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Die doppelte relative Mehrheit: Wie der Vertrag von Lissabon Juncker zum Kommissionpräsidenten macht

Renke Deckarm, Sebastian Fietkau

„Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament.“

Dieser Satz im Artikel 17 des EU-Vertrages ist dieser Tage in Europa wohl entscheidend. Denn nach den Europawahlen am 25. Mai ist es nun an den 28 europäischen Staats- und Regierungschefs einen neuen Präsidenten der Europäischen Kommission vorzuschlagen. Wird es Jean-Claude Juncker, Martin Schulz, oder doch jemand ganz anderes? Die Berücksichtigung der Ergebnisse der Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) bringt eine neue Facette in die ohnehin schon komplexe Ernennung des Kommissionspräsidenten. Bis 1993 hatte das EP keinerlei Mitspracherecht und die Mitgliedsstaaten im Europäischen Rat entschieden alleine über die Zusammensetzung der Kommission. Danach konnte das EP zum Vorschlag der Mitgliedsstaaten über den Kommissionspräsidenten eine Meinung abgeben und schließlich über die Kommission als Ganze abstimmen. Seit 2003 stimmt das Parlament über den Vorschlag des Europäischen Rates ab und nach dieser Europawahl muss der Vorschlag zum ersten Mal die Mehrheitsverhältnisse im EP berücksichtigen. Geändert hat sich auch die Verfahrensregel im Europäischen Rat: War bis 2003 noch Einstimmigkeit sowohl bei der Entscheidung über den Präsidenten als auch über die ganze Kommission notwendig, reicht seit 2003 dafür die qualifizierte Mehrheit.

Die Entscheidungsfindung kann dabei mit der Prinzipal-Agenten Theorie erklärt werden. Die Prinzipale (bisher der Europäische Rat) wählen ihren Agenten (den Kommissionspräsidenten) so aus, dass dieser ihre Interessen bestmöglich vertritt. Die Parteizugehörigkeit des jeweiligen Präsidenten und die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Rat sind also entscheidend. Wie wurden also die Präsidenten seit 1992 ausgewählt? Die Grafik stellt die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Rat und im EP bei der Ernennung der jeweiligen Präsidenten seit 1992 dar. Der Franzose Jacques Delors wurde wohl wegen seines großen Einflusses auf die europäische Politik als Sozialist trotz gegenteiliger Mehrheitsverhältnisse im Rat für eine dritte Amtszeit wiedergewählt – diese war ohnehin nur auf zwei Jahre angelegt, um künftige Kommissionen direkt nach den Wahlen zum EP ernennen zu können. Die Parlamentsmehrheit wurde zu der Zeit noch kaum berücksichtigt. Der konservative, luxemburgische Politiker Jacques Santer folgte 1994 auf Delors; gemäß dem inoffiziellen Turnus, der bis dahin gegolten hatte: Konservativer (bzw. Liberaler) aus kleinem Mitgliedsstaat folgt auf Sozialist aus großem Mitgliedstaat. Santer hatte jedoch auch eine absolute Mehrheit konservativer Staats- und Regierungschef im Rat hinter sich. Romano Prodi, der bei seiner Ernennung als Kommissionspräsident einer liberalen italienischen Partei angehörte, erhielt 1999 sowohl die Unterstützung der konservativen als auch der dominierenden sozialistischen Parteien. Fünf Jahre später hatten die Konservativen im Parlament ihre Mehrheit zurückgewonnen. Diese standen jedoch den einflussreichen sozialistisch regierten Ländern Spanien, Deutschland und dem Vereinigten Königreich gegenüber. Nach mehreren gescheiterten Vorschlägen konnten die Konservativen schließlich ihre Mehrheit im Parlament nutzen und wählten den Portugiesen José Manuel Barroso zum neuen Kommissionspräsidenten. Hier wird erstmals die wachsende Relevanz der Mehrheit im EP deutlich, die vom Europäischen Rat berücksichtigt wurde. Barroso wurde 2009 einstimmig vom Europäischen Rat wiedergewählt, stieß aber auf großen Protest der sozialistischen und grünen Parteien im Parlament. Mit der konservativ-liberalen Mehrheit wurde sein Mandat schlussendlich jedoch im EP bestätigt.

Wie sieht die aktuelle Lage nach den Wahlen zum Europäischen Parlament nun aus? Im Rat stehen zwar elf sozialistischen Staats- und Regierungschef elf Konservativen gegenüber, doch haben die Volksparteien nach dem 2003 eingeführten gewichteten Stimmrecht knapp 44% der Stimmen. Doch selbst mit Hinzunahme der drei liberal geführten Regierungen reicht dies nicht für eine qualifizierte Mehrheit. Hinzu kommen verschiedene Koalitionskonstellationen in den einzelnen Mitgliedsstaaten. Unter diesen Gesichtspunkten spräche für die Fortführung der einstimmig getroffenen Entscheidungen im Europäischen Rat. Dieses Jahr wird die Lage jedoch etwas komplexer: Die Rolle des EPs wird durch den Vertrag von Lissabon so gestärkt, dass es als zweiter Prinzipal verstanden werden kann. Die europäischen Parteien haben es sehr gut verstanden, die im Vertrag verankerte „Berücksichtigung der Wahlergebnisse“ für sich zu nutzen: Durch die Nominierung von Spitzenkandidaten wurde Europas Wählern suggeriert, dass diese danach automatisch eine Mehrheit im Parlament zu bilden hätten. Damit ginge das Vorschlagsrecht von den Staats- und Regierungschef auf die Wähler über. Diese offensive Lesart wurde natürlich von ersteren nicht begrüßt – lauter Widerspruch regte sich in Europas Hauptstädten auch nicht. Eine Abkehr von den Spitzenkandidaten nach der Wahl und eine Ernennung einer Person, die nicht „zur Wahl“ stand, ist schwer denkbar. Denn neben dem erwartbaren öffentlichen Aufschrei wäre dann eine Wahl durch das Parlament mehr als ungewiss: Schließlich wollen das EP und die darin vertretenen Parteien ihre teils vertraglich zugesicherte und teils hinein interpretierte Macht nutzen. Es sieht also nicht nach einem aus dem Hut gezauberten Kompromisskandidaten à la Barroso aus.

Sehr vieles spricht also für den Spitzenkandidaten der Europäischen Volksparteien, dem Luxemburger Jean Claude Juncker. Seine Partei konnte die Mehrheit der Sitze im Parlament gewinnen. Zudem haben die konservativen und liberalen Staats- und Regierungschef zumindest eine relative Mehrheit im Rat, darunter durch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel. Dagegen spricht fast nur der Premierminister des Vereinigten Königreiches, David Cameron. Dieser setzt sich mit wenigen Verbündeten gegen die Wahl Junckers ein. Doch die doppelte relative Mehrheit in den Institutionen, die sich für Juncker ausspricht, macht seinen Kampf zu einem beinahe aussichtslosen. Womöglich riskiert Cameron sogar den Bruch mit dem Konsensprinzip. Auf den Verhandlungsführer Herman van Rompuy wartet nun keine einfache Aufgabe: Es sieht so aus, dass entweder einige Mitgliedsstaaten oder das EP als Verlierer des Prozesses dastehen könnten.

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Undurchsichtig, aber folgenreich: Warum sich Norbert Lammert beim Wahlrecht irrte, und wie es wirklich zu 631 Bundestagsmandaten kam

Von Valentin Schröder
Der Bundestagspräsident ließ die günstige Gelegenheit nicht verstreichen. Direkt in seiner Antrittsrede mahnte Norbert Lammert eine erneute Änderung des neuen Bundestagswahlrechts an. Er sei besorgt, denn „ganze vier Überhangmandate (…) und die neuen Berechnungsmechanismen, die für die meisten Wahlberechtigten übrigens ziemlich undurchsichtig sind“ ließen bei schon jetzt 29 Ausgleichsmandaten „die Folgen ahnen, die sich bei einem anderen, knapperen Wahlausgang für die Größenordnung künftiger Parlamente ergeben könnten.“

Wir erinnern uns: Überhangmandate verzerrten bislang das Mandatsverhältnis zugunsten von Parteien, die in einzelnen Bundesländern mehr Direktmandate erzielten als ihnen dort nach ihrem Zweitstimmenanteil zustanden. Diese Verzerrung wird im neuen Wahlrecht durch Ausgleichsmandate für andere Parteien beseitigt. Tatsächlich gab es bei der Wahl 2013 die besagten vier Überhangmandate. Und in der Tat erhöhte sich die Mandatszahl im Bundestag von 598 auf 631. Aber diese Erhöhung lag nicht an den vier Überhangmandaten, die Lammert vermutlich meinte. Dazu wäre es auch gekommen, wenn kein einziges dieser Überhangmandate angefallen wäre. Um diesen überraschenden Wahlregeleffekt zu verstehen, ist ein genauerer Blick auf die Details der Stimmenverrechnung nötig. Deshalb wird es nun etwas technischer.

In Deutschland gibt es regulär (also ohne Überhang und Ausgleich) 598 Bundestagsmandate. Sie werden nach dem neuen Wahlrecht vor der Wahl auf die 16 Länder verteilt, und zwar nach deren Bevölkerungsanteil – so erhielten z.B. Bayern mit 11 Millionen Einwohnern 92 Mandate und Niedersachsen mit 7,4 Millionen 59. Nach der Wahl erhält jede Bundestagspartei von jedem dieser 16 Kontingente so viele Mandate, wie ihrem Zweitstimmenanteil im Land entspricht, oder, falls sie mehr Direktmandate erzielte, diesen Anteil plus der „überhängenden“ Direktmandate. Dies sind die altbekannten Überhangmandate. Die Mandate aus den Länderkontingenten werden für jede Partei zu ihrer sog. „Mindestsitzzahl“ aufsummiert. Das heißt „Erste Stufe der Mandatsverteilung“.

Damit ist die Verteilung aber noch nicht abgeschlossen, denn nun werden die Mindestsitzzahlen der Parteien mit den bundesweiten Zweitstimmenanteilen der Bundestagsparteien verglichen. Bestenfalls entspricht die Mindestsitzzahl jeder Partei genau ihrem Stimmenanteil. So war es 2013 aber nicht: die CSU hatte drei Mindestsitze „zu viel“, SPD und Grüne je einen „zu viel“ und die Linke einen „zu wenig“. Nur die CDU-Mindestsitzzahl entsprach dem CDU-Stimmenanteil.
Laut Wahlgesetz ist jeder Partei ihre Mindestsitzzahl garantiert. Aber außerdem muss das Mandatsverhältnis dem Stimmenverhältnis zwischen den Parteien entsprechen. Bei Abweichungen davon werden in der „Zweiten Stufe“ zusätzliche Mandate verteilt, bis die beiden Verhältnisse übereinstimmen. Das sind die Ausgleichsmandate. 2013 wich die Mindestsitzzahl der CSU am weitesten von diesem Proporz ab. Deshalb wurde der Ausgleich entlang der CSU-Mindestsitzzahl vorgenommen. Sie betrug 56. Damit diese Zahl mit dem CSU-Stimmenanteil (8,9%) bezogen auf alle Bundestagsparteien übereinstimmte, mussten insgesamt 631 Mandate verteilt werden. So kam es zu der Mandatserhöhung.

Aber wie kam es nun zu den jeweils „zu vielen“ oder „zu wenigen“ Mindestsitzen? Das lag an der Verteilung der Mandate zuerst auf die Länder. Regionale Unterschiede im Wahlverhalten führten nun zu Unterschieden bei Wahlbeteiligung und Stimmenanteil der mandatsmäßig zu berücksichtigenden Parteien zwischen den Ländern. Erstere schwankte 2013 vor Ort zwischen 62 und 73 Prozent und letzterer zwischen 81 und 88 Prozent. In Ländern mit unterdurchschnittlicher Wahlbeteiligung und/oder unterdurchschnittlichem Anteil mandatsrelevanter Stimmen waren für die Bundestagsparteien folglich weniger Stimmen pro Mandat nötig als in Ländern mit hoher Wahlbeteiligung und/oder vielen zu berücksichtigenden Stimmen. So erhielt beispielsweise die SPD in Niedersachsen 22 Mandate mit 1,4 Mio. Stimmen. In Bayern kam sie wiederum bei 1,3 Mio. Stimmen auf 23 Mandate. Sie erhielt dort also mit weniger Stimmen mehr Mandate als in Niedersachsen. Diese Unterschiede führten in der Summe bei manchen Parteien zu den „zu vielen“ (oder eben zu wenigen) Mindestsitzen.

Diese Unterschiede haben nichts mit den Direktmandaten zu tun. Aber sie haben die gleichen Konsequenzen wie die bisherigen Überhangmandate: sie lösen Ausgleichsmandate aus.

Um das zu erklären, tun wir erst einmal so, als würden die 598 regulären Mandate genau nach dem Stimmenverhältnis auf Parteien und Länder verteilt. Dann ergibt sich die Mandatsverteilung, wie sie in Abbildung 1 durch die gelben Säulen dargestellt ist. Die blauen Säulen dort zeigen die echte Mandatsverteilung nach der Ersten Stufe. Die Abweichungen zwischen den Balken sind zwar klein. Aber sie haben eine große Wirkung.

Abbildung 1: Ideale Mandatsverteilung und Mandatsverteilung nach der Ersten Stufe

abb1

Das ist in Abbildung 2 dargestellt, wo jeweils nur die Abweichungen der echten gegenüber der idealen Verteilung erscheinen.

So gibt es bei der CDU beispielsweise in fünf Ländern fünf „überzählige“ Mandate – in Brandenburg, dem Saarland, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Baden-Württemberg. Die ersten vier davon sind die erwähnten Überhangmandate durch zu viele Direktmandate. Das Mandat im Ländle jedoch kam durch einen hohen Anteil nicht in die Mandatsberechnung eingehender Stimmen zustande und fiel als Listenmandat an. Man könnte es deshalb „Listen-Überhangmandat“ nennen. Zufällig führten insgesamt ebenfalls fünf „Listen-Unterhangmandate“ in Bremen, Niedersachsen und NRW bei der CDU-Mindestsitzzahl aber wieder zu einem Saldo von Null. Die klassischen Überhangmandate der CDU allein führten deshalb zu keiner Mandatserhöhung. Wäre der Saldo aller anderen Parteien ebenfalls Null gewesen, hätte es am Ende sogar genau 598 Mandate und damit überhaupt keine Bundestagsvergrößerung gegeben.

Abbildung 2: Überhang- und Unterhangmandate

abb2

So war es bei den anderen Parteien aber eben nicht, wie man an den Salden in Abbildung 2 sieht. Besonders deutlich ging es bei der CSU daneben, die als Ein-Land-Partei natürlich auch keine Möglichkeit zum Ausgleich durch Aufsummieren hatte. Unterm Strich kam es damit bei den Mindestsitzzahlen zu vier Mandaten zu viel (0 CDU + 3 CSU + 1 SPD + 1 Grüne – 1 Linke = 4). Das erhöhte die Bundestagsgröße schon einmal auf (598 + 4 =) 602 Sitze, denn die Mindestsitzahlen sind ja garantiert. Die Zweite Stufe der Verteilung brachte dann die besagten 29 Ausgleichsmandate und damit (598 + 4 + 29 =) 631 Sitze.

Indem er selbst zu ihrem Opfer wurde, hatte der Bundestagspräsident also auf geradezu unheimliche Weise Recht, als er die Undurchsichtigkeit des geltenden Wahlrechts rügte. Aber mit Blick auf dessen beachtliche Mandatsfolgen bleibt Lammert zumindest ein Trost: beim nächsten Mal winkt ihm die Aussicht auf eine zumindest ähnlich große Zuhörerschaft im Bundestagsplenum.

Valentin Schröder ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der
Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung des Zentrums für Sozialpolitik an der
Universität Bremen.

 

Ihr Wahl-O-Mat-Ergebnis, Herr Steinbrück: Bilden Sie eine rot-rot-grüne Regierung oder gar eine Minderheitsregierung!

Von Christian Stecker

Dass bei der Regierungsbildung die Inhalte im Vordergrund stehen werden, gehörte zu den oft wiederholten Beteuerungen von Spitzenpolitikern im zurückliegenden Bundestagswahlkampf. Ließe sich die SPD beim Wort nehmen, müsste sie zügig Koalitionsgespräche mit den Grünen und der Linken aufnehmen oder gar die Bildung einer Minderheitsregierung anstreben. Einen aussagekräftigen Blick auf die inhaltliche Übereinstimmung zwischen den Positionen der Parteien bietet der „Wahl-O-Mat“. Betrachtet man diese Übereinstimmungen (repräsentiert durch gekreuzte Kästchen) zwischen den im 18. Bundestag vertretenen Parteien anhand der 38 „Wahl-O-Mat“-Fragen zeigt sich, dass Rot-Rot-Grün, die meisten Überschneidungen (21) aufweist. Insbesondere in den zentralen Themen wie der Einführung eines Mindestlohnes, der Erhöhung des Spitzensteuersatzes, der Einführung einer Bürgerversicherung, der Abschaffung des Betreuungsgeldes oder dem Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare wollen SPD, Grüne und Die Linke die Politik in dieselbe Richtung verändern.

Für eine einträchtige Wiederauflage der Großen Koalition spricht dagegen weniger. Sieht man von den Bereichen (unterhalb der gestrichelten Linie) ab, in denen ohnehin ein Allparteienkonsens herrscht, beschränkt sich die Einigkeit der potentiellen Partner darauf, bestehende Gesetzeslagen beizubehalten, etwa zu Rüstungsexporten, (kein) Tempolimit und Sanktionen für sogenannte Jobverweigerer. Schmerzhafte Kompromisse oder gar Nichteinigung drohen CDU/CSU und SPD dagegen (erneut) in wichtigen Fragen wie Mindestlohn und Bürgerversicherung. Noch kärger ist die Menge an Gemeinsamkeiten zwischen CDU/CSU und Grünen.

Es zeigt sich auch, dass eine SPD-geführte Minderheitsregierung von deutlich mehr Übereinstimmungen profitieren könnte, als es einer starren CDU/CSU/SPD- oder SPD/Grüne/Die Linke-Koalition möglich wäre. Ließen sich alle Parteien darauf ein, in einzelnen Sachfragen bei gegebener Übereinstimmung miteinander zu kooperieren, könnte die SPD aufgrund ihrer mittigen Lage im politischen Spektrum wechselnde parlamentarische Mehrheiten in ganzen 28 Themenbereichen (7 mit der CDU/CSU, 21 mit Grünen und Die Linke) anführen. Nebenbei bemerkt, bräuchte eine solche Konstellation auf längere Sicht auch keine gegnerischen Mehrheiten im Bundesrat fürchten.

Zugegeben, das bloße Ankreuzen von Übereinstimmungen zwischen den Parteien in (vereinfachten) Themenbereichen vergisst neben wahlstrategischen Überlegungen der Parteien mindestens zwei Praktiken des politischen Spiels in Deutschland, die die Regierungsbildung entscheidend beeinflussen. Da ist zum einen die Tendenz von Parteien (insbesondere von Die Linke) auf Maximalforderungen zu beharren und darüber selbst mögliche Verbesserungen gegenüber der bestehenden Gesetzeslage auszuschlagen. Solch fehlende Bereitschaft zum Kompromiss könnte auch einen rot-rot-grünen Mindestlohn scheitern lassen. Zum anderen schnüren Regierungskoalitionen immer ein gesamtes Politikpaket, das alle Themenbereiche beinhalten muss und auch an Dissens in einzelnen Fragen (Stichwort Nato-Austritt) platzen kann. Minderheitsregierungen, die wechselnde Mehrheiten entlang verschiedener Politikbereiche bilden könnten, sind durch die Fixierung der Parteien auf stabile Mehrheitskoalitionen auf Bundesebene bisher ausgeschlossen.

Übereinstimmungen innerhalb der verschiedenen möglichen Mehrheitskoalitionen im 18. Deutschen Bundestag (nach Auswertung des Wahl-O-Mat)

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Auch Bundeskanzlerin Merkel hat das alternative Format einer Minderheitsregierung in der ElefantInnen-Runde auf ARD/ZDF am Wahlabend lachend abgetan. Aus ihrer Sicht verständlich – hat die Union auch als stärkste Partei aufgrund ihrer relativ rechten Position im politischen Spektrum nur wenig Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Parteien, um eigene Anliegen mit parlamentarischen Mehrheiten umzusetzen (sieben Bereiche mit der SPD, vier mit den Grünen und sechs mit potentiell allen Parteien). Angesichts des deutlich größeren Handlungsspielraums einer SPD-geführten Minderheitsregierung ist die kategorische Ablehnung dieser Option durch die SPD dagegen unverständlich. Mindestens wäre es aus Sicht der Sozialdemokraten taktisch klug, Frau Merkel und Herrn Seehofer in anstehenden Koalitionsverhandlungen gelegentlich daran zu erinnern, dass für sozialdemokratische Kernanliegen im Bundestag alternative Mehrheiten bereit stünden.

Zahlreiche Gründe mögen auf Bundesebene in Deutschland gegen eine solche Minderheitsregierung sprechen – in erster Linie wohl aber „nur“ die normative Kraft des faktisch jahrzehntelang eingeübten Spiels von stabilen Mehrheitskoalitionen. Bei allen echten Problemen, die Minderheitsregierungen mit sich bringen, lehrt der Blick nach Dänemark, Neuseeland, Schweden und NRW jedoch, dass sich diese Probleme nicht nur zum Teil lösen lassen, sondern Minderheitsregierungen auch zahlreiche demokratietheoretisch wünschenswerte Dinge mit sich bringen – insbesondere dann, wenn es dem politischen Personal in erster Linie auf die Inhalte ankommt.

Weiterführende Literatur:

Steffen Ganghof, Christian Stecker, Sebastian Eppner und Katja Heeß (2012). Flexible und inklusive Mehrheiten? Eine Analyse der Gesetzgebung der Minderheitsregierung in NRW. Zeitschrift für Parlamentsfragen, 43 (4), S. 887-900.

Alexander Preker und Christoph M. Haas (2012). Flexibilität und Effektivität vor Stabilität. Ein Beitrag zur Diskussion von Minderheitsregierungen auf Bundesebene am Beispiel der politischen Praxis Dänemarks. Zeitschrift für Politik, 59 (4), S. 453-483.

Christoffer Green-Pedersen (2001). Minority Governments and Party Politics: The Political and Institutional Background to the “Danish Miracle”. Journal of Public Policy, 21 (1), S. 53-70.

Tim Bale und Torbjörn Bergman (2006). Captives no longer, but servants still? Contract Parliamentarism and the new minority governance in Sweden and New Zealand. Government and Opposition, 41 (3), S. 422-449.

Martin Delius, Michael Koß und Christian Stecker (2013). „Ich erkenne also Fraktionsdisziplin grundsätzlich auch an…“ – Innerfraktioneller Dissens in der SPD-Fraktion der Großen Koalition 2005-2009. Zeitschrift für Parlamentsfragen, 44 (3).

Stephan Klecha (2010). Minderheitsregierungen in Deutschland (Hannover: Friedrich-Ebert-Stiftung).

Christian Stecker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Systeme und Europäische Integration am Geschwister Scholl-Institut an der Ludwig Maximilians-Universität München.

 

AfD-Schock durchkreuzt Prognose des Kanzlermodells

Von Thomas Gschwend und Helmut Norpoth
Die Prognose des Kanzlermodells von 51,2% für Schwarz-Gelb weicht deutlich vom kombinierten Stimmenanteil von 46,3% dieser Parteien am Wahlabend ab. Scheint das erfolgreiche Kanzlermodell plötzlich auf dem Holzweg zu sein? Die eigentliche Stärke des Kanzlermodells, das es Prognosen schon lange vor der Wahl erlaubt, konnte bei dieser Wahl durch einen Schock wie dem plötzlichen Aufstieg der AfD nicht zum tragen kommen.

Für jede Vorhersage müssen Annahmen getroffen werden, ob es jetzt Volkswirtschaftler sind, die das Bruttoinlandsprodukt oder das Wirtschaftswachstum schätzen, oder eben Politikwissenschaftler, die den Wahlausgang vorhersagen. Das liegt in der Natur der Sache. Sind dann diese Annahmen nicht gegeben, kann es zu fehlerhaften Prognosen kommen.

Für das Kanzlermodell müssen wir etwa annehmen, dass diese Wahl sich nicht systematisch von anderen Bundestagswahlen unterscheidet, sofern das nicht über unsere drei erklärenden Faktoren, den längerfristigen Wählerrückhalt der Regierungsparteien, den Abnützungseffekt der Regierung sowie die KanzlerInnenpopularität hinreichend genau beschrieben werden kann. Wir hatten zwar darauf hingewiesen, dass es der Union alleine zu einer Mehrheit nicht reichen wird, falls die FDP nicht in den Bundestag einziehen würde. Freilich haben wir das nicht für wahrscheinlich gehalten, nach allem was wir aus der Geschichte von Bundestagswahlen wissen. Das besondere am gestrigen Wahlergebnis ist die Tatsache, dass es rechts von der Union ein Partei dabei ist sich zu etablieren, die AfD, die wie Phönix aus der Asche in den letzten Wochen vor der Wahl aufgestiegen ist und nun stolz sein kann, die üblichen Annahmen zur Wahlarithmetik, auch die unseres Modells, ordentlich durcheinander zu wirbeln.

In 2005 hatte das Kanzlermodell mit einer ähnlichen Herausforderung zu kämpfen. Links von SPD und den Grünen hatte sich eine neue Partei formiert, die Linken. Allerdings konnten wir aufgrund der Umfragen diese Entwicklung besser abschätzen und letztlich den Wert für den längerfristigen Wählerrückhalt dafür erfolgreich korrigieren. Diese Möglichkeit gab es diese Mal nicht. Als wir am 24. August, etwa vor einem Monat, unsere Prognose auf diesem Blog veröffentlichten, wurde die Unterstützung für die AfD noch nicht zuverlässig mittels Umfragen gemessen und folglich von den Umfrageinstituten nicht extra ausgewiesen. Daher haben wir in unserem Wert für den längerfristigen Wählerrückhalt von Schwarz-Gelb auch fälschlicherweise das Wählerreservoir der AfD abgebildet – ohne es zu wissen. Insofern deckt unsere Vorhersage von 51,2 % eigentlich das gesamte konservativ-liberale Lager, einschließlich der AfD ab – und diese Parteien kommen zusammen übrigens auf 51% der Zweitstimmen. Das zeigt, dass die Logik des Kanzlermodells auch bei dieser Wahl funktionierte. Das Modell konnte nur nicht mehr kurzfristig eine politisch relevante Prognose für Schwarz-Gelb bei gleichzeitigem Auftreten der AfD formulieren. Solche kurzfristigen Entwicklungen können nicht systematisch in Vorhersagemodelle integrierte werden, wenn diese den Wahlausgang nicht erst am Wahlabend um 18 Uhr vorhersagen sollen sondern möglichst lange vor einer jeden Wahl formuliert werden.

 

Die Twitter-Schatten von Angela Merkel und Peer Steinbrück: Auslöser und Themen

Andreas Jungherr und Harald Schoen
In den letzten Jahren entwickelte sich die Microblogging-Plattform Twitter zunehmend zu einem Kommunikationskanal, auf dem Nutzer politische Ereignisse, Kandidaten und Parteien kommentieren. Auch der Bundestagswahlkampf 2013 hinterlässt bereits seine Spuren auf Twitter.

Besonders die Handlungen und Eigenschaften der Kanzlerkandidaten von Union und SPD, Angela Merkel und Peer Steinbrück, werden täglich auf Twitter kommentiert und kritisiert. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass themenspezifische Offline-Ereignisse zum Anstieg des Volumens von Twitter-Nachrichten führen können (Jungherr 2013, Jungherr und Jürgens 2013a, Jungherr und Jürgens 2013b). Dies zeigt sich auch in der Frühphase des Bundestagswahlkampfs 2013.

Für die folgende Analyse nutzten wir die Plattform Crimson Hexagon (http://www.crimsonhexagon.com). Die Software erlaubt es, die Häufigkeit einzelner Worte auf Twitter zu erfassen und mittels statistischer Inhaltsanalyse Nachrichten unterschiedlichen Themenkategorien zuzuordnen (mehr zur Methodik ist hier zu finden http://www.crimsonhexagon.com/brightview-algorithm/). Wir können in der Folge also nicht nur feststellen, wann und wie häufig über Angela Merkel und Peer Steinbrück getwittert wurde, sondern können diese Nachrichten auch thematisch ordnen.

In einem ersten Schritt identifizierten wir alle Nachrichten, die zwischen dem 1. Februar und dem 7. August 2013 die Worte „Angela“, „Merkel“ oder „Angie“ enthielten. Da sich natürlich nicht alle Twitter-Nachrichten mit diesen Begriffen tatsächlich auf Angela Merkel bezogen, trainierten wir den Crimson Hexagon-Algorithmus darauf, thematisch relevante von nicht relevanten Nachrichten zu trennen. Durchschnittlich wurden dabei pro Tag etwa 83% aller Nachrichten mit den Worten „Angela“, „Merkel“ oder „Angie“ als einschlägig eingestuft. Abbildung 1 zeigt im Zeitverlauf die Zahl relevanter Botschaften, die sich laut Algorithmus auf Angela Merkel bezogen.

Abbildung 1: Zahl der relevanten Nachrichten, in denen die Worte „Angela“, „Merkel“ oder „Angie“ verwendet wurden. Diese und die folgende Abbildung wurden mit Hilfe der Software R (R Core Team 2013) und ggplot2 (Wickham 2009) erstellt.
MerkelNennungen

Die Abbildung zeigt, dass die Zahl der Nachrichten, die sich auf Angela Merkel beziehen, von Tag zu Tag sehr schwankt. Im betrachteten Zeitraum wurden 364.071 Nachrichten auf Twitter gepostet, die sich auf Angela Merkel bezogen. Am seltensten wurde über Angela Merkel am 9. Mai getwittert (532 Nennungen), am häufigsten am 19. Juni (18.121 Nennungen). Der Medianwert liegt bei 1.493 Nennungen pro Tag. Während es schwierig ist, inhaltliche Gründe für vergleichsweise seltene Nennungen politischer Akteure zu finden, liegt die Annahme nahe, dass an Tagen mit vergleichsweise hohen Kandidatennennungen thematisch relevante Ereignisse stattfanden, die zu dieser hohen Twitter-Aktivität führten. In Tabelle 1 sind die Tage zusammengestellt, an denen vergleichsweise häufig über Angela Merkel getwittert wurde.

Tabelle 1: Tage, an denen die Worte „Angela“, „Merkel“ oder „Angie“ in als relevant eingestuften Nachrichten außergewöhnlich häufig verwendet wurden
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Die Tabelle zeigt, dass über Angela Merkel zu unterschiedlichen Anlässen stark getwittert wurde. Einige dieser Ereignisse, wie der Rücktritt Annette Schavans und verschiedene Stellungnahmen Angela Merkels zu der NSA-Affäre, sind Nachrichtenereignisse. Medien berichten über tagesaktuelles Geschehen und infolgedessen steigt die thematisch relevante Twitter-Aktivität. Dieser Ereigniskategorie kann auch Merkels „Neuland“-Äußerung zugeordnet werden, die aber sicherlich auch wegen ihres Internetbezugs auf Twitter große Resonanz fand. Andere Ereignisse können als Kampagnenereignisse verstanden werden. Dies sind Aufrufe, Aussagen oder Interviews politischer Akteure im Rahmen politischer Kampagnen. Ein Beispiel hierfür ist der Aufruf der türkischen Regierung am 28. Juni, mit dem Hashtag #bleibfreundedeutschland zu twittern, um zu zeigen, dass deutsche Politiker das Vorgehen der türkischen Regierung gegen inländische Demonstranten nicht kommentieren sollten. Einen dritten Ereignistyp bilden Medienereignisse. Dies sind vorher angekündigte und stark beworbene Ereignisse in den traditionellen Medien. In unserem Fall waren dies zum Beispiel Angela Merkels ARD-Sommerinterview und ihr Besuch der Bundespressekonferenz (zu unterschiedlichen Ereignistypen und ihrer Rolle in der Medienberichterstattung siehe z.B. Dayan und Katz 1992, Kepplinger und Habermeier 1995).

Wir sehen also, dass über Angela Merkel vor allem nach Nachrichtenereignissen oder Medienereignissen häufig getwittert wird. Eine Ausnahme hierzu stellt die türkische Kampagne #bleibfreundedeutschland dar, die ebenfalls sehr starke Reaktionen auslöste. Eigene Kampagnenimpulse der CDU oder Angela Merkels spielen in den Reaktionen auf Twitter jedoch keine dominierende Rolle.

Wie verhält sich dies bei den Twitter-Kommentaren zu Peer Steinbrück? Hierfür sammelten wir mit Crimson Hexagon im selben Zeitraum alle Twitter-Nachrichten, die die Worte „Peer“ oder „Steinbrück“ enthielten. Wieder richteten wir den Algorithmus ein, um thematisch relevante von nicht relevanten Nachrichten zu unterscheiden. Im Durchschnitt wurden dabei etwa 92% aller Nachrichten mit den Worten „Peer“ oder „Steinbrück“ als relevant identifiziert. Abbildung 2 zeigt den Verlauf der Nennungen Peer Steinbrücks.

Abbildung 2: Zahl der relevanten Nachrichten, in denen die Worte „Peer“ oder „Steinbrück“ verwendet wurden
SteinbrückNennungen

Zwischen dem 1. Februar und dem 7. August bezogen sich laut Algorithmus 112.326 Nachrichten auf Peer Steinbrück. Am seltensten wurde über ihn am 6. Mai getwittert (280 Nennungen), am häufigsten am 28. Februar und am 14. April (jeweils 3.810 Nennungen). Die Verteilung hat einen Medianwert von etwa 406 Nachrichten pro Tag. Über Peer Steinbrück wird also deutlich seltener getwittert als über Angela Merkel. Zudem schwanken die Nennungen Peer Steinbrücks in ihrer Häufigkeit ähnlich stark wie die Angela Merkels. Zu welchen Anlässen wird nun also über Peer Steinbrück besonders häufig getwittert?

Tabelle 2: Tage, an denen die Worte „Peer“ oder „Steinbrück“ besonders häufig in als relevant eingestuften Nachrichten verwendet wurden
tabelle2

Wie in Tabelle 2 zu erkennen ist, wird über Peer Steinbrück vor allem nach Wahlkampfereignissen besonders häufig getwittert. Dabei kann es sich um Zeitungsinterviews des Kandidaten handeln (z.B. 27. Februar, 5. April und 14. Juli) oder auch um von der SPD organisierte Großereignisse (wie zum Beispiel den Bundesparteitag oder den Parteikonvent). Kampagnenereignisse schlagen sich im Twittern über Peer Steinbrück somit wesentlich deutlicher nieder als im Falle Angela Merkels. Dieser Unterschied in der Twitter-Resonanz dürfte seine Ursache in den Rollen beider Politiker als Regierungs- und Oppositionsakteure haben. Als Kanzlerin wird Angela Merkel sehr viel stärker zum tagesaktuellen Geschehen in Bezug gesetzt, während Peer Steinbrück als Herausforderer stärker darauf angewiesen ist, aus eigener Initiative Ereignisse für Berichterstattung und Online-Reaktionen zu schaffen.

Für diese Interpretation sprechen auch die Themen, die in Kommentaren zu Merkel und Steinbrück angesprochen werden. Hierzu untersuchten wir alle als relevant eingestuften Nachrichten, die zwischen dem 1. und dem 30. Juli 2013 die Worte „Angela“, „Merkel“, „Angie“, „Peer“ oder „Steinbrück“ enthielte. Den Crimson Hexagon-Algorithmus richteten wir so ein, dass er zwischen Nachrichten zur NSA-Affäre und solchen zu anderen Themen unterscheiden kann. Zusätzlich sollten Tweets mit Links zu Nachrichtenquellen im Netz (z.B. Artikel auf Internetangebote traditioneller Medienunternehmen oder Blogs) und reine Nutzerkommentare unterschieden werden.

Abbildung 3 zeigt, dass fast die Hälfte aller Twitter-Nachrichten, die im Juli auf Angela Merkel Bezug nahmen, dies im Kontext der aktuellen NSA-Affäre taten. Wie in Abbildung 4 zu erkennen ist, war dieses Thema bei Peer Steinbrück nur in etwa 31% der Nennungen relevant. Es ist ebenfalls zu beobachten, dass sich etwa die Hälfte aller Twitter-Nachrichten zu beiden Kandidaten auf externe Nachrichtenquellen bezogen. Im Falle Peer Steinbrücks überwiegen diese Nachrichten mit rund 54%, bei Angela Merkel machen sie etwa 45% aus. Twitter ist also ein Kanal, der zumindest derzeit von seinen Nutzern sowohl für politische Kommentare als auch zur Verbreitung politisch relevanter Informationen genutzt wird.

Abbildung 3: Themen der Twitter-Nachrichten , in denen die Worte „Angela“, „Merkel“ oder „Angie“ verwendet wurden
MerkelConversations

Abbildung 4: Themen der Twitter-Nachrichten , in denen die Worte „Peer“ oder „Steinbrück“ verwendet wurden
SteinbrckConversations

Diese erste Analyse zeigt, dass über die beiden Kanzlerkandidaten Angela Merkel und Peer Steinbrück unterschiedlich intensiv getwittert wird. Angela Merkel als Kanzlerin wird deutlich häufiger auf Twitter genannt als ihr Herausforderer Peer Steinbrück. Am häufigsten wird über sie nach Nachrichten- oder Medienereignissen getwittert. Peer Steinbrück fand sein stärkstes Echo auf Twitter bisher nach von ihm oder der SPD organisierten Kampagnenereignissen wie Zeitungsinterviews oder Parteitagen. Thematisch wurde Angela Merkel im letzten Monat deutlich häufiger in Zusammenhang mit der NSA-Affäre genannt als Peer Steinbrück. Nachrichten, die sich auf die beiden Kandidaten beziehen, enthalten etwa zur Hälfte Links zu externen Nachrichtenquellen und reine Nutzerkommentare.

Auf Twitter spiegelt sich also politisches Geschehen wider, nicht zuletzt Kampagnengeschehen. Aber Twitter wirkt nicht wie ein unverzerrter Spiegel. Vielmehr lösen bestimmte Ereignisse, ob online oder offline, die Kommunikation über politische Akteure in ungleichmäßiger Intensität aus. Ein Regierungsbonus ist – wie auch in der Berichterstattung traditioneller Medien – klar erkennbar. Ebenso reagieren Twitter-Nutzer nicht gleich intensiv auf alle politischen Themen. Es dürfte keine Überraschung sein, dass Skandale, Kommunikationsfehler, Kandidatenpeinlichkeiten und netzpolitische Themen besonders starke Reaktionen auslösen. Dies kann dazu führen, dass manche Themen, die in den traditionellen Medien unbeachtet bleiben, auf Twitter zu Spitzenthemen werden. Diese Themen können anschließend auch auf die Agenda traditioneller Medien und der Öffentlichkeit gelangen, wenn Journalisten über deren unerwartete Onlineresonanz berichten. So kann in manchem Fall ein Twitter-Sturm auch offline die Kampagne des einen oder anderen Kandidaten durcheinanderwirbeln. Wir werden sehen, ob der Wahlkampf 2013 weitere Beispiele dieser Art liefern wird.

Weiterführende Literatur:

  • Daniel Dayan und Elihu Katz. Media Events: The Live Broadcasting of History. Harvard University Press, Cambridge, MA, 1992.
  • Andreas Jungherr. 2013. “Tweets and Votes, a Special Relationship: The 2009 Federal Election in Germany.” Paper presented at the workshop Politics, Elections and Data – PLEAD2013, Brulingham/San Francisco, CA on 28 October.
  • Andreas Jungherr und Pascal Jürgens. 2013a. “Forecasting the Pulse: How Deviations from Regular Patterns in Online Data Can Identify Offline Phenomena.” Internet Research (Im Erscheinen).
  • Andreas Jungherr und Pascal Jürgens. 2013b. “Stuttgart’s Black Thursday on Twitter: Mapping Political Protests with Social Media Data.” In Analyzing Social Media Data and Web Networks: New Methods for Political Science, Hrsg. Rachel Gibson, Marta Cantijoch und Stephen Ward. New York, NY u.a.: Palgrave Macmillan.
  • Hans Mathias Kepplinger und Johanna Habermeier. 1995. “The Impact of Key Events on the Presentation of Reality.” European Journal of Communication 10 (3), 371-390.
  • R Core Team. 2013. R: A Language and Environment for Statistical Computing. R Foundation for Statistical Computing, Wien.
  • Hadley Wickham. ggplot2: Elegant Graphics for Data Analysis. Springer, New York, 2009.

Die Autoren
Andreas Jungherr (http://andreasjungherr.net) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Soziologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Dort forscht er über die Rolle des Internets in der politischen Kommunikation und in Wahlkämpfen. Zusammen mit Harald Schoen ist er Autor des Buches Das Internet in Wahlkämpfen: Konzepte, Wirkungen und Kampagnenfunktionen (http://www.springer.com/springer+vs/politikwissenschaft/book/978-3-658-01011-9) (2013).

Prof. Dr. Harald Schoen (http://www.uni-bamberg.de/?id=47601) lehrt Politikwissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.

 

Kanzlermodell sagt Wiederwahl von Merkel voraus

Von Thomas Gschwend und Helmut Norpoth

 
Bei der Bundestagswahl im Herbst zeichnet sich eine Wiederwahl der amtierenden Regierungskoalition ab. Die amtierende Regierungschefin konnte im Vergleich zur letzten Bundestagswahl ihre Popularität noch einmal steigern. Die aktuellen Popularitätswerte von Angela Merkel sind im Vergleich zu denen ihres Herausforderers Peer Steinbrück wirklich historisch hoch. Nur Willy Brandt 1972 im Vergleich zu Rainer Barzel sowie Konrad Adenauer 1953 im Vergleich zu Erich Ollenhauer genossen einen noch deutlicheren Ansehensvorsprung in der Geschichte der Bundesrepublik. Sofern der derzeitige Popularitätsvorsprung von Angela Merkel über den Sommer stabil bleibt, wird das ihrer CDU/CSU-FDP-Koalition eine absolute Mehrheit der Zweitstimmen am 22. September sichern.

Diese Einsicht verdanken wir einem von uns entwickelten Vorhersagemodell, das sich bei den letzten drei Bundestagswahlen bewährte. Abgeleitet von theoretischen Ansätzen zur Erklärung von Wahlverhalten haben wir ein Prognosemodell entwickelt, dass jeweils im Sommer vor den Bundestagswahlen 2002, 2005 und 2009 bereits den jeweiligen Sieger richtig vorhersagte. Ob auf einen Sieg der amtierenden Regierungskoalition gehofft werden darf, erklären wir mit dem Zusammenwirken von lang-, mittel- und kurzfristigen Einflussfaktoren. Da ist zunächst erstens der langfristige Wählerrückhalt der Regierungsparteien – gemessen als durchschnittlicher Wahlerfolg bei den vorangegangenen drei Bundestagswahlen. Hinzu kommt zweitens der mittelfristig wirksame Prozess der Abnutzung im Amt – gemessen durch die Zahl der Amtsperioden der Regierung. Drittens geht die Popularität des amtierenden Kanzlers ein, gemessen als mittlerer Wert jeweils ein und zwei Monate vor einer Bundestagswahl. Dennoch ist die historische Popularität der Kanzlerin trügerisch, da mittlerweile am rechten Spektrum eine neue Partei aussichtsreich um den Einzug in den Bundestag kämpft, die „Alternative für Deutschland“ (AfD). Anhänger dieser Partei werden sich eher für Merkel statt für Steinbrück als Kanzlerin aussprechen, ohne aber letztlich die jetzige Regierung bei den Wahlen zu unterstützen. Eine solche Situation korrigieren wir – übrigens wie bei Gerhard Schröder 2005 mit der Linken -, indem wir einfach die Unterstützungswerte dieser Parteien vom langfristigen Wählerrückhalt der jeweiligen Regierungsparteien abziehen. Auf solche Wähler kann sich die Regierungskoalition wahrlich nicht verlassen. Mit Hilfe statistischer Analyseverfahren können wir schließlich das Zusammenwirken dieser drei Faktoren und deren Gewichtung für die Stimmabgabe zu Gunsten einer Regierungskoalition äußerst genau bestimmen.

Bis auf den Wert der Kanzlerunterstützung kurz vor der Wahl liegen alle benötigten Modellwerte bereits vor. Es ist jedoch noch nicht möglich, schon heute eine exakte Prognose für den Ausgang der Bundestagswahl im Herbst zu erstellen. Die kann es nach der Logik unseres Modells erst Mitte August geben. Allerdings können wir auf Grund hypothetischer Popularitätswerte der Bundeskanzlerin, die sie kurz vor der Wahl im Vergleich zu ihrem Herausforderer genießen könnte, schon heute sehen welches Ergebnis unser Modell dann vorhersagen würde.

Nach den letzten veröffentlichten Politbarometern vom Juli, bereinigt um die Unentschlossenen, liegt die Zustimmungsrate für Merkel bei 68 Prozent. Bliebe es dabei, würde unser Prognosemodell komfortable 49,7 Prozent für das schwarz-gelbe Lager vorhersagen. Damit wird es zu einer Wiederwahl der von Merkel geführten CDU/CSU-FDP-Koalition nach der Wahl im September kommen.

 

 

Die Webseiten der Parteien für die Bundestagswahl: Weiterhin fast unsichtbar in Google-Ergebnislisten

Von Andreas Jungherr, David J. Knepper und Harald Schoen

In Wahlkämpfen geht es für Parteien und Kandidaten auch darum, ihre Inhalte und Positionen zu politischen Themen auch solchen Bürgern nahezubringen, die sich nicht gezielt parteipolitischen Informationsangeboten aussetzen wollen. Ein Weg, dieses Ziel zu erreichen, besteht darin, Inhalte im Informationsraum möglichst gut sichtbar zu präsentieren. Damit das gelingen kann, gilt es für Parteien, ihre Internetseiten so zu programmieren und inhaltlich zu gestalten, dass sie für Suchmaschinen wie Google leicht verständlich sind. Warum ist das wichtig? Suchmaschinen, und besonders Google, sind entscheidende Treiber der Besucherzahlen von Webseiten. Auch in Zeiten in denen Besucher zunehmend auf Sozialen Netzwerkplattformen auf Webseiten und neue Inhalte im Internet aufmerksam werden, ist Google noch immer der wichtigste Weg, auf dem Internetnutzer auf Webseiten stoßen. Gerade in dem Jahr einer Bundestagswahl ist es also für Parteien entscheidend, prominent in den Google-Ergebnisseiten zu politisch relevanten Suchbegriffen (z.B. „Bundestagswahl“, „Wahlkampf“ oder „Energiewende“) aufzutauchen.

Bereits 2011 haben wir die Sichtbarkeit der Internetseiten politischer Parteien anlässlich der Landtagswahlkämpfe in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern untersucht (http://sichtbarkeitsreport.de). Unser Fazit damals war, dass die Parteien bei populären Suchanfragen auf Google kaum sichtbar waren und nur dann in Trefferlisten prominent erschienen, wenn Nutzer nach Parteinamen oder den Namen von Spitzenkandidaten suchten. Dagegen blieben Parteien bei allgemeinen Suchanfragen (z.B. „Wahlkampf“) oder politischen Themen praktisch unsichtbar. Gilt dieser Befund wenige Monate vor der Bundestagswahl 2013 noch immer, oder haben die Parteien im Bund ihre Internetangebote wahlkampffit gemacht? Die hier in der Folge dargestellten Ergebnisse basieren auf Daten des SEO-Tool Xovi und wurden am 12. Mai 2013 erhoben.

Sichtbarkeit von Parteiwebseiten zu politischen Suchbegriffen
Sucht man nach dem Begriff „Bundestagswahl“ auf Google, so stößt man auf den ersten Plätzen der Ergebnisseiten auf Wikipedia und Webseiten von Behörden und Medien. Auf Platz 30, und damit erst auf der dritten Google-Ergebnisseite, findet sich die erste Seite einer Partei, der Piratenpartei. Einige Plätze weiter hinten finden sich Seiten einiger Landesverbände der SPD und der Grünen. Internetangebote der CDU oder der FDP sucht man unter den ersten 120 Treffern vergeblich. Dieses relative Desinteresse der Parteien an dem Suchbegriff „Bundestagswahl“ wird von Internetnutzern nicht geteilt. Das Google Keyword-Tool schätzt gegenwärtig, dass monatlich 8.100 mal nach diesem Begriff gesucht wird.

Ein ähnliches Bild zeigt sich, wenn man die populären Treffer zu dem Begriff „Energiewende“ untersucht. Auch hier finden sich unter den ersten Treffern Wikipedia und Webseiten von Behörden und Medien. Zusätzlich sind Webseiten von Firmen und NGOs sehr präsent, die offensichtlich stark daran interessiert sind, ihre Sicht auf die Energiewende und das weitere Vorgehen in diesem Politikfeld vorzustellen. Die einzige Bundespartei, der es mit ihrer Webseite gelingt, unter den 95 populärsten Treffern aufgeführt zu werden, ist Bündnis 90/Die Grünen, deren Seite man zum Zeitpunkt der Datenerhebung auf Platz 53 der Ergebnisliste findet. Andere Parteien sucht man vergeblich. Auch dieser Begriff ist laut Google für Nutzer interessant. Für „Energiewende“ schätzt das Google Keyword-Tool 18.100 monatliche Anfragen.

Die Entwicklung der Sichtbarkeit von Parteiwebseiten im Vergleich
Diese wenigen exemplarischen Befunde zeigen, dass die Bundesparteien mit ihren Internetseiten bisher nicht besonders erfolgreich versuchen, im Informationsraum Internet mit ihren Informationsangeboten sichtbar zu werden. Dies zeigt auch ein Blick auf den „Online Value Index“ (OVI) der Firma Xovi. Dieser Index erfasst die die Sichtbarkeit von Webseiten in Google-Ergebnissen. Entscheidend für hohe OVI-Werte sind die Gesamtzahl der Stichworte, zu denen eine Webseite geführt wird, und die relative Bedeutung dieser Stichworte im Suchverhalten von Google-Nutzern. Vordere Plätze in den Ergebnislisten zu häufig mit Google gesuchten Begriffen führen also zu einem höheren OVI-Wert.

google

Betrachtet man die Entwicklung der Indexwerte für die Webseiten der Bundesparteien im Jahr 2013, so zeichnen sich einige klare Muster ab (siehe Abbildung). Die meisten Parteien bleiben über den Jahresverlauf in ihrer Sichtbarkeit relativ stabil. Das gilt zum Beispiel für die Webseiten der Piraten, der Linken, der Grünen und der FDP. Die Webseite der SPD zeigt hingegen einen deutlichen Aufwärtstrend, der darauf hindeutet, dass die SPD mit ihrem Internetangebot im Jahresverlauf zunehmend sichtbarer geworden ist. Die Webseite der CDU erlebte hingegen zwei schwere Einbrüche in ihrer Sichtbarkeit, so dass sich ihr Indexwert seit Jahresbeginn praktisch halbiert hat. Damit ist die CDU die einzige Partei, die laut OVI seit Beginn des Jahres deutlich an Sichtbarkeit eingebüßt hat. Der Einbruch in der jüngsten Vergangenheit fällt zeitlich direkt mit dem Relaunch der CDU-Webseite für den kommenden Wahlkampf zusammen. Hier getroffene Entscheidungen in Bezug auf Design, Struktur und Programmierung sowie begleitende technische Maßnahmen beim Relaunch der Internetseite scheinen sich also unmittelbar negativ auf die Sichtbarkeit der Website bei der Google-Suche ausgewirkt zu haben.

Die unterschiedlichen Entwicklungen von SPD- und CDU-Webseiten deuten auf Gründe für Unterschiede in der Sichtbarkeit hin. Die SPD setzt mit ihrer Webseite gezielt auf textliche Inhalte, die häufig aktualisiert werden und die aktuelle Bezüge zur Tagespolitik und politischen Akteuren aufweisen. Die Partei veröffentlicht so nicht nur ihre Pressemitteilungen, sondern bietet weiterführende und vertiefende Informationen zu politischen Themen. Dieser redaktionelle Aufwand wird mit einer stetig steigenden Sichtbarkeit auf Google belohnt. Die CDU hingegen setzt deutlich stärker auf die Darstellung von audio-visuellen Inhalten und veröffentlicht eher kurze Texte. Allein der Vergleich der Startseiten der beiden Internetangebote zeigt diese unterschiedliche Schwerpunktsetzung. Die stetig sinkende Sichtbarkeit von cdu.de steht hiermit (neben weiteren technischen Ursachen) wahrscheinlich in Zusammenhang.

Parteiwebseiten sind quasi unsichtbar in Google-Ergebnislisten
Trotz dieser Unterschiede in der Sichtbarkeit der Parteien sollte man nicht vergessen, dass alle Parteien im Vergleich zu anderen politisch relevanten Webseiten quasi unsichtbar bleiben. Zum Vergleich: im März 2013 erreichte die Webseite der Piratenpartei den höchsten Indexwert für eine Webseite politischer Parteien in der von uns betrachteten Zeitspanne. Dieser Wert lag bei 35,3. Er liegt deutlich niedriger als der aktuelle Index-Wert von Spiegel Online, der 10.092,3 beträgt. Wenn es also Unterschiede in der Sichtbarkeit der Internetangebote politischer Parteien gibt, so dürfen diese nicht den Blick darauf verstellen, dass die Webseiten aller Parteien im Vergleich zu anderen politischen Angebote im Netz in den Ergebnislisten von Google praktisch unsichtbar sind.

Die hier vorgestellten Ergebnisse zeigen, dass die Parteien in Deutschland weiterhin im Informationsraum Internet wenig sichtbar sind. Um auf Internetangebote von Parteien zu stoßen, müssen interessierte Nutzer nach Parteinamen oder den Namen von Spitzenkandidaten suchen. Suchanfragen zu politisch relevanten Stichworten, die nicht direkt mit Partei- oder Kandidatennamen verbunden sind (z.B. „Bundestagswahl“ oder „Energiewende“), führen über Google hingegen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zu den Webseiten politischer Parteien. Damit verschenken deutsche Parteien eine wichtige unterstützende Funktion des Internets im Wahlkampf. Einige der Ergebnisse deuten darauf hin, dass Parteien mit Entscheidungen hinsichtlich Konzept, technischer Gestaltung, Design und redaktioneller Betreuung der Webseiten die Sichtbarkeit ihrer Webseiten beeinflussen können. Bis zur heißen Phase des Wahlkampfs haben die Kampagnenmacher der Parteien noch ein wenig Zeit, dieses Potential zu nutzen. Damit ist nicht gesagt, dass sie die Möglichkeiten nutzen werden. Ob und wie sie es tun, dürfte unter anderem davon abhängen, wie ernst die Verantwortlichen die Sichtbarkeit ihrer Webseiten im Internet nehmen.

Literatur:
Andreas Jungherr, David J. Ludwigs und Harald Schoen. 2011. Sichtbarkeitsreport: Wie sichtbar sind die Webseiten von politischen Parteien für Suchmaschinen? http://sichtbarkeitsreport.de

Andreas Jungherr und Harald Schoen. 2013. Das Internet in Wahlkämpfen: Konzepte, Wirkungen und Kampagnenfunktionen. Wiesbaden: Springer VS. http://www.springer.com/springer+vs/politikwissenschaft/book/978-3-658-01011-9

Die Autoren:
Andreas Jungherr ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Soziologie der Universität Bamberg (http://andreasjungherr.net). Dort forscht er über die Rolle des Internets in der politischen Kommunikation. Zusammen mit Harald Schoen ist er Autor des Buches Das Internet in Wahlkämpfen: Konzepte, Wirkungen und Kampagnenfunktionen.

David J. Knepper ist Geschäftsführer der Agentur NEOLOX (www.neolox.de) für Beratung und Entwicklung digitaler Kommunikation

Prof. Dr. Harald Schoen lehrt Politikwissenschaft an der Universität Bamberg.

 

Erkenntnisse aus Davos

Von Torsten Oltmanns

Derzeit findet in Davos das Jahrestreffen des World Economic Forum statt. Traditionell richten sich die Augen der Weltöffentlichkeit auf dieses Zusammenkommen von Vertretern aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und den Medien. Die hier diskutierten Herausforderungen und Lösungsansätze werden in den kommenden Monaten die globale Agenda prägen. Einige der wichtigsten Botschaften bisher sind:

1. Europa hat das Schlimmste hinter sich – so der generelle Konsens in Davos. Das Lob dafür teilen sich Angela Merkel und Christine Lagarde (Stichwort: „Leadership“), die Regierungschefs der Südländer und Irlands („harte Arbeit“) und Mario Draghi („Risikobereitschaft“).

2. Auch wenn die Teilnehmer also eine gewisse Ruhe ausstrahlen, kreisen die meisten Gespräche noch immer um die Krise – was lief falsch, was wurde repariert, was ist noch zu tun. Viele ahnen, dass es „nach der Krise“ nicht weiter geht, wie „vor der Krise“. Aber wie die neue Normalität beschaffen sein wird, dazu gibt es bislang wenige Beiträge.

3. Wer in Davos nach vorne dachte, der dachte zumeist über Wachstum nach. Die Aussichten für China und die USA werden von den meisten Rednern und Teilnehmern als gut bewertet – damit lastet die Aufmerksamkeit der Davoser erneut auf Europa. Dieses bleibt nicht nur im Urteil von David Cameron hinter seinen Möglichkeiten und Wettbewerbern zurück, es droht damit auch zum Hemmschuh eines nachhaltigen Aufschwungs zu werden. Einige Experten warnten daher vor einem Jahrzehnt des langsamen Wachstums.

4. Die wichtigste Herausforderung an Europa ist die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit. Darin waren sich Ökonomen und Politiker – allen voran Angela Merkel – einig. Die Kanzlerin will die Schwächen und Barrieren auf den Märkten Land für Land identifizieren und das Ausräumen dieser Schwächen zum Gegenstand eines weiteren Pakts machen. Davos forderte außerdem die Stärkung der Innovationskraft und eine bessere Mobilität der Fachkräfte in der EU.

5. Ein weiteres Mal stand Europa am Donnerstag der Woche im Focus, als David Cameron auf Angela Merkel traf. Camerons Vorstoß einer Volksabstimmung über den Verbleib in der EU wurde als Beispiel kurzfristiger und kurzsichtiger Taktik eingeordnet. Die Idee schaffe Unsicherheit und sei damit geeignet, die britische Erholung zu verzögern. Allerdings hatte der Regierungschef viele Davoser hinter sich, als er die Leistungsfähigkeit Europas in Frage stellte.

6. Der freie Verkehr von Waren und Dienstleistungen ist sicher ein Hebel, um das Wirtschaftswachstum zu fördern. Allerdings zeichnete sich hier in Davos ein Kurswechsel ab: Die Ära multinationaler Ansätze sei gescheitert, hieß es, nun breche jene der bilateralen Verträge an. Wie zum Beweis besiegelten China und die Schweiz ihr neues Abkommen während dieser Woche.

7. Ein weiteres „Buzz-Word“ in Davos: Re-Sourcing. Bei Arbeitskosten, die nur noch 10 Prozent über denen Chinas liegen, avancieren die USA zum neuen Produktionsstandort der Wahl. Viele US-Unternehmen bereiten die Rückkehr bereits vor, europäische Unternehmen diskutieren die Verlegung in die USA.

8. Ein wichtiger Motor des Re-Sourcing sind die Energiekosten. Während die USA offenbar planen, die neuen technischen Möglichkeiten voll auszuschöpfen und niedrige Energiepreise zu garantieren, haben deutsche Unternehmen erneut Kritik an der schnellen Energiewende verlauten lassen – hier würden mühsam erworbene Wettbewerbsvorteile geopfert.

9. Viele Teilnehmer empfinden einen Mangel an Gästen aus den USA, China und Indien – nicht nur auf der Spitzen- sondern auf allen Ebenen. Damit einher geht die Frage, ob das World Economic Forum seinen globalen Anspruch auf Dauer behalten können werde.

10. Bei einem Thema wurde dieser globale Anspruch allerdings von allen geteilt und bekräftigt: Frauen brauchen gleichberechtigte Teilhabe an allen Bereichen des Lebens und bessere Chancen auf Gleichstellung im Beruf. Soviel Einigkeit war selten. An konkreten Schritten allerdings fehlt es derzeit noch.

 

Dr. Torsten Oltmanns ist Ökonom und Journalist, heute Partner und Director Global Marketing & Communications bei Roland Berger Strategy Consultants. Als Honorarprofessor lehrt er an der Universitaet Innsbruck, ausserdem ist er Visiting Fellow der Oxford University. Seine Beobachtungen aus Davos finden Sie hier.

 

Wahlrecht mit Restrisiko

Von Christian Hesse

Am vergangenen Montag fand im Innenausschuss des Bundestages eine Anhörung von Experten zum Wahlrecht statt. Der favorisierte Gesetzentwurf, auf den man sich fraktionsübergreifend (mit Ausnahme Der Linken) geeinigt hatte, ist eine Kombination aus Überbleibseln des alten Wahlrechts und dem früheren SPD-Vorschlag. Dieses Vier-Fraktionen-Modell (4F-Modell) sieht eine Kompensation von Überhangmandaten durch Ausgleichssitze vor.

Eine Analyse des Wahlrechts ist generell anspruchsvoll, weil dafür sowohl staatsrechtlicher und politikwissenschaftlicher als auch mathematischer Sachverstand nötig ist. Zwar ist das Wahlrecht keine Relativitätstheorie, doch braucht man immerhin so viel quantitative Kompetenz, dass eine nur juristische Beurteilung unvollständig bleibt und zu Fehldiagnosen führen kann. Das wurde beim letzten Wahlrechtsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht deutlich und spiegelt sich in dessen Urteil wieder.

Bei der Experten-Anhörung wurde das 4F-Modell als im Wesentlichen verfassungsfest beurteilt. Einige Experten konzentrierten sich darauf, primär die positiven Eigenschaften des Entwurfs herauszuarbeiten. Das dürfte den Gesetzgeber in dieser kritischen Zeit ohne gültiges Wahlrecht gefreut haben, war seine Ausgangssituation wegen immer detaillierterer Vorgaben aus Karlsruhe doch überaus kompliziert.

Das 4F-Modell hat aber Licht- und Schattenseiten. Ausgesprochen positiv ist zu werten, dass alle Wahlkreissieger in den Bundestag einziehen und dass der Proporz der Parteien nach Zweitstimmen sichergestellt ist. Positiv ist auch zu sehen, dass sich föderale Verzerrungen in Grenzen halten. Bis auf kleinere handwerkliche Mängel sind diese Aspekte gut realisiert.

Negativ zu werten ist die starke Variabilität der Bundestagsgröße. Sie besitzt eine Eigenschaft, die mathematisch als sensible Abhängigkeit vom Input bezeichnet wird. Mathematiker haben diese Eigenschaft als eine Voraussetzung für die Entstehung von mathematischem Chaos identifiziert. Wenn man in bestimmten Konstellationen ein wenig am Input wackelt (= kleine Änderungen an den Stimmenzahlen vornimmt), so ändert sich der Output erheblich (= werden große Änderungen bei der Bundestagsgröße ausgelöst).

Beispiele sind schnell zur Hand, etwa für das Bundestags-Wahlergebnis von 2009: Hätte Die Linke in Hamburg nur 8000 Stimmen mehr erhalten, dann würde sich, bliebe alles andere gleich, unter dem 4F-Modell die Hausgröße von 671 auf 666 Sitze reduzieren. Das ist eine 50-fache, zudem gegenläufige Hebelwirkung. Sie kann sich natürlich auch in die umgekehrte Richtung auswirken. Diese und andere Verstärkungsmechanismen führen dazu, dass bei Simulationen von realistischen Wahlergebnissen die Modelle mit Ausgleichssitzen für Überhangmandate nicht selten zu Bundestagsgrößen von um die 800 Mandaten führen.

Ein zweiter bedenklicher Punkt ist das negative Stimmgewicht. Ganz klassisch bezeichnet es die Paradoxie, dass eine Partei für hypothetisch mehr errungene Zweitstimmen weniger Sitze im Bundestag bekäme, oder umgekehrt. Das Bundesverfassungsgericht drückt es im letzten Wahlrechts-Urteil begriffserweiternd so aus: Die Zahl der Mandate einer Partei darf nicht erwartungswidrig mit der Stimmenzahl für diese Partei oder für eine konkurrierende Partei korrelieren. Dabei ist es für das Vorliegen des Tatbestandes unerheblich, ob er durch Überhangmandate, Ausgleichssitze oder Rundungen verursacht wird.

Auch das 4F-Modell lässt negative Stimmgewichte zu: Verfolgt man die Auswirkungen der 8000 zusätzlichen Stimmen für Die Linke in Hamburg, so ergibt sich unter dem 4F-Modell für diese Partei auf Bundesebene ein Mandatsverlust. Dieses von mir schon im Dezember in die Diskussion eingebrachte Beispiel spielte auch bei der Anhörung im Innenausschuss eine Rolle. Es ist nicht angemessen, den im Beispiel beschriebenen Fall als nur dem negativen Stimmgewicht ähnlich umzudeklarieren oder ihn formal-juristisch (aber quantitativ nicht überzeugend) als gutartig umzudeuten.

Angesichts dieses Beispiels ist die verbreitete Meinung überraschend, das 4F-Model sei frei von negativem Stimmgewicht. Weiter gehende Analysen zeigen sogar, dass dieser Effekt nicht nur in seltenen Ausnahmefällen auftritt. Allerdings könnten nur aufwendige Simulationen letztlich die Größenordnung der Wahrscheinlichkeit dieses Effekts ermitteln. Auch hinsichtlich negativer Stimmgewichte ist der Gesetzentwurf damit noch risikobehaftet.

Was bleibt als Fazit? Zu begrüßen ist, dass sich fast alle Bundestagsfraktionen auf ein Wahlrecht geeinigt haben. Positiv ist auch, dass bei den maßgeblichen Staatsrechtlern der Entwurf auf überwiegende Zustimmung trifft. Aus meiner Sicht kann es aber nur ein Übergangswahlrecht sein, das wegen der angesprochenen Punkte noch Korrekturbedarf aufweist.

 

Weitere Literatur:

Hesse, Christian (2012): Gutachten zum neuen Bundeswahlrecht, BGBl 2011 Teil I S. 2313.

 

Christian Hesse ist Professor für Mathematische Stochastik im Fachbereich Mathematik der Universität Stuttgart und zur Zeit Gastprofessor in den USA. Beim Wahlrechtsverfahren im Sommer 2012 hatte ihn das Bundesverfassungsgericht als Sachverständigen hinzugezogen.

 

 

Grundsatzprogramm? Keine Ahnung!

Von Lenz Jacobsen

Das jüngste Drama, oder besser: das jüngste Kammerspiel aus dem so oft absurden Innenleben der Piratenpartei dauerte 74 Minuten und spielte im Wahlkreis Zollernalb-Sigmaringen. Dort, zwischen Stuttgart und Bodensee, trafen sich jüngst eine Handvoll Piraten, darunter drei stimmberechtigte Mitglieder, um ihren Direktkandidaten für die Bundestagswahl 2013 zu bestimmen. Das Problem nur: So richtig geeignete Bewerber für das Amt hatten sie nicht. Da war Kurt Kreitschmann, 60 Jahre alt, seit 40 Jahren verheiratet, 4 Kinder. Und Erwin Phillipzig, der aus Berlin kommt und seit 1998 in Rottenburg wohnt. Politische Konzepte, klare Positionen oder auch nur Interesse an den Grundsätzen der eigenen Partei haben die beiden nicht, wie die anschließende Befragung durch ihre Mit-Piraten zeigte.

Was sie denn für Alleinerziehende tun wollen? Für die sollte es etwas anderes als Hartz IV geben, sagt Kreitschmann. Und Phillipzig ergänzt, sie müssten prinzipiell besser unterstützt werden. Absurd wird es, als er auf die Frage, was denn aus seiner Sicht die Kernthemen der Piraten seien, antwortet: „Ich habe mich bisher noch nicht sonderlich mit dem Programm beschäftigt.“

Weiter geht es mit der Blamage: Was halten die beiden vom Bedingungslosen Grundeinkommen? „Ich halte dieses Prinzip für fragwürdig. Man sollte eher die Löhne der Arbeit angleichen“, sagt Kreitschmann. „Schwierig zu sagen“, erklärt Philippzig. Und wie steht es mit der Vorratsdatenspeicherung, einem der Themen, das die Piraten erst groß gemacht hat? „Dazu habe ich mich nicht genug informiert“, sagt der eine, „Man muss nicht alles speichern“, der andere. Zur Netzneutralität erklären sie: „Ich bin nicht viel am PC und bin eigentlich immer skeptisch bei Datenaustausch“ und „Ich bin selten im Internet, überlege aber prinzipiell zweimal bevor ich einen Anhang öffne“. Irgendwann reicht es einer Piratin namens Lisa, sie fragt die beiden: Welche Themen aus dem Grundsatzprogramm kannst du aufzählen? Und was antworten die Kandidaten, die sich immerhin als Piraten-Vertreter für das höchste deutsche Parlament bewerben, unisono? „Nichts.“

Das kleine Baden-Württemberger Drama zeigt, wie sehr die Piratenpartei selbst von ihrem Aufstieg überfordert ist. Es scheint einfach nicht genug fähige Kandidaten für die vielen neuen Posten zu geben. Doch anstatt sich das einzugestehen und konsequenterweise auf einen Direktkandidaten zu verzichten, der ja sowieso keine realistische Chance hat, gewählt zu werden, ziehen die Piraten die Sache einfach durch: Am Ende der Sitzung wählen die drei akkreditierten Mitglieder mit zwei zu eins Stimmen Kurt Kreitschmann zu ihrem Bundestagskandidaten.

Bei der Piratenpartei ist das Protokoll der Sitzung übrigens mittlerweile in der Kategorie Popcorn abgespeichert. Darein gehören alle Seiten, die „für empfehlenswert heiter bis überschwänglich ausgelassen befunden wurden“. Der Schriftführer ist von all dem nur noch genervt: „Wer auch immer das Protokoll auf Satire gestellt hat: NEIN ES IST WIRKLICH DAS OFFIZIELLE PROTOKOLL“, twittert er, und: „Ich muss jetzt als Schriftführer rechtfertigen, warum Kandidaten doof und Wähler gewählt. Vielen Dank, das hebt meine allgemeine Laune.“

Anmerkung: In einer früheren Version war der Schriftführer versehentlich als Versammlungsleiter bezeichnet worden. Das ist nun korrigiert. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.