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Twitter-Shitstorm verdrängt die inhaltlichen Themen des GOP-Parteitags

von Ines Mergel

Der gerade zu Ende gegangene Parteitag der Republikaner in den USA zeigt: Twitter-Lawinen sind unaufhaltbar. Jeder noch so kleine Fehltritt eines Redners endet in einem Mem, das die Internetgemeinde begeistert.

Gleich zu Beginn des GOP-Parteitages fiel auf, dass sich Twitter.com mehr und mehr zu einem Medienunternehmen entwickelt hat, das tief in den Wahlkampf involviert ist. Der Hashtag #GOP2012 war auf allen offiziellen Flaggen des Tampa-Stadions platziert, unübersehbar und direkt nutzbar für jeden Teilnehmer mit einem Smartphone. #GOP2012 wurde sehr schnell zum „trending topic“ in den USA. Die Reden während des Parteitags beginnen und die Bevölkerung „tweetet“ während Romneys erstem Auftritt. Twitter zählt über 14.000 Tweets: Sechsmal so viele wie während des gesamten GOP-Parteitags in 2008. Mit ihrer vereinten Intelligenz nehmen Twitter-Nutzer in sekundenschnelle jede Redewendung auseinander, checken und gegenchecken jede Behauptung und posten schnell den Gegenbeweis für jede plumpe Lüge der Kandidaten, die sich dann wie ein Feuersturm rasend schnell im Netz verbreitet.

Besonders die Rede von Clint Eastwood wird von der Twitter-Gemeinde aufs Korn genommen und mit Hilfe des Hashtags #eastwooding in einem online Feuersturm lächerlich gemacht. Die Twitterparodie „Invisible Obama“ entsteht und zeigt, dass das Einreden auf einen leeren Stuhl – wie von Eastwood schauspielerisch dargestellt – nicht gut ankommt. Innerhalb weniger Minuten hat der Account mehrere zehntausend Follower hinter sich vereinigt, die bereitwillig Scherze auf Kosten des Stuhls verteilen. Hunderte mit Hilfe von Photoshop veränderte Versionen des leeren Stuhls kursieren im Internet. Jede Late-Night-Show geht auf die Varianten ein. Auch das Obama-Camp ist schnell und postet eine brillante Gegendarstellung mit der Unterschrift: „Dieser Stuhl ist bereits besetzt“.

Quelle: Twitter.com/BarackObama

Das Online-Fiasko ist sofort messbar: Mit dem Twitter-Index werden die Gefühlswelt der politisch interessierten Nutzer in Zusammenarbeit mit der Tageszeitung USAToday.com gemessen und die Stimmungslage visuell auf einer Skala von 1-100 dargestellt. Obwohl es wenige Informationen darüber gibt, wie gemessen wird, werden die resultierenden Zahlen laut Adam Sharp, Twitters Direktor für “Government News and Social Innovation” der Gallup-Umfrage-Qualität gleichgesetzt. Twindex misst, ob die Online-Gemeinde positiv oder negativ über die beiden Kandidaten tweetet. Alle Werte über 50 sind ein Indikator für eine positive Stimmungslage. Wurde Romney noch am ersten Parteitag mit einem Wert von 60 positiv besprochen, hat sich die Stimmung während des „Eastwooding“-Skandals schnell umgekehrt und sein Twindex fiel auf 35:

Quelle: election.twitter.com (31. August 2012)

Das gesamte Twitter-Archiv wird so in einer visuell ansprechenden Form in der oben gezeigten Graphik analysiert. Jedoch ist unklar, wie verlässlich diese Repräsentation ist. Twitter erläutert nicht, ob Twitterbots mit einbezogen werden, die zu tausenden automatisch Romney’s Twitterprofil folgen, oder ob ironisch gemeinte Tweets als positiv bewertet werden. Zur Zeit nutzen laut einer Pew Umfrage ca. 8% der Amerikaner, die online aktiv sind, Twitter. Sind also ebenso viele Schwarze, Latinos und Asiatisch-stämmige Amerikaner auf Twitter vertreten wie in der wahlberechtigten Bevölkerung? Diese Fragen bleiben offen und erst am Wahlabend wird klar werden, inwieweit die Online-Gemeinde die tatsächliche Stimmung der Wähler wiederspiegelt.

Die Lehren die aus dem GOP-Parteitag gezogen werden können: Twitter verstärkt jedes Wahlkampffiasko. Jeder Fehltritt wird unaufhaltbar in Online-Lawinen verteilt.

 

Dr. Ines Mergel ist Professorin für Verwaltungswissenschaften an der Maxwell School of Citizenship and Public Affairs (USA) und twittert über die Nutzung von sozialen Medien.

 

Das neue Wahlrecht: Kompliziert, aber fair?

Von Christian Hesse

Wer sich für Wahlrecht interessiert, weiß, dass eine äußerst wichtige Entscheidung ansteht, die uns alle angeht. Am 25. Juli wird in Karlsruhe ein höchstrichterliches Urteil dazu verkündet. Worum geht`s?

Ende letzten Jahres wurde von der Regierungskoalition gegen die Stimmen der Opposition ein neues Wahlrecht für die Wahl zum Bundestag verabschiedet. Das alte musste überarbeitet werden, nachdem das Bundesverfassungsgericht es für verfassungswidrig erklärt hatte. Grund dafür war die Besonderheit, dass unter bestimmten Umständen mehr Zweitstimmen für eine Partei dazu führen konnten, dass diese Partei seltsamerweise einen Sitz verliert. Der mit diesen Stimmen zum Ausdruck gebrachte Wählerwille würde also ins krasse Gegenteil verkehrt. Man spricht von Negativem Stimmgewicht. Als bei der Bundestagswahl 2005 in einem Wahlkreis nachgewählt werden musste, trat dieser Störfall tatsächlich auf.

Am neuen Wahlrecht erhitzen sich die Gemüter. SPD und Grüne haben in Karlsruhe dagegen geklagt. Auch in der Presse steht es fast einhellig in der Kritik. Von „einem unverschämten Anschlag auf die repräsentative Demokratie“ (Volker Beck) war sogar die Rede.

Am 5. Juni hat das Verfassungsgericht zum Wahlrecht verhandelt. Als vom Gericht geladener Sachverständiger habe ich daran teilgenommen. Wie man sich vorstellen kann, gehört ein Auftritt in dieser Manege nicht zu den Standardsituationen im Leben eines Mathematikers. Die Verhandlung war ein Ringen um die Deutungshoheit im wahlrechtlichen Raum zwischen Befürwortern und Kritikern des neuen Wahlrechts. Beide Seiten hatten als Verfahrensvertreter renommierte Staatsrechtler und viel Polit-Prominenz aufgeboten. Am Ende eines sehr langen Verhandlungstages hatten die Befürworter gegen die Kritiker einen klaren inhaltlichen Punktsieg erzielt. Während der Verhandlung gab es viele präzise Fragen der Verfassungsrichter an die Verfahrensbeteiligten. Aus ihnen konnte eine Tendenz des Gerichts jedoch nicht abgeleitet werden.

Wie funktioniert das neue Wahlrecht?

Das System aus Erst- und Zweitstimme wird beibehalten. Neu ist, dass zuerst für jedes Land nach der Wahlbeteiligung errechnet wird, wie viele Abgeordnete von dort in den Bundestag ziehen. Anschließend wird nach dem Verhältnis der Zweitstimmen in jedem Land festgelegt, wie viele dieser Abgeordneten welcher Partei angehören. Zusätzlich eingeführt wurde eine Korrektur von Rundungsverlusten. Nach wie vor zieht jeder Wahlkreissieger ins Parlament ein. So können auch im neuen Wahlrecht Überhangmandate auftreten. Diese entstehen dann, wenn eine Partei mehr Sitze durch Wahlkreisgewinner erringt als ihr nach Zweitstimmen eigentlich zustehen. Kurzum: Das neue Wahlrecht ist kompliziert. Aber auch das alte war nicht einfach.

Welche Auswirkungen hat es?

Vom Ergebnis aus gesehen ist das neue Wahlrecht minimal-invasiv. Bei dessen Anwendung auf die letzten sechs Bundestagswahlen seit 1990, hätte die SPD insgesamt ein Plus von 3 Sitzen erzielt, die CDU Plus/Minus 0, die CSU Plus/Minus 0, die FDP ein Plus von 10 Sitzen, die Grünen ein Plus von 11 Sitzen, Die Linke ein Plus von 9 Sitzen. Das ist kein großer Unterschied, und dies ist als Vorteil zu werten. Denn das deutsche System aus Mehrheitswahl und Verhältniswahl stößt auf breite Zustimmung in der Bevölkerung. Es ist verfassungspolitisch bewährt, gilt überwiegend als erhaltenswert und wird in der wissenschaftlichen Literatur meist positiv beurteilt. Es ist ein Erfolgsmodell und ein großes Gut unserer politischen Kultur. Wahlrecht made in Germany hat sogar andernorts (Neuseeland) als Vorbild gedient.

Wurden monierte Mängel beseitigt?

Es ist eine Binsenweisheit unter Wahlrechtlern, dass das perfekte Modell eine Utopie ist. Gemeinhin ist es für Experten nicht schwer, an einem Wahlsystem unerwünschte Eigenschaften aufzuzeigen, doch unmöglich, ein System zu entwickeln, das ganz frei davon ist. Alle haben ihre Vor- und Nachteile. Das von der SPD favorisierte Modell verursacht eine erhebliche Aufblähung des Parlaments. Das Modell der Grünen benachteiligt Landesverbände ohne Überhangmandate.

Das Verfassungsgericht hatte übrigens nicht die Überhangmandate bemängelt. Es hatte allein das oben angesprochene Negative Stimmgewicht als verfassungswidrig eingestuft. Und es hatte zudem eine mögliche Beseitigung vorgeschlagen, die nicht an Überhangmandaten ansetzt, sondern die Bundesländer zu getrennten Wahlgebieten macht. Dieser Weg wurde beschritten.

Negative Stimmgewichte sind zwar auch im neuen Wahlrecht noch möglich. Die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens wird aber stark zurückgedrängt. Bei realitätsnah simulierten Wahlausgängen treten sie nur etwa bei jedem hundertsten Wahlergebnis auf. Kein einziger Fall von Negativem Stimmgewicht gemäß Definition des Verfassungsgerichts wäre unter dem neuen Wahlrecht bei den Bundestagswahlen 2005 und 2009 aufgetreten. Das Gericht hatte die Beseitigung dieses Defekts außerdem nur für im politischen Alltag auftretende Szenarien verlangt, nicht unbedingt für alle theoretisch möglichen Situationen. Dieser Auftrag wurde erfüllt.

Negative Stimmgewichte sind ein gegenläufiger Effekt, der sich allein auf Änderungen bei den Zweitstimmen bezieht. Daneben können im neuen Wahlrecht gegenläufige Effekte auftreten, die als Ursachen gleichzeitige Änderungen bei Erst- und Zweitstimmen voraussetzen. Alle diese Effekte können aber vom Wähler nicht für strategisches Wählen oder manipulatives Verschieben von Sitzen eingesetzt werden. Nur nach der Wahl wird feststellbar, ob und wo sich dieser Effekt durch Rundungszufälle ergeben hätte. Insgesamt wird die Bedeutung gegenläufiger Effekte von vielen Kritikern des neuen Wahlsystems bei weitem überschätzt. Nichtsdestoweniger hätte der Gesetzgeber in der eingeschlagenen Richtung noch einen kleinen Schritt weitergehen sollen, um alle gegenläufigen Effekte zu beseitigen. Das ist erreichbar, würden die Sitze auf die Bundesländer nicht nach Wahlbeteiligung, sondern nach Bevölkerung verteilt und die Rundungsverluste der Parteien nach eingebüßten Sitzbruchteilen korrigiert. In der Endabrechnung macht beides nur wenig aus.

Ist das neue Wahlrecht fair?

Wer diese Frage beantworten will ohne Überhangmandate zu erwähnen, hätte das Thema von vornherein verfehlt. Für die Opposition sind diese Mandate ein rotes Tuch. Bei der letzten Wahl gab es davon die satte Zahl von 24 und alle konnte die Union einheimsen. Das war nicht immer so. Bei den Bundestagswahlen von 1990 bis 2005 hatte die CDU zusammen genommen 26, die SPD 30 Überhangmandate bekommen. Das Verhältnis war also bis vor der letzten Wahl relativ ausgeglichen. Und diese letzte Wahl kann insofern als Sonderfall gelten, als eine der großen Volksparteien ausgesprochen schwach und eine der kleinen Parteien ausgesprochen stark war. Die weitere Entwicklung der Überhangmandate ist schwer vorherzusagen. Es gibt aber seriöse Schätzungen, dass diese bei der nächsten Wahl mehrheitlich der SPD zugute kommen werden. Jedenfalls hat die Union kein festes Abonnement auf diese Mandate.

Auch ist das neue Wahlrecht aufs Ganze gesehen für kleine Parteien weniger nachteilig als es das alte war. Ferner wirkt sich die Vergabe der Sitze an die Länder nach Wahlbeteiligung im Vergleich mit der Zuteilung nach Bevölkerung nicht negativ für die neuen Länder aus, obwohl dort typischerweise weniger Wählerinnen und Wähler zur Wahlurne gehen. Zieht man Bilanz, ist das neue Wahlrecht, trotz vorhandener Fragwürdigkeiten, ausreichend fair. Vielleicht wird es Zeit, seinen Frieden damit zu machen und Ja dazu zu sagen, wenn auch nicht Hurra.

Christian Hesse ist Professor für Mathematische Statistik am Institut für Stochastik und Anwendungen der Universität Stuttgart. Er war im Rahmen der Verhandlung des neuen Wahlrechts vor dem Bundesverfassungsgericht Gutachter für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

 

Positives zum Negativen Stimmgewicht

Von Christian Hesse

In der letzten Ausgabe des Nachrichtenmagazins Spiegel vom 26.5.2012 wird unter dem Titel „Mehr Stimmen, weniger Sitze“ das neue deutsche Wahlrecht für Bundestagswahlen thematisiert, das am 3.12.2011 in Kraft getreten ist. Dabei wird kein gutes Haar an dessen Sitzzuteilungsverfahren gelassen. Die Möglichkeit der Überhangmandate führe unter bestimmten Umständen zu „willkürlichen und widersinnigen“ Ergebnissen. Die Berichterstattung des Spiegels möchte ich hier durch meine eigene Perspektive ergänzen. Denn ich habe mich in den letzten Monaten mit den mathematischen Eigenschaften des Gesetzes beschäftigt und komme alles in allem zu einer positiven Einschätzung.

In aller Kürze noch einmal zur Historie: Das Bundesverfassungsgericht hatte mit seinem Urteil vom 3.7.2008 das seinerzeit geltende Wahlrecht zum Deutschen Bundestag in Teilen für verfassungswidrig erklärt und den Gesetzgeber verpflichtet, eine verfassungsgemäße Neuregelung vorzunehmen. Das Gericht hatte nicht die Möglichkeit des Auftretens von Überhangmandaten moniert, sondern vielmehr das Phänomen des sogenannten Negativen Stimmgewichts. Dieses Phänomen beschreibt die in einigen Sitzzuteilungsverfahren vorkommende Paradoxie, dass hypothetische Zweitstimmengewinne für eine Partei in einem Bundesland (relativ zum tatsächlichen Wahlergebnis) unter ganz bestimmten Bedingungen für diese Partei zu einem Verlust von Mandaten auf Bundesebene führen können oder umgekehrt.

Grundsätzlich muss man sich bei der Betrachtung von Wahlsystemen einen ganz zentralen Punkt bewusst machen: Ein perfektes, in jeder Hinsicht makelloses Sitzzuteilungsverfahren gibt es nicht. Bei jedem Entwurf eines Zuteilungsverfahrens sind Abwägungen hinsichtlich des Grades der Durchsetzung zentraler Wahlrechtsprinzipien (Gleichheit der Wahl, Unmittelbarkeit der Wahl) vorzunehmen. Jede Stimme soll den gleichen Wert haben und es sollen zwischen der Stimmabgabe und dem Wahlergebnis keine vermittelnden Instanzen stehen.

Das Bundesverfassungsgericht hatte dem Gesetzgeber nun aufgetragen, den Systemfehler des Negativen Stimmgewichts zu beseitigen. Allerdings nicht notwendigerweise für jede abstrakt konstruierbare Situation, sondern orientiert an in der politischen Wirklichkeit plausiblen Fallgestaltungen. Daraufhin hat der Gesetzgeber nach intensiven Diskussionen und Expertenanhörungen ein neues Wahlrecht verabschiedet, das diesen Kriterien gerecht werden soll. Was ist davon zu halten?

Zum einen ist auch das neu geltende Wahlrecht nicht vollständig frei von Eigenheiten. Damit bewirkt es Differenzierungen bei den Idealanforderungen der Verfassungsprinzipien der gleichen und unmittelbaren Wahl. Zudem lässt das neu geltende Wahlrecht die Möglichkeit des Effekts des Negativen Stimmgewichts weiterhin zu.

Allerdings ist hierbei entscheidend, dass die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten dieses Effekts im neu geltenden Wahlrecht signifikant geringer ist als im Wahlrecht alter Fassung und nur noch im Promillebereich liegt. Somit bestehen zwar theoretische Möglichkeiten des Auftretens von Negativem Stimmgewicht. Es ist jedoch angemessen, von seltenen Ausnahmefällen zu sprechen.

Die grundsätzliche Frage in der aktuellen Debatte zum neuen Wahlrecht lautet: Ist es urteilskonform im Sinne der Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 3.7.2008? Diese Frage ist mit Ja zu beantworten: Fälle von Negativem Stimmgewicht sind sehr unwahrscheinlich geworden. Das neu geltende Wahlrecht erfüllt den Regelungsauftrag des Bundesverfassungsgerichts.

Ob das neue Wahlrecht aber Bestand hat, entscheidet sich ab kommendem Dienstag: Für den 5. Juni 2012 hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts die mündliche Verhandlung über die Klagen gegen das Gesetz von SPD, Bündnis90/Die Grünen und von rund 3.000 Bürgerinnen und Bürgern angesetzt.

Christian Hesse ist Professor für Mathematische Statistik am Institut für Stochastik und Anwendungen der Universität Stuttgart. Er war im Rahmen der Verhandlung des neuen Wahlrechts vor dem Bundesverfassungsgericht Gutachter für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

 

Eurovision Union

Von Sebastian Fietkau

In seiner Schlussfolgerung vom 22. Juni 1993 legte der Europäische Rat in Kopenhagen erstmals einen Katalog von verfassungsrechtlichen Anforderungen für beitrittswillige Staaten fest. Allerdings haben die Ratsmitglieder neben wirtschaftlichen und politischen Kriterien eine entscheidende Voraussetzung nicht bedacht: Zur Aufnahme in die EU benötigte es offensichtlich mindestens eine Teilnahme am Eurovision Song Contest (#ESC). Bis zu dem an diesem Wochenende stattfindenden 57. ESC in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku wurden ausschließlich Länder in die Europäische Union aufgenommen, die vorher ihr musikalisches Talent den europäischen Zuschauern unter Beweis gestellt haben.* Gleiches gilt für alle aktuell anerkannten Beitrittskandidaten und selbst nur bei gestellten Aufnahmeanträgen lag eine vorherige Teilnahme am Liederwettstreit vor.

Die ursprüngliche Zielsetzung des ESC ähnelt dabei in gewisser Weise sogar der europäischen Vision von Monet & Co. Vor dem Hintergrund eines politischen zersplitterten und technisch zurückgeworfenen Europas gab es bereits 1955 erste Pläne der European Broadcasting Union (EBU) für eine gesamteuropäische Musikveranstaltung, welche zeitgleich in alle Teilnahmeländer übertragen werden sollte. Ohne jegliche politische Botschaften sollte der Kontinent friedlich vereint in der Musik ein Land samt Komponist und Interpreten zum Sieger wählen. Europa sollte einander wieder zuhören.
Im Startfeld des ersten Grand Prix Eurovision de la Chanson im Jahr 1956 konkurrierten alle zukünftigen Mitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (plus die Schweiz) schon zwei Jahre vor Inkrafttreten des EWG-Vertrags. Noch in den 1960er Jahren zogen sämtliche Länder der späteren EG-Norderweiterung von 1973 und der EFTA-Erweiterung von 1995 nach. Die bis dato diktatorisch regierten Länder Griechenland, Spanien und Portugal nahmen noch vor ihrer friedlichen Demokratisierung und den beiden Süderweiterungen in den 1980er am ESC teil. Und auch für die meisten Staaten des ehemaligen Ostblocks begann die musikalische vor der politischen Karriere im Europa der frühen 1990er Jahren und somit deutlich vor den späteren Ost-Erweiterungen von 2004, bzw. 2007.

Während die EU sechs weiteren Staaten einen offiziellen Kandidatenstatus eingeräumt hat, welche allesamt dem europäischen Publikum bereits vorstellig wurden, kommt die berechtigte Frage auf, wo die Vision über die Ausdehnung von Europa bei den Machern des Eurovision Song Contest aufhört. Klar zu Europa zählt für sie beispielsweise der gesamte westliche Balkan. Teilweise noch zu Kriegszeiten standen einige ehemalige jugoslawische Republiken auf der ESC-Bühne; dies alles vor dem Europäischen Rat in Thessaloniki 2003, bei dem die Balkanstaaten als potenzielle Beitrittskandidaten bestätigt wurden. Ebenso ist die Türkei seit 1975 ein fester Bestandteil des Teilnehmerfeldes; 36 Jahre vor dem offiziellen EU-Kandidatenstatus. Und selbst bei der gescheiterten EU-Bewerbung Marokkos von 1987 wurde sieben Jahre zuvor ein Beitrag zum Grand Prix entsandt. Tatsächlich wurde 1950 bei der Grenzziehung des teilnahmeberechtigten EBU-Raums fast der gesamte Mittlere Osten und nordafrikanische Raum – als teilweise noch kolonial verwaltete Gebiete europäischer Staaten – in die Planung miteinbezogen. Nach dem Arabischen Frühling scheint es also die besten Voraussetzungen für eine zukünftige Annäherung dieser Staaten an die EU zu geben. Potentielle Mitglieder könnten schon bald eine der entscheidenden Beitrittskriterien erfüllen und aus den europäischen Hauptstädten gäbe es dann vielleicht bald zu hören: Libya twelve point – la Lybie douze points.

Sebastian Fietkau ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung.

* Allein die Tschechische Republik debütierte 2007 im Eurovision Song Contest erst drei Jahre nach Aufnahme in die EU.

 

Was machen Piraten eigentlich im Parlament?

Von Jochen Müller und Christian Stecker

Nach Berlin, dem Saarland und Schleswig-Holstein ziehen die Piraten nun in den Düsseldorfer Landtag ein. Angesichts dieser Erfolge stellt sich die Frage, was Piraten eigentlich im Parlament machen. Bringen Sie frischen Wind und neue Themen oder führt die, von ihren Kritikern monierte, fehlende programmatische Breite zu einer geringen parlamentarischen Aktivität? Anders gefragt: Können Piraten nur twittern oder können sie auch parlamentarische Opposition?

Um diese Frage zu beantworten, werfen wir einen Blick auf die bisherigen Aktivitäten der Piraten im Berliner Abgeordnetenhaus, in dem sie seit dem 27. Oktober 2011 vertreten sind. Schauen wir uns zunächst nackte Zahlen an. Die Abbildung zeigt, wie häufig die Fraktionen seit Beginn der Legislaturperiode verschiedene parlamentarische Instrumente genutzt haben. Dabei handelt es sich zum einen um die verschiedenen Formen von Anfragen als klassisches Kontrollrecht gegenüber dem Berliner Senat und zum anderen um Anträge, in denen das Parlament oder der Senat zu einer bestimmten Handlung, z. B. einem Gesetz, aufgefordert werden.

Parlamentarische Aktivitäten im Berliner Abgeordnetenhaus: Prozentualer Anteil nach Fraktionen

Hinweis: orange = Die Piraten, grün = Bündnis 90/Die Grünen, lila = Die Linke, schwarz = CDU, rot = SPD; die Zahl in Klammern gibt jeweils die Gesamtzahl der jeweiligen Kategorie an

Es zeigt sich, dass die Piraten vergleichsweise zurückhaltend auftreten. Insbesondere bei den kleinen Anfragen und Anträgen fallen sie deutlich hinter die beiden anderen Oppositionsparteien Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke zurück. (Die ähnlich geringe Aktivität von CDU und SPD erklärt sich in ihrem Status als Regierungsfraktion.)

Betrachtet man die Inhalte der einzelnen Initiativen, zeigt sich zudem, dass die Piraten zu vielen Themen keine Positionen in die parlamentarische Debatte einbringen, sondern sich stark auf ihre Kernthemen Netzpolitik und Transparenz konzentrieren. So setzen sich von den elf Anträgen, für die die Piraten alleine verantwortlich zeichnen, fünf für einen besseren Datenschutz ein – insbesondere gegenüber staatlichen Ermittlungsbehörden (z. B. die Ablehnung des sogenannten Staatstrojaners). Weitere drei Anträge fordern die Offenlegung von Verträgen zwischen Landesregierung und Privatunternehmen. Ein Antrag verlangt, dass Wowereit und seine Kabinettkollegen künftig öffentlich tagen und beschließen. Demgegenüber decken die kleinen Anfragen etwas mehr Themen ab. Bei fünf von 19 kleinen Anfragen geht es zwar ebenso um Aspekte des Datenschutzes, es finden sich aber auch Anfragen zur Sozial- (Unterkunftskosten von Leistungsbeziehern), Bildungs- (Reform der Lehrerbildung) und Innenpolitik (Schutzpolizei-Laufbahnverordnung). Insgesamt bringen Piraten tatsächlich neue Themen ins Parlament. Für Bürger, denen neben Netzpolitik und Transparenz noch andere Themenfelder wichtig sind, dürfte dies allerdings noch etwas wenig sein.

Außer den Inhalten muss eine Betrachtung der parlamentarischen Aktivitäten der Piraten auch deren Form berücksichtigen. Neben der zuletzt diskutierten Verwendung von Fäkalsprache im Parlament und der Entfachung damit artverwandter Stürme heben sich die Piraten auch in der Sprache ihrer parlamentarischen Initiativen von den etablierten Parteien ab: Mitten im kalten Berliner Winter bewiesen sie ein Herz für das Wachpersonal des Abgeordnetenhauses und forderten die Aufstellung eines Wachhäuschens vor dem Eingang des Parlaments. In der Begründung von glattgeschliffenen Politikerdeutsch keine Spur: „Es ist saukalt und entgegen der Bekundungen seitens des jetzigen Parlamentspräsidenten ist noch nichts passiert.“

Christian Stecker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft der Universität Potsdam.

Jochen Müller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Oldenburg.

 

Eine „kleine Bundestagswahl“? Die programmatische Ausrichtung der Parteien in Nordrhein-Westfalen im Vergleich

Marc Debus und Jochen Müller
Die heutige Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen wird in den Medien häufig als „kleine Bundestagswahl“ bezeichnet, unter anderem weil NRW als dem einwohnerstärksten deutschen Bundesland eine große Bedeutung zukommt. Doch haben die Parteien an Rhein und Ruhr eine eigene Tradition: So gilt beispielsweise der dortige Landesverband der Union als stark wohlfahrtsstaatlich orientiert, was sich auch darin widerspiegelt, dass der Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), Karl-Josef Laumann, Fraktionsvorsitzender der CDU im Düsseldorfer Landtag ist. Es könnte sich demnach lohnen, die Positionen der Parteien in NRW mit denen der Bundesparteien zu vergleichen. Dies könnte auch Informationen zu den Chancen möglicher Koalitionen liefern, die auf Bundesebene als de facto ausgeschlossen gelten.

Auf der Basis vollständig computerisierter Inhaltsanalysen der Wahlprogramme der Parteien zu den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen 2010 und 2012 sowie zur Bundestagswahl 2009 lassen sich die inhaltlichen Ausrichtungen der Parteien zwischen NRW und Bundesebene wie auch im Zeitvergleich kontrastieren.

Die folgende Abbildung, in der die Positionen auf einer wirtschafts- und einer gesellschaftspolitischen „Links-Rechts-Achse“ abgebildet sind, zeigt, dass insbesondere bei Union und FDP Unterschiede in der programmatischen Akzentsetzung zwischen NRW und Bund bestehen (die Positionen der Parteien zur Bundestagswahl 2009 sind in helleren Farben wiedergegeben als diejenigen zur den Landtagswahlen 2010 und 2012). Die CDU in NRW ist bei den Landtagswahlen 2010 in wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Fragen „linker“ und progressiver als die Bundespartei. Zur Wahl 2012 ist die nordrhein-westfälische Union jedoch wieder etwas nach rechts in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen gerückt. Die FDP an Rhein und Ruhr ist 2010 wie auch 2012 deutlich weniger wirtschaftsliberal ausgerichtet als es die Freien Demokraten zur Bundestagswahl 2009 waren.

Die Linke in NRW ist 2012 deutlich in die Mitte der wirtschafts- und sozialpolitischen Links-Rechts-Achse gerückt. Bei Grünen und insbesondere SPD ist der Unterschied zwischen Bundes- und Landesebene hingegen deutlich geringer. Die nordrhein-westfälischen Piraten verorten sich – wie auch in anderen Bundesländern – in einem bislang von keiner Partei besetzen Teil des wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Politikraums, was ein Erklärungsfaktor ihres Erfolgs sein könnte.

Die moderatere Ausrichtung der NRW-FDP könnte, wie im Blog-Beitrag von Thorsten Faas thematisiert, ein Fenster für eine sozialliberale Zusammenarbeit im Düsseldorfer Landtag leichter öffnen als auf Bundesebene. Dennoch ist die Distanz zwischen SPD und FDP in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zur Landtagswahl 2012 deutlich größer als zwischen Sozialdemokraten und Union oder insbesondere zwischen den aktuellen Koalitionsparteien SPD und Bündnis 90/Grüne. Sollte sich also eine Mehrheit für Rot-Grün bei der Wahl in NRW ergeben, dann ist ein Bündnis beider Parteien aufgrund der geringen inhaltlichen Distanz sicher. Sollte es jedoch nicht für SPD und Grüne zu einer Mehrheit der Landtagsmandate reichen, dann müsste zur Bildung einer Ampelkoalition mit den Liberalen weniger programmatische Unterschiede überbrückt werden als auf Bundesebene – vorausgesetzt, die FDP möchte ein solchen deutliches koalitionspolitisches Signal senden.

 

Koalitionsprognose: Auf dem Weg zur dänischen Ampel in Schleswig-Holstein

Von Marc Debus und Jochen Müller

In Schleswig-Holstein deuten die Zeichen in Richtung Ampel – allerdings mit einem blauen statt einem gelben Licht, also einer Koalition zwischen Grünen, Sozialdemokraten und dem Südschleswigschen Wählerverband (SSW), der Partei der dänischen Minderheit.

Dies ergibt sich nicht nur aus den programmatischen Positionen der Landesparteien im nördlichsten Bundesland der Republik, sondern auch unter Berücksichtigung weiterer Schlüsselfaktoren wie den Sitzanteilen der Parteien im Kieler Landesparlament, der parteipolitischen Übereinstimmung mit der Mehrheitskonstellation im Bundestag und den von den schleswig-holsteinischen Parteien vorab geäußerten Koalitionspräferenzen.

Betrachtet man in einem ersten Schritt nur die programmatischen Positionen der Landesparteien, die sich auf Basis einer computergestützten Inhaltsanalyse der Wahlprogramme ergeben, werden die Vorzüge einer „dänischen Ampel“ für die beteiligten Parteien deutlich: Die Positionen von SPD, Grünen und SSW lagen zur Landtagswahl 2012 wie auch schon 2009 dicht beieinander, so dass – im Gegensatz zu einer gewöhnlichen Ampelkoalition oder einer Jamaika-Koalition – nur wenig inhaltliche Hürden zwischen den Parteien bei möglichen Koalitionsverhandlungen zu überwinden wären.

Abbildung 1: Die Positionen der schleswig-holsteinischen Parteien 2009 und 2012 in wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Fragen

Berücksichtigt man neben der programmatischen Ausrichtung weitere Faktoren, die aus theoretischer Perspektive die Regierungsbildung in den deutschen Bundesländern beeinflussen sollten, so bleibt der Vorteil für Rot-Grün-Blau bestehen. Auf der Basis eines Datensatzes, der alle Regierungsbildungssituationen in den deutschen Bundesländern seit 1990 umfasst, lassen sich mit statistischen Verfahren die Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten verschiedener Koalitionsszenarien in Schleswig-Holstein im Mai 2012 berechnen. Dabei sind neben den Sitzanteilen der potentiellen Koalitionen insbesondere die vor der Wahl getätigten Aussagen der Parteien , denen zufolge die Piraten generell nicht als Bündnispartner zur Verfügung stehen und die CDU mit dem SSW nicht koalieren will, in die Überlegungen miteinzubeziehen. Berücksichtigt man diese Faktoren, dann liegt die Chance auf Bildung einer Regierungskoalition aus SPD, Grünen und dem Südschleswigschen Wählverband bei knapp 36%. Darauf folgen eine CDU/SPD-Koalition mit einer Wahrscheinlichkeit von 23%, ein Jamaika-Bündnis mit rund 13% und eine Ampelkoalition mit 10%. Die Chancen für die Bildung einer rot-grünen Minderheitsregierung liegen diesem statistischen Modell zufolge bei ca. 7%, die einer schwarz-gelben Minderheitsregierung bei 6%. Diesen Daten zufolge spricht einiges für die „dänische Ampel“ – wenn nicht am Ende wieder ein „Heidemörder“ auftaucht.

 

Öder Twitter-Wahlkampf in NRW

Von unserem Autor in NRW, Lenz Jacobsen:

Erst eine Minute lief das TV-Duell von Hannelore Kraft und Norbert Röttgen am Montagabend, da verkündete die Junge Union in Nordrhein-Westfalen schon der ganzen Welt, wer in ihren Augen bereits gewonnen hatte: „Röttgen jetzt schon Sieger beim TV-Duell!“, twitterte sie um 20 Uhr und 16 Minuten, die Anmoderation war kaum beendet. Als Beobachter wusste man nicht, ob man gähnen oder schmunzeln sollte über so viel selbstgefällige Eigen-PR.

Der NRW-Wahlkampf findet, wie so ziemlich jeder andere Aspekt des öffentlichen Lebens, natürlich auch in den sozialen Medien statt. Doch besonders bei den Hauptereignissen wie eben dem TV-Duell der beiden Spitzenkandidaten wird deutlich, dass viele Parteipolitiker die Kanäle falsch, unbedarft oder langweilig nutzen.

Wer unter dem etablierten Suchbegriff „nrw12“ oder „tvduell“ verfolgen wollte, wie die Twitter-Nutzer den Schlagabtausch von Kraft und Röttgen begleiteten, ging unter in einer Flut von Partei-Eigenlob und ermüdenden Grabenkämpfen. „Röttgen wird nervös und erzählt Unwahrheiten“, freute sich da der SPD-Blogger Christian Soeder, und der Landeschef der Jungen Union, Sven Volmering, meinte beobachtet zu haben: „Frau Kraft reagiert sehr schnippisch und genervt. Nicht souverän.“

So strickten beide Seiten an ihrer Version der Geschichte. Für den interessierten Zuschauer war das denkbar uninteressant. Zusätzlich twitterten die Lager im Sekundentakt Zitate aus dem Duell mit, versehen mit faden Beifallsbekundungen wie „Bravo!“ oder „BAM!“.

Dass im Internet theoretisch unendlich viel Platz ist, verleitet viele Politiker und Parteianhänger leider dazu, nicht darauf zu achten, ob ihre einzelnen Beiträge wirklich interessant sind. Die sozialen Medien werden so zu nur noch einem weiteren Kanal, durch den man seine Partei-PR pusten kann.

Das ist aus zwei Gründen bedauerlich: Zum einen gehen darin die Meinungsäußerungen „normaler“ Zuschauer ohne Parteiamt unter, die vielleicht ein repräsentativeres und spannenderes Stimmungsbild zum Duell hätten zeigen können. Zum anderen verstärken viele twitternde Politiker im Wahlkampf so eher den Frust der Bürger über politische Rituale und Formulierungsschablonen, anstatt ihn abzubauen. Dabei könnten genau dazu die sozialen Medien eigentlich ein Mittel sein.

 

Die vergessene Linkspartei

Von unserem Autor in NRW, Lenz Jacobsen:

„Klartext! Kein Gelaber! Ihre Fragen an die Politiker!“ rief der Sprecher, und dann kam Christian Lindner ins Bild, Spitzenkandidat der FDP für die Wahl in Nordrhein-Westfalen. Er war der Erste, der sich am gestrigen Montag im Regionalprogramm von RTL in der Reihe „10 Minuten Klartext“ den Fragen der Zuschauer stellen musste.

Oder besser gesagt: durfte. Denn genau solche Plattformen braucht Lindner im Wahlkampf, um Wähler für sich zu gewinnen. Im Laufe der Woche dürfen noch die Spitzenkandidaten von SPD, CDU, Grünen und auch den Piraten auf Sendung. Fünf werktägliche Sendungen, fünf Parteien: Das RTL-Programmschema und die politische Landschaft in NRW scheinen wunderbar zueinander zu passen.

Wäre da nicht noch eine Partei: Die Linke. Denn auch sie kämpft um Sitze im Düsseldorfer Parlament, doch ihre Spitzenkandidatin Katharina Schwabedissen darf nicht zu RTL. „Ach, wir haben uns daran ja schon fast gewöhnt“, sagt Angela Bankert aus der Pressestelle der Partei. Immer wieder wird die Linke bei solchen Parteien-Runden ignoriert, vergessen, ausgeschlossen.

So hat im „Hyperland“-Blog des ZDF kürzlich der Düsseldorfer Blogger Thomas Knüwer die Onlineaktivitäten der West-Parteien verglichen. Die Linken waren nicht dabei. Warum, will der Autor nicht öffentlich erklären.

Erstaunlich oft fallen die Linken durch die intransparenten Raster, die sich Redaktionen für ihre Berichterstattung ausdenken. So vergleicht die Rheinische Post in ihrer heutigen Ausgabe die Positionen der Parteien zur Finanzpolitik. Neben SPD, CDU und Grünen kommt auch die FDP zu Wort, die Linken aber nicht – obwohl beide Parteien bisher im Landtag vertreten waren, und beide um den Wiedereinzug kämpfen müssen.

„Manchmal gehen wir dem nach und beschweren uns“, sagt Linken-Sprecherin Bankert, „aber oft lassen wir es auch gut sein, denn sonst würden wir hier zu nichts anderem mehr kommen.“

Nun, im RTL-Fall, haben sie aber doch eine Pressemitteilung herausgegeben. Der Sender verstoße gegen „journalistische Spielregeln“, heißt es darin. RTL erlaube sich hier in einem wichtigen Format eine „Vorauswahl in der politischen Willensbildung der Bürgerinnen und Bürger“, die völlig inakzeptabel sei.

Warum sie gerade die Linken nicht eingeladen haben, will der Sender auch auf Nachfrage von ZEIT ONLINE nicht erklären: „Die Auswahl der in den fünf Folgen dieser Wochenserie vertretenen Parteien erfolgt durch die Redaktion“, erklärt ein Sprecher nur.

Vielleicht hat die Redaktion des Privatsenders also gar nichts gegen die Linken, vielleicht findet sie sie einfach nur langweiliger als die anderen Parteien.

 

Die Angst der Grünen vor den Piraten

Von unserem Autor in NRW, Malte Buhse:

Claudia Roth lässt sich eigentlich nicht so schnell zum Schweigen bringen. Die Bundesvorsitzende der Grünen, bekennende Schnellrednerin und rhetorische Allzweckwaffe ihrer Partei liebt die direkte Konfrontation mit dem politischen Gegner und ist daher in Talkshows seit Jahren gern gesehener Gast.

Doch plötzlich will Roth nicht mehr reden: Eine für morgen geplante Podiumsdiskussion mit dem Spitzenkandidaten der Piratenpartei in Nordrhein-Westfalen, Joachim Paul, sagte sie kurzfristig ab.

Grund sind die neusten Umfragezahlen, die die Piraten im bevölkerungsreichsten Bundesland erstmals vor den Grünen sehen. „Die Rahmenbedingungen haben sich durch den Höhenflug der Piraten verändert“, sagte der Pressesprecher von Claudia Roth dem Handelsblatt, das die Podiumsdiskussion veranstaltet.

Plötzlich nur noch vierte Kraft, aus dem Stand überholt von den politischen Frischlingen? Die Grünen sehen ihre Felle davon schwimmen, in einem für sie schwierigen Wahlkampf: Fukushima ist vorbei, jung und anders sind jetzt die Piraten. Die Grünen schalten daher auf stur. Statt inhaltlicher Auseinandersetzung wollen sie das Piraten-Problem aussitzen.

Doch Roths Rückzieher ist nicht nur mutlos – er geht auch nach hinten los. Die Angst der Grünen lässt die Piraten noch größer erscheinen. Wer eine Regierungspartei derart in Hektik versetzt, wird für Protestwähler erst recht interessant. Außerdem verpasst Roth eine gute Gelegenheit die Piraten zu entzaubern. Denn der nordrhein-westfälische Oberpirat Joachim Paul mag ein guter Redner sein, im politischen Geschäft ist er ein absoluter Neuling.

Und das frisch zusammengezimmerte Wahlprogramm der Piratenpartei bietet inhaltlich viele Angriffspunkte mit den teuren Forderungen nach kostenlosem Nahverkehr und geschenkten Laptops für jeden Schüler. Wo das Geld für all die Wohltaten herkommen soll, bleibt vage bis völlig unklar.

Auch sollte es auf dem Podium um die Energiewende, Umweltschutz und Bildung gehen – alles grüne Kernkompetenzen. Die Talkshow-gestählte Claudia Roth hätte für die Grünen viel Terrain zurückerobern können. Auch mit Blick auf die Bundestagswahl im kommenden Jahr, wenn die Piraten die Grünen erneut ärgern werden.

Was noch viel wichtiger ist: In der Diskussion mit den Piraten hätten die Grünen die Wähler kennen lernen können, die ihnen gerade abhanden kommen. Denn eines ist klar: Einmal im Landtag lassen sich die Piraten nur noch schwer aussitzen.

Update:

Claudia Roth hat auf ihrer Internetseite inzwischen eine Stellungnahme veröffentlicht, in der sie der Aussage widerspricht, den Piraten aus dem Weg gehen zu wollen. Sie hätte die Podiumsdiskussion in Düsseldorf abgesagt, weil sie am selben Tag an einem Doppel-Interview mit dem Bundesvorsitzenenden der Piraten, Sebastian Nerz, teilnehmen will. Die Grünen hätten als Ersatz für Roth die Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke nach Düsseldorf schicken wollen, sagt Roths Pressesprecher Jens Althoff. Das lehnte das Handelsblatt ab, weil Lemke „weitgehend unbekannt sei“, wie eine Sprecherin des Verlags sagt. Die Grünen sind empört: „Es ist aus unserer Sicht schlicht unverschämt, wenn das Handelsblatt meint, dass weder der grüne Landesvorsitzende aus NRW noch die Politische Geschäftsführerin keine angemessene Diskussionspartner für den Spitzenkandidaten der Piraten seien“.