( c) Juliane Henrich
1. Mai, traditionell der Tag der Arbeit – und des Protests. Der Journalist Florian Kessler, geboren 1981 in Heidelberg, hat sich mit der Protestkultur der Republik beschäftigt und ein Buch darüber geschrieben. „Mut Bürger. Die Kunst des neuen Demonstrierens“, ist in diesem Frühjahr bei Hanser Berlin erschienen.
ZEITmagazin: Im Buchtitel sprechen Sie vom „neuen Demonstrieren“. Was soll denn neu am derzeitigen Demonstrieren sein?
Florian Kessler: Klar, Proteste hat es schon immer gegeben. Mit den Massenprotesten auf dem Tahrir-Platz in Kairo, dem Aufkommen der Occupy-Bewegung oder auch dem Kampf gegen „Stuttgart 21“ sind sie in den letzten Jahren aber sehr auffällig in die allgemeine Diskussion zurückgekehrt. In meinem Buch vollziehe ich eine Vermutung des Internet-Theoretikers Clay Shirky nach, die besagt, dass das unter anderem an den sozialen Möglichkeiten der Netzkultur liegt: Durch das Internet kann jeder sehr einfach Gruppen bilden und zusammenhalten. Früher konnten das nur etablierte Organisationen, heute dagegen ist der Aufwand für die Selbstorganisation von Engagement äußerst gering. Das Internet erhöht also die Möglichkeit, selbständig zu protestieren – und genau diese Möglichkeit nutzen immer mehr Menschen.
ZEITmagazin: Und was ist die Kunst des neuen Demonstrierens?
Florian Kessler: Wer protestiert, der kämpft um Aufmerksamkeit – um Aufmerksamkeit für Anliegen, die anders von der Politik nicht bearbeitet würden. Jede auf den ersten Blick noch so simple Straßendemo zerfällt beim genaueren Hinschauen in unzählige Techniken, mit denen Aufmerksamkeit erlangt werden soll. Für mein Buch bin ich einmal quer durch die deutsche Protestlandschaft gereist, unter anderem war ich in den Occupy-Camps wie in Frankfurt vor der Europäischen Zentralbank. Eine solche Idee, inmitten der Städte öffentliche Plätze dauerhaft zu besetzen, hat es so früher nicht gegeben. Diese Zeltstädte beispielsweise waren ein ganz neuer Kunstgriff.
ZEITmagazin: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, ein Sachbuch über Protestformen zu schreiben?
Florian Kessler: Ich finde, dass die Veränderungen unserer Gesellschaft meistens viel zu pessimistisch beschrieben werden. Schon alleine dieses ständig gebrauchte Schimpfwort von den „Wutbürgern“, die angeblich verstockt und egoistisch nur für ihre eigenen Anliegen protestieren! Ich wollte mir einen anderen Blick auf die neue Demonstrationskultur verschaffen. Natürlich gibt es auch egoistische Anliegen, und ebenso auch undemokratische, reaktionäre, fundamentalistische Proteste. In ihrer Mehrheit aber stimmt mich persönlich die aktuelle Bereitschaft vieler Menschen zu Engagement und Protest optimistisch: Die Menschen wollen mitsprechen und können mitsprechen. Sieht man sich die Mehrzahl derzeitiger Proteste an, ergibt sich daraus eine positive, mutmachende Geschichte über unsere Zivilgesellschaft.
ZEITmagazin: Was war Ihre erste Demonstration?
Florian Kessler: Ich denke mal, im Wickeltuch bin ich nirgendwo mitgetragen worden. Aber meine Eltern haben durchaus so eine Art 68er-Programm mitgemacht, von den Studentendemos bis zu den Protesten gegen den Nato-Raketenbeschluss. Das habe ich natürlich mitbekommen, ich kann mich noch erinnern, wie wir in den achtziger Jahren zuhause Transparente gegen ein monströses Infrastruktur-Projekt gemalt haben. Wenn ich mir jetzt heute die vielen unterschiedlichen demokratischen Proteste in Deutschland angucke, dann sehe ich, dass längst nicht mehr nur eine einzige Generation wie die 68er protestiert, sondern viele unterschiedliche Altersstufen und Milieus.
ZEITmagazin: Täglich geistern diverse Aufforderungen, Petitionen zu unterschreiben, durch die sozialen Netzwerke. Was ist der Unterschied zwischen Präsenzzeigen auf der Straße und dem Unterschreiben von Online-Petitionen?
Florian Kessler: Ich würde weder die Straße noch das Internet vom ganz normalen Leben trennen, wir alle halten uns doch dort überall ganz selbstverständlich auf. Es ist logisch, dass sowohl im Netz als auch auf der Straße protestiert wird – und dass das Internet, wenn man das will, vor allem zum Austausch von Informationen und zur Mobilisierung genutzt werden kann. Eine wichtige Erkenntnis der letzten Jahre war allerdings, dass Onlineproteste alleine nicht unbedingt große Veränderungen hervorrufen. Sichtbarkeit im Raum der Städte ist zentral – das hat das Protestjahr 2011 mit seinen weltweit riesigen Demonstrationen und Platzbesetzungen sehr deutlich gezeigt.
ZEITmagazin: Angesichts der Vielzahl von Petitionen und Demonstrationsaufforderungen: Wie weiß man, für was es sich zu Demonstrieren lohnt?
Florian Kessler: Ich finde, dass man eine Vielzahl von Möglichkeiten nicht als Belastung betrachten sollte. Der Soziologe Niklas Luhmann hat einmal gesagt, dass die Kritik von Protestgruppen wie ein „Immunsystem“ der Gesellschaft funktioniere, das reagiert, wenn aufkommende Probleme ignoriert werden. In einer Demokratie ist es völlig in Ordnung, sich für die Ziele einzusetzen, die man selbst unmittelbar wichtig findet. Ohne die kritische Meinung aufmerksamer Bürger zu zahllosen verschiedenen Einzelfragen würden sich Politik und Wirtschaft noch weiter verselbständigen, als sie das ohnehin schon tun. Schon alleine deshalb sind möglichst viele verschiedene Petitionen und Demonstrationen ein produktives Element für die gesamte Gesellschaft.
ZEITmagazin: Heute ist der 1. Mai, seit den Arbeiter-Kundgebungen Ende des 19. Jahrhunderts traditionell ein Tag, auf die Straße zu gehen. Doch mit über 20 angemeldeten großen Veranstaltungen alleine in Berlin ist der 1. Mai längst auch unübersichtlich geworden. Auf welche 1.Mai-Demonstration lohnt es sich, zu gehen?
Florian Kessler: Das muss im Rahmen des Grundgesetzes wirklich jeder für sich selbst entscheiden, das ist Demokratie. Ich persönlich allerdings werde auf jeden Fall bei den Gegendemonstrationen gegen den demokratiefeindlichen, rassistischen Aufmarsch der NPD in Berlin-Schöneweide mitmachen – wie hoffentlich auch viele tausende andere Berliner.
[…] sich engagiert, muss zudem fürchten, mit dem Etikett „Wutbürger“ als renitenter Querulant und […]