen und Junge, die anderen zwei Töchter. Die einen Eltern beruflich sicher, die anderen schwer im Umbruch in unklaren Verhältnissen auf der Suche nach der individuellen Zukunft.

Zum Sommer 1990 kam eine Einladung aus Sachsen an die Familie aus Münster. Und beim Kennenlernen stellte sich heraus: Die Chemie stimmte. In den darauffolgenden Jahren besuchten sich Kinder und Eltern in wechselnden Zusammensetzungen, später nur noch die Eltern, berichteten sich aber genau, was mit den Kindern lief. Im Herbst 2013 fiel der ältesten Tochter auf, dass man sich nun schon bald 25 Jahre kannte und dass das gebührend gefeiert werden müsse. Am 3. Oktober 2014 trafen sich alle auf halber Strecke: Ein Ferienhaus im Harz am Brocken reichte für vier Eltern, vier Kinder samt Anhang und für inzwischen sechs Enkelkinder aus Sachsen, dem Rheinland und dem Münsterland.

Der nächste Termin ist schon verabredet: Ostern 2016 treffen sich alle an der Ostsee.

Marlies Hucht, Münster

 

Zeitsprung: Eingesperrte Liebe

Im August 2013 hab ich die Lampionblume (Physalis) in unserem Garten fotografiert, im Dezember darauf machte ich eine weitere Aufnahme von den Lampions in ihrer filigranen Form. Eine französische Freundin, der ich die Bilder zeigte, erzählte mir, die Lampionblume hieße auf Französisch amour-en-cage, eingesperrte Liebe. Daran musste ich jetzt denken, wo die trockenen Lampions wieder auf unsere Gartenmauer zu purzeln beginnen.

Thomas Staiber, Stuttgart

 

Was mein Leben reicher macht

Im vergangenen Jahr verbrachte ich längere Zeit in der Klinik. Im Park dieser Klinik wuchs ein wunderschöner Rosenstrauch mit duftenden Blüten, der meine Tochter als Blumenfreundin total begeisterte. So schnitt sie zwei Zweige ab, pflanzte die Setzlinge bei uns zu Hause ein und hegte und pflegte sie den ganzen Winter lang unter einem Glas. Einer dieser Setzlinge hat es tatsächlich geschafft, genau ein Jahr nach meinem Klinikaufenthalt trägt die Rose ihre erste Blüte.

Petra Michel, Biebertal, Hessen

 

Was mein Leben reicher macht

Das weiche Fell unserer beiden Castor-Rex-Kaninchen. Jeder will sie streicheln, und selbst an Kaninchen normalerweise uninteressierte Menschen geben begeisterte Kommentare ab. Lustig war auch die Bemerkung meines Sohnes dazu: »Ich finde, die Kaninchen werden doch sehr auf ihr Fell reduziert.«

Bettina Briesemeister, Rosdorf, Niedersachsen

 

Schwant: Mein Wort-Schatz

An einem wundervollen August-Tag saß ich mit meinem Mann auf einer Bank am Würzburger Schenkenturm, und wir blickten in das abendliche Maintal. Mein Mann sagte auf einmal: »Mir schwant da was, ich glaube, es braut sich ein ordentliches Gewitter zusammen. Komm, lass uns gehen.«
Nun kann man ja im Duden lesen, dass der Ausdruck »schwanen« durch eine Scherzübersetzung entstand, bei der lateinisch olere = riechen mit lateinisch olor = Schwan verknüpft wurde. Dazu kann ich nur sagen, dass es nicht Mainschwäne sondern eher Gewitterwolken waren, die meinen Mann zu dem Ausspruch veranlassten.
Mich selbst erinnert diese Redewendung an meine Kindheit: Meine Oma verwendete den Ausdruck nur allzu gern, wenn sie Unangenehmes befürchtete.

Beate Ziegler, Würzburg