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Hannelore Kraft und die traurige Dogge

Von unserem Autor in NRW, Lenz Jacobsen:

Etwas schief sitzt Hannelore Kraft auf der Lehne eines roten Sessels, im Hintergrund kniet eine ältere Frau im Engelskostüm auf einem undefinierbaren braun-grauen Boden, betend. Das ganze Bild wirkt merkwürdig verzogen, die Perspektive stimmt hinten und vorne nicht. Darüber steht in bemüht lockerem Schrifttyp: „Wenn beten alleine nicht mehr hilft…“ Und weiter unten: „Hannelore Kraft. Für ein gerechtes NRW.“

Das ist einer von 306 Plakatentwürfen, die SPD-Anhänger sich für den anstehenden Wahlkampf in Nordrhein Westfalen ausgedacht haben. Ihre Partei hatte sie dazu aufgerufen, eines der Motive soll tausendfach im Land plakatiert werden. Denn, wie Generalsekretär Michael Groschek im kumpelhaften Erklärvideo zur Aktion sagt: „Gut gemachte Plakate sind das Salz in der Wahlkampf-Suppe.“

Ob diese Aktion die „Wahlkampf-Suppe“ der SPD aber wirklich leckerer machen wird, ist mehr als fraglich. Denn viele der Vorschläge sind entweder fade oder unfreiwillig komisch. Wie eben jenes merkwürdige und schlecht zusammengebastelte Engels-Motiv. Oder wie ein weiterer, minimalistischer Entwurf, der leicht vorwurfsvoll fordert: „Einfach mal was Gutes tun: Wähl SPD!

Es geht noch skuriler: Manche SPD-Fans wollen wohl am liebsten Bilder aus ihrer privaten Fotosammlung auf Tausenden Plakaten im Bundesland sehen – egal, wie gut diese Fotos sind, und ob sie irgendeinen Zusammenhang mit der Partei oder überhaupt mit Politik haben. Da steht dann ein Anzugträger mit orangenem Schutzhelm vor mysteriösen riesigen Stein-Röhren (oder ist es Beton? Sind es überhaupt Röhren?) und lächelt etwas schief in die Kamera. Das vielleicht irritierendste Motiv von allen: Eine Bulldogge mit gesenktem Kopf, von hinten fotografiert.

In der Düsseldorfer SPD-Zentrale wird man froh sein, am Ende wohl keines dieser Motive wirklich drucken zu müssen. Denn am heutigen Freitag wählt eine Jury der Partei die fünf besten Vorschläge aus, und erst unter diesen fünf gibt es dann am Wochenende eine offene Abstimmung im Internet.

Auf die Gewinnerin oder den Gewinner wartet neben der landesweiten Plakatierung auch ein persönlicher Sonderpreis: Ein Abendessen mit Hannelore Kraft.

Vielleicht hilft beten ja doch.

 

Regieren mit wechselnden Mehrheiten – ein erfolgreiches Düsseldorfer Experiment?

von Jochen Müller und Christian Stecker

Im beginnenden Wahlkampfgetöse bezeichnete CDU-Landeschef Norbert Röttgen die rot-grüne Minderheitsregierung in NRW unter Hannelore Kraft und Sylvia Löhrmann als „krachend“ gescheitertes Experiment. In der Tat endet das Düsseldorfer Experiment, da Rot-Grün (wenn auch nur um eine Stimme) zuletzt eine Grundbedingung des Regierens fehlte: eine parlamentarische Mehrheit für den eigenen Haushalt.

Blickt man jedoch auf die übrige Regierungszeit zurück, kann Rot-Grün eine durchaus erfolgreiche Bilanz vorweisen: Von den 68 Gesetzen, die die Regierung in den Düsseldorfer Landtag einbrachte (darunter zehn gemeinsam mit Oppositionsfraktionen), erreichten über die Hälfte eine Mehrheit. Nur das Haushaltsgesetz 2012 scheiterte – an der Ablehnung eines Einzelplanes. Weitere elf Gesetze können durch Auflösung des Landtages nicht weiter beraten werden, zwei wurden zurückgezogen.

Abbildung: Gesetzgebungskoalitionen mit der Rot-Grünen Minderheitsregierung im Düsseldorfer Landtag

(schwarz=CDU, gelb=FDP, lila=Linkspartei)

Wie kamen diese Gesetze zustande, obwohl Rot-Grün eine Stimme zur absoluten Mehrheit fehlte? Die Abbildung zeigt einen wichtigen Grund: Die im rot-grünen Koalitionsvertrag ausgesprochene Einladung an alle politischen Kräfte wurde von allen Fraktionen in unterschiedlichem Maße angenommen. Kein fester Tolerierungspartner sondern „Patchwork-Koalitionen“ sicherten die Mehrheiten für das Gesetzgebungsprogramm. Erleichtert wurde dies durch den Umstand, dass sich nur eine Oppositionsfraktion im Düsseldorfer Landtag enthalten musste, um Rot-Grün eine einfache Mehrheit zu verschaffen. Das Balkendiagramm fasst die Zusammensetzung und unterschiedlichen Häufigkeiten dieser „Patchwork-Koalitionen“ zusammen. Zunächst beeindruckt, dass 25 der verabschiedeten Entwürfe, also 40% aller Gesetze, von einer Allparteienkoalition aus SPD, Grünen, CDU, Linkspartei und FDP unterstützt wurden. Trotz aller Gegensätze gelang es den Fraktionen also in vielen – wenn auch vorwiegend technischen Entscheidungen, einen breiten Konsens zu finden. Die Linkspartei war bei weiteren 20 Gesetzen durch Enthaltung oder Zustimmung alleiniger Unterstützer der rot-grünen Minderheitsregierung – unter anderem bei der Abschaffung der Studiengebühren. Viermal konnten Kraft und Löhrmann allein auf die CDU bauen, darunter beim Kompromiss zur Fortführung eines mehrgliedrigen Schulsystems in Nordrhein-Westfalen. Eine „Gesetzgebungs-Ampel“ aus SPD, Grünen und FDP leuchtete nur ein einziges Mal und zwar beim Gesetz zur kommunalen Haushaltskonsolidierung. Allerdings unterstützte die FDP die Landesregierung insgesamt weitere neun Mal, fünf Mal gemeinsam mit der CDU und vier Mal in seltener Eintracht mit der Linkspartei.

Bei der Suche nach inhaltlichen Kompromissen und flexiblen Mehrheiten erwies sich das Düsseldorfer Experiment also als durchaus erfolgreich. Zu diesem Erfolg haben sowohl Oppositions- als auch Regierungsfraktionen beigetragen – und auch davon profitiert. Anstatt wie bei einer Mehrheitsregierung üblich für die Dauer einer Legislaturperiode von der Entscheidungsfindung ausgeschlossen zu sein, konnten die Oppositionsfraktionen von Fall zu Fall inhaltliche Zugeständnisse gegen ihre Unterstützung tauschen. Durch diesen Tausch – Alltag unter skandinavischen Minderheitsregierungen und in Deutschland zu Unrecht verpönt – dürfte die Landespolitik bei einigen Gesetzen auch näher an die Interessen der Wähler von Linkspartei sowie CDU und FDP gerückt sein.

Nach den jüngsten Umfragen wird Rot-Grün im neugewählten Landtag über eine satte parlamentarische Mehrheit verfügen. Dann wird die Gesetzgebungsarbeit in NRW vermutlich in das altbekannte Spiel von Regierung gegen Opposition zurückfallen. Gut möglich also, dass sich die versammelte Opposition mit der Ablehnung des Haushalts 2012 für mögliche drei weitere Jahre um jeglichen nennenswerten Einfluss auf die Landespolitik in NRW gebracht hat.

Christian Stecker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft der Universität Potsdam.

Jochen Müller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung der Universität Mannheim.

Zum Weiterlesen über Minderheitsregierungen sowie Regierungs- und Gesetzgebungskoalitionen:

Bale, Tim und Torbjörn Bergman. 2006. Captives no longer, but servants still? Contract Parliamentarism and the new minority governance in Sweden and New Zealand. Government and Opposition 41: 422-449.
Ganghof, Steffen. 2010. Review Article: Democratic Inclusiveness: A Reinterpretation of Lijphart’s Patterns of Democracy. British Journal of Political Science 40: 679-692

 

Wie sichtbar sind die Webseiten politischer Parteien für Suchmaschinen?

Von Andreas Jungherr, David J. Ludwigs und Harald Schoen
Webseiten sind für politische Parteien die Online-Werkzeuge mit der größten potentiellen Reichweite. Von den Möglichkeiten, die das Internet bietet, ist die Suche nach Inhalten eine der am häufigsten genutzten. Die aktuelle ARD/ZDF-Onlinestudie geht davon aus, dass 83% der 51,7 Millionen deutschen Onlinenutzer ab 14 Jahren regelmäßig Suchmaschinen nutzen, um nach Informationen, Nachrichten oder Waren zu suchen (van Eimeren, Frees 2011). Suchmaschinen sind dabei die Filter, durch die Suchende das Informationsangebot im Internet wahrnehmen. Auf welcher Position eine Webseite nach einer Suchanfrage in der Ergebnisliste einer populären Suchmaschine genannt wird, entscheidet daher wesentlich darüber, ob interessierte Nutzer auf diese Seite stoßen. Dies macht es für Webseitenbetreiber so wichtig, ihre Webseite für Suchmaschinen verständlich aufzubereiten.

Auch für Anbieter politischer Webseiten ist die Positionierung ihrer Seiten in Ergebnislisten von Suchmaschinen zunehmend wichtig. In einer Untersuchung zur politischen Netznutzung in Deutschland fand das Allensbacher Institut heraus, dass 26% der Deutschen über 16 Jahre das Internet mehrmals wöchentlich nutzten, um politische Informationen zu suchen. Weitere 17% gaben an, das Internet einmal oder mehrmals monatlich zu verwenden, um sich über Politik zu informieren (Köcher, Bruttel 2011). Damit wird das Internet für keine politische Aktivität so häufig genutzt wie für die Suche nach politischen Informationen. Menschen suchen also im Internet gezielt nach Informationen zu tagesaktuellen Themen, Kandidaten, Parteien oder Wahlen. Diese Art der Internetnutzung ist für Parteien und Politiker interessant, da sie bei geschickter Gestaltung und redaktioneller Betreuung ihrer Webseiten interessierte Suchende ungefiltert mit ihren Informationen und Botschaften erreichen können. Dazu müssen politische Webseiten aber so konzipiert sein, dass sie von Suchmaschinen als relevante Ergebnisse zu politischen Suchbegriffen angezeigt werden.

Zusammen mit den Firmen Neolox und Searchmetrics gingen wir der Frage nach, wie Parteiseiten von der Suchmaschine Google bewertet werden und zu welchen Suchbegriffen Parteiwebseiten an prominenter Stelle in den Google-Ergebnislisten angezeigt werden. Im Einzelnen untersuchten wir die Webseiten von Parteien im Bund sowie von Parteien in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen, also in den Bundesländern, in denen im September 2011 Wahlen stattfinden.

Die Ergebnisse zeigen, dass die Webseiten der Bundesparteien prominent in den Google-Ergebnislisten zu Suchanfragen nach Parteinamen und Spitzenpolitikern platziert sind. Wird nach tagesaktuellen oder allgemein politischen Begriffen gesucht, erscheinen die Webseiten der Bundesparteien nur vereinzelt und unsystematisch in den Ergebnislisten. Einzige Ausnahme ist die Piratenpartei.

Die Webseiten der Landesverbände von Parteien erscheinen nur prominent in Ergebnislisten, wenn gezielt nach Parteinamen und Kandidaten gesucht wird. Bei Suchanfragen zu tagesaktuellen und allgemein politischen Begriffen bleiben die Webseiten der von uns untersuchten Landesverbände weitgehend unsichtbar.

Die Webseiten fast aller deutschen Parteien sind somit, sieht man von direkten Besuchen oder gezielten Suchanfragen ab, in den Google-Ergebnissen zu politischen Suchanfragen weitgehend unsichtbar. Wer also nicht von vornherein an den Informationen einer bestimmten Partei interessiert ist, wird nicht auf ihre Angebote im Netz stoßen. Dies deutet darauf hin, dass die meisten deutschen Parteien ihre Webseiten nicht gezielt darauf ausrichten, parteilich ungebundene, aber an politischen Themen interessierte Bürger anzusprechen. Damit verschenken sie ein beträchtliches Potential ihrer Internetauftritte.

Die Ergebnisse der Untersuchung werden unter http://www.sichtbarkeitsreport.de ausführlich dargestellt.

Literatur:
R. Köcher und O. Bruttel, „Tiefgreifender Wandel von Politik und Wirtschaft durch das Internet“, Institut für Demoskopie Allensbach (27. Juni 2011).
B. van Eimeren und B. Frees, „Drei von vier Deutschen im Netz – ein Ende des digitalen Grabens in Sicht?“ Media Perspektiven 7/8 (2011), 334-349.

 

Die Reform des Wahlgesetzes und das Problem des negativen Stimmgewichts und der Überhangmandate

Von Joachim Behnke
Seit dem 1. Juli verfügt die Bundesrepublik über kein Wahlgesetz mehr, nach dem ordnungsgemäß das Parlament und damit auch indirekt die Regierung gewählt werden könnte. In seinem Urteil vom 3. Juli zum sogenannten negativen Stimmgewicht erklärte das Bundesverfassungsgericht nämlich dieses als verfassungswidrig und legte dem Bundestag auf, diesen „absurden“ und „widersinnigen“ Effekt durch eine Änderung des Wahlgesetzes bis zum 30. Juni 2011 zu beseitigen. Doch der letzte der Fraktionsentwürfe, der von CDU/CSU und FDP, liegt erst seit Ende Juni überhaupt vor. Eine öffentliche Anhörung hierzu findet erst am 5. September statt. Bis zu der Verabschiedung des neuen Wahlgesetzes können keine Bundestagswahlen stattfinden, deren rechtliche Grundlagen unbestritten sind. Wir befinden uns demnach zwar nicht in einem Zustand der Regierungslosigkeit, aber doch immerhin in einem Zustand, in dem die verfassungskonforme Neuwahl einer Regierung nicht möglich ist.

Ein neues Wahlgesetz hat vor allem zwei Anforderungen zu erfüllen. Es muss einerseits dem Gerichtsurteil Rechnung tragen, indem es den Effekt des negativen Stimmgewichts beseitigt. Es muss aber außerdem versuchen, das größte und eigentliche Problem des derzeitigen Wahlgesetzes zu beseitigen, nämlich das der Überhangmandate. Überhangmandate und negatives Stimmgewicht sind zudem eng miteinander verflochten, sodass es naheliegend erscheint, die Beseitigung des einen Problems mit der gleichzeitigen des anderen zu verknüpfen.

Ein negatives Stimmgewicht liegt dann vor, wenn mehr Stimmen für eine Partei zu weniger Mandaten führen. Die CDU hatte z.B. bei der letzten Bundestagswahl aufgrund der Zweitstimmen einen Anspruch auf insgesamt 173 Sitze. Diese wurden im Rahmen der sogenannten Unterverteilung ebenfalls wieder proportional zu den Zweitstimmen auf die einzelnen Landeslisten der CDU aufgeteilt. Demnach entfielen z.B. auf die Landesliste der CDU in Schleswig-Holstein acht Mandate. Da die CDU dort jedoch neun Direktmandate gewonnen hatte, entstand dort ein Überhangmandat. Hätte die CDU in Schleswig-Holstein allerdings z.B. 5.133 Stimmen weniger erhalten, dann wäre im Rahmen der Unterverteilung ein Proporzmandat weniger in Schleswig-Holstein, dafür eines mehr in Niedersachsen angefallen. Das wegfallende Proporzmandat in Schleswig-Holstein wäre lediglich in ein Überhangmandat verwandelt worden, die Gesamtzahl der Sitze hätte sich dort daher nicht verändert. In Niedersachsen aber hätte die CDU ein weiteres Listenmandat erhalten, womit sich ihre bundesweite Gesamtsitzzahl erhöht hätte, wenn sie insgesamt weniger Zweitstimmen erhalten hätte.

Der Effekt des negativen Stimmgewichts lässt sich durch das Zusammenwirken zweier Einzeleffekte erklären. Der erste Effekt ist ein simpler Verteilungseffekt, wonach bei der proportionalen Sitzzuteilung weniger Stimmen zu weniger Sitzen, auf keinen Fall aber zu mehr Sitzen führen. Weniger Zweitstimmen in Schleswig-Holstein führen also zu weniger Proporzmandaten in diesem Land, was nur folgerichtig ist. Der zweite Effekt besteht in der Unterdeckung der Überhangmandate mit Zweitstimmen. Der Sinn des Verhältnisausgleichs, wie er durch §6 Abs. 2 und Abs. 4 des Bundeswahlgesetzes beschrieben ist, besteht ja in der Verrechnung der Direktmandate mit den Mandaten, die einer Partei in einem Bundesland aufgrund der Zweitstimmen zustehen würden. Überhangmandate kommen dann zustande, wenn die Zweitstimmen in einem Land nicht genügen, um die Mandatsansprüche, die durch die gewonnenen Direktmandate entstehen, abzugelten. Überhangmandate sind eine Art von ungedeckten Wechseln, bei der die Empfänger des Kredits an Direktmandaten nicht in der Lage sind, diese durch einen entsprechenden Preis in Zweitstimmen zu bezahlen. Wenn nun durch den Wegfall weiterer Zweitstimmen in Schleswig-Holstein ein weiteres Direktmandat ungedeckt und somit zu einem Überhangmandat wird, so ist dies nur die folgerichtige Konsequenz aus dem Umstand, solche ungedeckten Wechsel an sich zu akzeptieren.

Wer also den Effekt des negativen Stimmgewichts als „absurd“ empfindet, müsste diesen Eindruck von Absurdität zwangsläufig auf den Umstand übertragen, dass es Mandate geben kann, die nicht im Verhältnisausgleich aufgehen. Wer umgekehrt keinen Anstoß an den Überhangmandaten nimmt, müsste dann auch den Effekt des negativen Stimmgewichts in der oben beschriebenen Form als unproblematisch akzeptieren. Der oft beschworene, scheinbar so logische Zusammenhang, dass das negative Stimmgewicht zwar notwendig mit Überhangmandaten, aber eben nicht umgekehrt Überhangmandate notwendig mit dem negativen Stimmgewicht verbunden seien, ist daher nur bedingt richtig. Überhangmandate sind innerhalb des jetzigen Designs notwendigerweise mit der Möglichkeit des Auftretens des Effekts des negativen Stimmgewichts verbunden. Ob er dann tatsächlich auftritt oder nicht, hängt lediglich von den Zufälligkeiten der Reihenfolge der Sitzverteilung auf die Landeslisten ab.

Der Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 2008 hat daher insofern für Verwirrung gesorgt, dass einerseits die Ablehnung des negativen Stimmgewichts logisch auch eine Ablehnung der Überhangmandate nach sich hätte ziehen müssen, aus den obiter dicta, insbesondere den anskizzierten Lösungsvorschlägen, aber keine grundsätzliche Ablehnung der Überhangmandate erkennbar schien. Da die Überhangmandate aber die Ursache im Sinne einer notwendigen Voraussetzung für das Entstehen des negativen Stimmgewichts darstellen, scheint es nur folgerichtig, das Problem des negativen Stimmgewichts an der Wurzel, also den Überhangmandaten, zu packen. Genau dies entspricht den Vorschlägen der Grünen, der Linken und der SPD, die das negative Stimmgewicht beseitigen wollen, indem sie die Überhangmandate beseitigen, z.B. durch Kompensation mit Landeslistensitzen, wie im Vorschlag der Grünen, oder Neutralisieren, wie im Vorschlag der SPD durch Ausgleichsmandate. (Zu einer vergleichenden Darstellung der Verfahren siehe die Stellungnahme von Friedrich Pukelsheim.) Der Vorwurf des CDU-Geschäftsführers, die Oppositionsparteien verweigerten sich einem Konsens, indem sie sich auf das „sachfremde Thema Überhangmandate“ konzentrierten, muss daher wohl eher seinerseits als sachfremd betrachtet werden. Der Lösungsvorschlag von Union und FDP beschränkt sich auf die Abschaffung des negativen Stimmgewichts und möchte aus naheliegenden Gründen die Überhangmandate erhalten. Dazu sollen die Landeslisten getrennt werden. Zuerst erfolgt hier eine Berechnung der Sitzkontingente der Länder nach der Wahlbeteiligung, anschließend werden die Sitze innerhalb des Landes auf die verschiedenen Listen der Parteien verteilt. Dieser Vorschlag beseitigt allerdings nicht einmal den Effekt des negativen Stimmgewichts, sondern eröffnet ihm sogar ganz neue Betätigungsmöglichkeiten. So hätten z.B. 13.000 Wähler der Linken weniger in Bayern dazu geführt, dass die Linke ein zusätzliches Mandat in Nordrhein-Westfalen und damit auch insgesamt ein Mandat mehr gehabt hätte (Zu diesem und anderen absurden Effekten des Gesetzesentwurfs siehe ausführlicher hier). Während der Effekt des negativen Stimmgewichts im derzeitigen Wahlsystem die Abgabe der Stimme für die präferierte Partei entmutigt, kann im Vorschlag der Union und FDP sich der Entschluss eines Wählers, zur Wahl zu gehen, um seine präferierte Partei zu wählen, schon der eigenen Partei schaden.

Hinsichtlich der Überhangmandate besteht außerdem nicht nur parlamentarischer Handlungsbedarf aufgrund des Urteils von 2008. Im Urteil von 1997 erkannten selbst die damals das Urteil tragenden Richter, also diejenigen, die Überhangmandate nicht grundsätzlich als verfassungswidrig anerkennen wollten, dass, wenn Überhangmandate „regelmäßig in größerer Zahl“ anfielen, sich daraus ein „Handlungsauftrag“ an das Parlament ergeben könne, den „Grundcharakter der Verhältniswahl“ wieder herzustellen. Da die 16 Überhangmandate von 1994, die der Auslöser des damaligen Urteils waren, offensichtlich als eine solche „größere Zahl“ angesehen wurden und in vier der fünf letzten Wahlen diese oder eine noch größere Anzahl an Überhangmandaten tatsächlich aufgetreten ist, müssen die Bedingungen für das Vorliegen dieses „Handlungsauftrags“ wohl als gegeben angenommen werden. Und in einem frühen Entscheid vom 3. Juli 1957 erkannte das Bundesverfassungsgericht überdies, dass die „Verfassungsmäßigkeit“ der Überhangmandate „im Fall eines Missbrauchs angezweifelt werden“ müsste. Damit sprach das Gericht bewusste Manipulationen zum Zweck der gezielten Gewinnung von Überhangmandaten an. Aber spätestens seit der Nachwahl in Dresden bei der Bundestagswahl 2005 ist offensichtlich geworden, dass es gezielte Kampagnen zur Unterdeckung der Direktmandate mit den Zweitstimmen gab. Des Weiteren lässt sich durch Umfragedaten belegen, dass 2009 in Baden-Württemberg ein nicht unbedeutender Anteil der CDU-Anhänger mit ihrer Zweitstimme die FDP gewählt haben und somit zur Entstehung weiterer Überhangmandate beigetragen haben. Dies kann durchaus eine Art von Protestwahlverhalten gegenüber der zu „sozialdemokratisierten“ CDU unter Angela Merkel gewesen sein, es muss keine gezielte Kampagne gewesen sein, es hätte aber womöglich eine gezielte Kampagne sein können.

Sowohl sachliche als auch verfassungsrechtliche Gründe sprechen also dafür, auch und vor allem die Überhangmandate in den Fokus einer Wahlreform zu nehmen. Schließlich ist diesen auch die demokratietheoretische Gefahr inhärent, dass es durch sie sogar zu einer Umkehrung von Mehrheitsverhältnissen kommen könnte. Im Lichte der derzeitigen Umfrageergebnisse ist es zwar weniger wahrscheinlich, dass Überhangmandate Union und FDP als zusätzlicher virtueller Koalitionspartner zu einer Mehrheit verhelfen könnten, aber es wäre sehr gut vorstellbar, dass sie eine ansonsten mögliche Mehrheit von Rot-Grün verhindern würden. Eine solche Mehrheitsumkehr aber hätte mit Sicherheit verheerende Folgen für die Legitimation einer sich dann bildenden Regierung, die eine andere sein würde als die, die sich aufgrund der Stimmenmehrheiten ergeben hätte. Ohne Ausgleichsmandate hätte z.B. in Baden-Württemberg eine schwarz-gelbe Koalition trotz klarer Stimmenmehrheit von Grün-Rot weiterregieren können. Es ist nicht sonderlich schwer, sich auszumalen, was dies in der ohnehin angespannten Lage ausgelöst hätte.

Es mag sein, dass das Parlament durch das Urteil vom Juli 2008 nicht eindeutig angehalten ist, sich auch um die Lösung des Problems der Überhangmandate zu kümmern. Aber das heißt ja nun auch nicht umgekehrt, dass es dem Parlament verboten ist, sich mit den Überhangmandaten zu beschäftigen. Ein Parlament, das sich nur bei Auflagen des Verfassungsgerichts genötigt sieht, tätig zu werden, würde sich selbst überflüssig machen. Der allgemeine Handlungsauftrag an das Parlament besteht darin, aus schlechten Gesetzen wenn nicht gerade gute, so doch zumindest bessere Gesetze zu machen. Da die Überhangmandate ohne Zweifel das schwerwiegendste Problem im derzeitigen Wahlgesetz darstellen, ist eine Reform, die sich dieser Aufgabenstellung verweigert, von vorneherein zum Scheitern verurteilt und würde vorhersehbar ein Wahlgesetz auf Abruf produzieren.

Joachim Behnke ist Inhaber des Lehrstuhls für Politikwissenschaft an der Zeppelin Universität Friedrichshafen.

 

Agenda Setting und Soziale Medien – Der Fall Guttenberg(s)

von Stefan Collet

Die politische Bühne Berlins hat einen Politikstar weniger, nachdem Freiherr Karl-Theodor zu Guttenberg gestürzt ist. Gestürzt ist er dabei zunächst über das Heer der Wissenschaftler und Intellektuellen, am Ende jedoch über seine eigenen Ansprüche, über vermeintlich adelige Tugenden wie Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit – und über das Internet. Denn ohne den Dauerbeschuss über Facebook, Twitter und Guttenplag Wiki wäre es nicht in der Schnelligkeit zum Absturz des ehemaligen Verteidigungsministers gekommen. Unterschätzt hat Guttenberg aber nicht nur die Schwarmintelligenz aus der Online-Welt, sondern auch die geballte Kraft der „klassischen“ Medien, die die Kritik an die oberste Stelle ihrer Medienagenda transportiert haben.

Der Fall Guttenberg wirft wieder einmal die Frage auf, welches Potenzial die Sozialen Medien als Agenda Setter besitzen. Ein Blick auf Parallelen zu den Affären um Wikileaks oder den stark netzwerkbasierten Initiativen bei der Online-Petition gegen die Sperrung von Internetseiten mit kinderpornografischem Inhalt in Deutschland 2009 sowie der Studentenproteste „Unibrennt“ in Österreich 2009 scheint die Frage von selbst zu beantworten. Und auch bei den revolutionären Umstürzen in Nordafrika Anfang 2011 hatten Youtube und Twitter die zentrale Funktion, zusätzliche Aufmerksamkeit in der Weltöffentlichkeit zu erregen und den Protest aus der Offline-Welt auf die Straße zu tragen. All diese Fälle zeichnen sich mehr oder weniger durch einen Dreiklang aus, der notwendige Bedingung für das Agenda Setting von sozialen Netzwerken ist: eine hohe Vernetzungsdichte, hohe Spontanaktivität und die Erregung von kreisender Aufmerksamkeit (siehe dazu die Ausführungen von Peter Kruse im Deutschlandradio). Dieser Dreiklang führt zusammen genommen zu einem großen Resonanzboden in der Netzwelt.

Entscheidend ist jedoch, ob die klassischen Medien diesen Resonanzboden aufgreifen (müssen), ihn auf ihrer Medienagenda nach oben setzen und dadurch wiederum stark die Publikumsagenda (Relevanzliste politischer Themen der Bevölkerung) beeinflussen. Diese kausalen Zusammenhänge lassen sich am Awareness-Salience-Priorities-Modell von Shaw und McCombs (1977; vgl. auch Maurer 2010) veranschaulichen: Zunächst werden Rezipienten durch die Medienberichterstattung auf ein Thema aufmerksam (Awareness). Mit zunehmender Intensität der Berichterstattung steigt das Thema auch auf der Prioritätenliste in der Publikumsagenda auf und konkurriert vorerst mit anderen Themen (Salience), bis es sich von ihnen abhebt und exakt die Rangfolge der Medienagenda widerspiegelt (Priorities). Aus diesem Zusammenspiel von Medienagenda und Publikumsagenda resultiert dann ein Agenda-Setting-Effekt.

Abbildung 1: Awareness-Salience-Priorities-Modell nach Shaw und McCombs 1977 (eigene Darstellung)

Im Fall Guttenberg – und auch mehr oder weniger in den anderen oben genannten Fällen – ist genau das geschehen: Guttenplag Wiki und der offene Brief der ca. 30.000 Doktoranden an Frau Dr. Angela Merkel hätten nicht diese öffentliche Aufmerksamkeit erzielt, wenn die klassischen Medien diese beiden online-basierten Bewegungen nicht aufgesogen, nicht kanalisiert und sie dadurch nicht nach und nach auf der Publikumsagenda nach oben getrieben hätten. Hinzu kam ein Gelegenheitsfenster, das sich öffnete, da Guttenberg einerseits durch die Bundeswehraffären angezählt war und andererseits durch seinen unbedachten Umgang mit der Hauptstadtpresse diese zusätzlich gegen sich aufbrachte. Um erfolgreiches Agenda Setting aus den Sozialen Medien heraus betreiben zu können, genügt es also nicht, nur auf die Masse der User zu setzen (vgl. Schmidt 2009). Deutlich wird dies an dem Online-Hype, der unmittelbar nach dem Rücktritt Guttenbergs zu beobachten war: Innerhalb kürzester Zeit schossen die Unterstützerzahlen der Facebook-Gruppe „Wir wollen Guttenberg zurück“ in die Atmosphäre – am Tag des Rücktritts kamen im Minutentakt 1000 neue hinzu. Mittlerweile vereint die Gruppe über 580.000 Guttenberg-Anhänger und kann damit eine ungleich größere Vernetzungsdichte als die mittlerweile ca. 65.000 Doktoranden für sich reklamieren. Und auch an hoher Spontanaktivität mangelt es nicht, schaut man sich bspw. den Versuch der Guttenberg-Fangemeinde an, den Tagesschau-Server lahmzulegen oder in der realen Welt in 20 Städten Deutschlands für den Baron zu demonstrieren.

Was ihr aber fehlt: Das Gelegenheitsfenster und die zusätzliche Erregung von Aufmerksamkeit beim Publikum und den klassischen Medien, die nur den Rücktritt und seine Folgen analysierten und mittlerweile eher neutral und vereinzelt über die Vorgänge in der Netzwelt berichten. Außerdem bietet die große Pro-Guttenberg-Community kein issue mehr an, das vom Mediensystem stark nachgefragt wird. Und letztlich wird nach dem Rücktritt Guttenbergs aufgrund von fehlender Awareness auch in den Köpfen der Bevölkerung Platz für neues geschaffen und so verschwindet das Thema auch wieder rasch von der Publikumsagenda – und es wird wieder über die Aufstände in Libyen, das Biosprit-Debakel und Germany’s Next Topmodell berichtet.

Literatur:

Maurer, Marcus (2010): Agenda Setting, Nomos, Baden-Baden.

Schmidt, Jan (2009): Das neue Netz. Merkmale, Praktiken und Folgen des Web 2.0. UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz.

Shaw, D. L. and McCombs, M.E. (1977): The Emergence of American Political Issues: The Agenda-Setting Function of the Press. St. Paul: West.

Der Autor:

Stefan Collet arbeitet als Research Associate an der Hertie School of Governance zum Thema Politikberatung. Sein Studium der Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre absolvierte er an der Philipps-Universität Marburg und der Stellenbosch University South Africa. Er ist Mitinitiator des Politjournals 360°.

 

Alle Twitterer sind gleich, aber manche sind gleicher: Neue Gatekeeper und ihre Bedeutung für die Verbreitung von Nachrichten auf Twitter

von Andreas Jungherr, Pascal Jürgens und Harald Schoen

In den Monaten vor der Bundestagswahl 2009 war die politische Nutzung des Microblogging-Dienstes Twitter ein viel diskutiertes Element des Onlinewahlkampfs. Die Twitter-Nutzung durch Politiker und Parteien gab seitdem Anlass für viele Spekulationen in Presse und Wissenschaft, nicht zuletzt darüber, was „gutes politisches Twittern“ charakterisiere. Interessanter als das teils mehr, teils weniger geglückte Twittern einiger Volksvertreter erscheint uns jedoch die Gesamtheit der Twitter-Nachrichten aller politisch interessierten deutschen Nutzer. Ein Blick darauf erlaubt es zum einen, die Fieberkurve der Kampagne nachzuvollziehen. Zum anderen, und darauf wollen wir uns in diesem Beitrag konzentrieren, kann man an den Twitter-Nachrichten, welche die politisch interessierten Nutzer öffentlich untereinander austauschten, die Struktur politischer Kommunikationsnetzwerke studieren.

Als ein großer Vorzug der politischen Twitter-Nutzung wird gerne ins Feld geführt, auf dieser Plattform sei es jedem Nutzer möglich, mit seinen Nachrichten Gehör zu finden. Jeder Nutzer könne durch die Veröffentlichung informativer oder unterhaltsamer Tweets die Aufmerksamkeit anderer Nutzer und der klassischen Medien gewinnen. In dieser Twitter-Meritokratie werde Aufmerksamkeit nicht durch die Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Eliten bestimmt, entscheidend sei vielmehr die Fähigkeit, sich in 140 Zeichen auszudrücken. Für Vertreter dieser Interpretation sind alle Twitter-Nutzer gleich und haben die gleichen Chancen, mit ihren Nachrichten ein Publikum zu finden. Unsere Analyse zeigt jedoch, dass diese Vorstellung wenig mit der Realität gemein hat.

Während des Bundestagswahlkampfs 2009 sammelten wir alle Nachrichten von Twitter-Nutzern, die zwischen Juni und Oktober 2009 mindestens einmal eine Nachricht mit einem politischen Stichwort veröffentlichten. Dieses Auswahlkriterium erfüllten etwas über 33.000 politisch interessierte Twitter-Nutzer, die in diesem Zeitraum rund 10 Millionen Nachrichten veröffentlichten. Auf Twitter markieren Nutzer Nachrichten, die sich gezielt an einen oder mehrere andere Nutzer richten, durch ein @-Zeichen, gefolgt von den Nutzernamen der betreffenden Personen. Um Nachrichten zu markieren, die sie wörtlich von anderen Twitter-Nutzern zitieren, auch Retweet genannt, verwenden Nutzer die Zeichenkombination RT @Nutzername.

Die so mit @Nutzernamen oder  RT @Nutzername markierten Nachrichten nutzen wir, um Konversationsnetzwerke zwischen Twitter-Nutzern abzubilden. In diesen Netzwerken sind die einzelnen Twitter-Nutzer als Knotenpunkte dargestellt. Die unter den Nutzern ausgetauschten Botschaften werden als Verbindungslinien zwischen den Knoten repräsentiert. Mit den Mitteln der quantitativen Netzwerkanalyse lassen sich diese Konversationsnetzwerke genauer beschreiben und analysieren.

Hätten auf Twitter tatsächlich alle Nutzer die gleichen Chancen, mit ihren Nachrichten auf ein breites Publikum zu stoßen, so wäre zu erwarten, dass jeder Nutzer mit ähnlich vielen anderen Nutzern kommuniziert. Alle Nutzer sollten also ähnlich viele Verbindungen aufweisen. Wollte man ein solches Netzwerk von Gleichen unter Gleichen graphisch darstellen, so sähe es in etwa so aus wie Abbildung 1. Sie zeigt ein Netzwerk von Nutzern, die etwa gleich viele Kommunikations-Verbindungen zu anderen Nutzern unterhalten. Jeder Nutzer hat die Möglichkeit, andere Nutzer über viele unterschiedliche Verbindungen zu erreichen. Keine Person besitzt ein Monopol auf die Weiterverbreitung von Nachrichten zwischen zwei oder mehreren Nutzern, da es immer noch andere Nutzer gibt, die Nachrichten übermitteln können. Soweit die Modellvorstellung.

Abbildung 1: Ideales Kommunikationsnetzwerk von Gleichen unter Gleichen

Wie läuft politische Kommunikation auf Twitter aber tatsächlich ab? Abbildung 2 zeigt das Netzwerk der Konversationen von politisch interessierten Twitter-Nutzern, die am 1. September 2009 stattfanden. Um den tatsächlichen Nachrichtenfluss zwischen politischen Twitter-Nutzern abzubilden, analysierten wir die mit @Botschaften und RTs gekennzeichneten Konversationen zwischen Nutzern. Die Knotenpunkte, die die Nutzer darstellen, sind unterschiedlich groß. Die Größe der Punkte gibt wieder, wie häufig ein Nutzer angeschrieben wurde: Je größer der Punkt, desto häufiger wurde der Nutzer erwähnt. Die Stärke der Linien, die die Kommunikation über @Botschaften oder RTs erfassen, steht für die Häufigkeit des Austauschs: Je dicker die Linie zwischen zwei Nutzern, desto häufiger kommunizierten diese an dem von uns untersuchten Tag. Konversationen zwischen Nutzern messen wir hier als Nachrichten, die entweder mindestens einmal geretweetet wurden oder auf die mit mindestens einer @Botschaft reagiert wurde. Es genügt also nicht eine einseitige Kontaktaufnahme. Wir setzen vielmehr auch eine Reaktion in Form einer Antwort oder Weiterleitung voraus.

Wir erhalten so ein Netzwerk aus 405 politisch interessierten Twitter-Nutzern, die durch 662 Konversationen miteinander verbunden sind. Dieses Netzwerk in der linken Hälfte von Abbildung 2 erscheint bereits auf den ersten Blick weniger dicht und „verstreuter“ als das idealtypische Netzwerk der Gleichen. Offenbar gibt es im empirischen Netzwerk einige wenige Nutzer mit äußerst vielen Verbindungen zu anderen Nutzern. Zugleich findet sich eine Vielzahl von Nutzern mit nur wenigen Verbindungen. Wollen diese Nutzer große Aufmerksamkeit auf sich und ihre Botschaften ziehen, sind sie daher darauf angewiesen, dass Nutzer mit vielen Verbindungen ihre Nachrichten aufgreifen und zum Beispiel durch Retweets wiederveröffentlichen.

Abbildung 2: Kommunikationsnetzwerk politisch interessierter Twitter-Nutzer am 1.9.2009 [Für eine größere Version bitte das Schaubild anklicken]

Welche Bedeutung diese wenigen stark verknüpften Nutzer für das Konversationsnetzwerk haben, zeigt das im rechten Teil von Abbildung 2 dargestellte Netzwerk. Hier ist noch einmal das Konversationsnetzwerk vom 1. September 2009 dargestellt, diesmal allerdings ohne die zehn am stärksten vernetzten Nutzer. Es fällt sofort ins Auge: das vorher geschlossene Netzwerk zerbricht in 81 von einander isolierte Einzelteile. Auf den Informationsfluss im Netzwerk gemünzt, bedeutet diese Erkenntnis: Konnte im vollständigen Netzwerk (links) eine Nachricht oder Information ihren Weg über Konversationsverbindungen zu allen Nutzern des Netzwerkes finden, so führt die Entfernung der zehn am stärksten vernetzten Nutzer zur Isolation kleiner Nutzercliquen. Informationen überspringen Gruppengrenzen nun nicht mehr. Was bedeutet dies nun für die Verbreitung politischer Informationen?

Ähnliche Muster untereinander stark vernetzter Nutzer-Gruppen, die über wenige Nutzer mit anderen, weiter entfernten Gruppen im Netzwerk verbunden sind, werden häufig als Small-World-Netze bezeichnet. In solchen Netzen ist es möglich, jeden Teilnehmer über nur wenige Verbindungen zu erreichen, obwohl der größte Teil der Nutzer nicht direkt miteinander verbunden ist. Die überwiegende Zahl der Nutzer steht nur mit relativ wenigen Nutzern in Kontakt. Trotzdem können sich Informationen schnell verbreiten – weil, bildlich gesprochen, Brücken die kleinen Kommunikationsinseln miteinander verbinden.

Diese Brücken zwischen einzelnen Gruppen haben wir in unserem Beispiel entfernt, um ihre Bedeutung für den Informationsfluss darzustellen. In der Praxis verschwinden diese Nutzer natürlich nicht. Vielmehr entscheiden sie darüber, welche Informationen oder Nachrichten sie weiterleiten – und welche sie ignorieren. Von ihnen hängt der Kommunikationsfluss im Netzwerk ab. Stark verknüpfte Nutzer werden daher zu einer Art Gatekeeper, die den politischen Informationsfluss auf Twitter filtern. Sie erfüllen damit eine Filterfunktion, die sonst traditionelle Medien übernehmen. Auf Twitter sind also nicht alle Nutzer gleich, die neuen Gatekeeper sind gleicher.

Literatur:

Pascal Jürgens und Andreas Jungherr (2011) „Wahlkampf vom Sofa aus: Twitter im Bundestagswahlkampf 2009“, in: Eva Johanna Schweitzer und Steffen Albrecht (Hrgs.), Das Internet im Wahlkampf: Analysen zur Bundestagswahl 2009, Wiesbaden: VS Verlag (i.E.).

Duncan J. Watts (1999), Small Worlds. Princeton: Princeton University Press.

Die Autoren:

Andreas Jungherr arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Soziologie an der Universität Bamberg. Dort promoviert er zur Dynamik politischer Twitternutzung. Er twittert unter dem Namen @ajungherr.

Pascal Jürgens ist Kommunikationswissenschaftler und promoviert demnächst im Bereich der Online-Kommunikation. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in empirischen Methoden, insbesondere bei Sozialen Netzwerken und Modellierung.

Harald Schoen ist Politikwissenschaftler und Professor für Politische Soziologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Zu seinen Forschungsgebieten gehören Wahlverhalten, Wahlkämpfe und ihre Wirkungen, Einstellungen zu außen- und sicherheitspolitischen Themen sowie Fragen der politischen Psychologie und der Politischen Kommunikation.

 

Eine schädliche Unglaubwürdigkeit

von Johannes Staemmler

Johannes Staemmler

Der Plagiatsfall zu Guttenberg zeigt nicht nur die beschleunigte Wahrheitsfindung mit Hilfe des Internets sondern auch, wie fragil Vertrauen im demokratischen System ist. Eine missratene wissenschaftliche Qualifizierungsarbeit aus dem Füller eines Ministers schadet der Demokratie.

Der Vorwurf der unlauteren Verwendung fremden geistigen Eigentums durch den Promovenden zu Guttenberg ist seit dem 16. Februar 2011 öffentlich. Innerhalb von wenigen Tagen haben Hunderte mit Hilfe des Internets unzählige nicht zitierte Textteile gefunden und im Guttenplag Wiki zusammengetragen. Ein punktuelles Versehen beim Verfassen der Dissertation kann ausgeschlossen werden. Die Offenlegung der Wahrheit ist weitestgehend durch Bürger geschehen und das Internet war das probate Mittel (siehe dazu ausführlich Shirky 2009).

Eine ähnliche Kraft entwickelten die aktiven Netznutzer durch das vielfache und vehemente Kommentieren des Radiobeitrags von Bundespräsident Köhler 2010, der sich zum Einsatz deutscher Soldaten auf Handelsrouten geäußert hatte. Die Herstellung von Öffentlichkeit nahm auch hier ihren Ursprung in der dezentral organisierten aber wachen Netzwelt. Sie war der Anlass eines unvorhersehbaren Rücktritts.

Innerhalb weniger Tage musste nun der Bundesminister seine Aussage korrigieren, ihm sei ein einzelner Irrtum beim Verfassen seiner Dissertation unterlaufen. Er ist bereit, seinen Titel zurückzugeben. Profis aller Couleur machen diesen strategisch-kommunikativen Fehler, Verfehlungen erst dann zugeben, wenn sie längst öffentlich sind. Die Universität Bayreuth, die selbst einen erheblichen Reputationsschaden erlitten hat, wird über die rechtlichen Konsequenzen befinden müssen. Über die politischen wird weiter debattiert.

In den ersten Affairentagen wurde angenommen, dass die Fehler des Ministers ausgiebig ausgebreitet werden würden in der Hoffnung, den adligen Hoffnungsträger auf mediales und moralisches Normalmaß einzudampfen. Dies ist aber nur im Rahmen von Pressebeiträgen und Debatten unter Wissenschaftlern der Fall gewesen, deren Glaubwürdigkeit auch zur Debatte steht. Der per Umfrage ermittelte Zuspruch zum Minister durch die Bürger ist ungebrochen hoch.

Vielmehr scheint ein anti-elitärer Reflex Minister zu Guttenbergs politisches Leben zu verlängern. Wie Max Steinbeis auf carta.info richtig analysiert, reagiert eine nicht unerhebliche Anzahl von Bürgern mit Sympathiebekundungen für den Minister, die seinen Kritikern vorwerfen aus niederen (also rein akademischen und publizistischen) Beweggründen gegen ihn zu hetzen. Einem athenischen Marktplatz ähnelnd wird bei Facebook das Stimmwirrwarr strukturiert und die breite Unterstützerscharr sichtbar. Die sozialen Medien dienen auch denen, die um die politische Zukunft des Bundesministers bangen.

Der medial und kommunikativ erfahrene Bundesminister zu Guttenberg läuft Gefahr, auf einer populären Welle über eine persönliche Krise zu reiten, die in Wirklichkeit das gesamte politische System betrifft. Das Vertrauen in die demokratischen Institutionen steht zur Debatte. Charismatische Führung kann und darf Integrität nicht aufwiegen. Auch wenn die öffentliche Meinung es anders bewertet, schadet Herr zu Guttenberg dem gesamten demokratischen System durch seine weitere Anwesenheit als Minister. Das Vertrauen in die politischen Institutionen samt ihrem Personal ist ein prekäres Gut, auf welches die Demokratie nicht verzichten kann. Nur dem politischen Personal zu vertrauen und die Institutionen zu vernachlässigen wäre fatal. Demokratie zehrt von institutionellem Vertrauen und der Aufrichtigkeit der Mehrzahl ihrer Bürger, die sie aber selbst nicht erzwingen kann (vgl. Böckenförde 1976). Dafür kann sie ein Minister leicht zerstören, der zwar charismatisch aber nicht integer ist.

Quellen:

Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1976) Staat, Gesellschaft, Freiheit. Frankfurt.

Shirky, Clay (2009) Here Comes Everbody. Penguin Books.

Der Autor:

Johannes Staemmler, MPP, promoviert im Rahmen eines Fellowships der Hertie School of Governance und IFOK zum Thema „Zivilgesellschaft in strukturschwachen Regionen“. Er studierte Internationale Beziehungen an der Technischen Universität Dresden und Public Policy an der Hertie School of Governance. Seine Schwerpunkte sind bürgerschaftliches Engagement, politische Theorie, Regionalentwicklung sowie politische Kommunikation.

 

Revolution im Ticker

von Johannes Staemmler

Johannes Staemmler

In Zeiten des Aufruhrs wird Geschichte spürbar – durch das Internet sogar für Menschen weltweit. Die Demonstrationen in Tunesien, Ägypten und anderswo machen deutlich, dass sich weder Ursachen noch Abläufe von Regimestürzen substanziell verändert haben, sondern Mittel und Geschwindigkeit der Ereignisse.

Das Internet, Notebooks und Smartphones sind revolutionäre Medien in den Händen der Unzufriedenen. Sie sind erschwinglich und bieten zahlreiche Möglichkeiten (Flickr, Facebook, Blogs, Youtube et al.), grenzüberschreitend miteinander zu kommunizieren ohne sich persönlich zu kennen. Zwar brauchte es einen jungen Mann, der sich in Tunesien aus dem unerträglichen Gefühl der Ungerechtigkeit heraus selbst entflammt, um der Frustration ein Bild und eine Geschichte zu geben. Aber es braucht das Internet, um diese binnen Stunden und Tagen durch den gesamten Mittelmeerraum zu tragen und Demonstrationen ungekannter Größe auszulösen.

Spiegel online analysiert skeptisch die Rolle des Internets in den aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten. Sie verweisen auf den Internet-Vordenker Evgeny Morozov aus Stanford, der, nach fehlgeschlagenen Revolutionsprognosen für den Iran, Twitter & Co nicht mehr als Label für Umsturzversuche verwenden mag. Das Internet ist eben keine Ursache sondern allein ein Mittel – ein Medium – der Veränderung. Albert O. Hirschman hat 1982 in „Shifting Involvement“ nach den Erklärungen für politische Aktivitäten gesucht und im Kern herausgearbeitet, dass es Frust ist, der Menschen antreibt, sich von ihren privaten Alltäglichkeiten dem Politischen zuzuwenden. Aber diese politische Aktivität bringt Kosten für den einzelnen mit sich; er muss Zeit, Nerven und Ideen einbringen und im Fall von Revolutionen ein nicht unerhebliches Maß an Unsicherheit aushalten.

Was macht das Internet besonders? Der New Yorker Professor Clay Shirky macht in dem Buch „Here Comes Everybody“ deutlich, dass das Internet in der Lage ist, das Verhalten von großen Menschenmassen zu beeinflussen, in dem es eine neue Form der Interaktion ermöglicht. Liebe und Alltag lassen sich hier genauso teilen wie politische Frustration. Aufgrund seiner dezentralen Struktur ergibt sich eine Netzwerkdynamik, die, wenn Themen von vielen geteilt und als relevant befunden immer und immer wieder kommuniziert werden, über soziale und nationale Grenzen hinaus strahlt.

Im Gegensatz zum Fernsehen kommunizieren die Internetnutzer aktiv und nehmen dadurch Teil. Sie treffen Entscheidungen, die weiter reichen als die Wahl des Fernsehprogramms. Dann ist es nur noch einer kleiner Schritt zur Mobilisierung, deren organisatorische Kosten im wirtschaftlichen Sinne mit dem Internet marginalisiert werden. Massenbewegung braucht mit dem Internet einen viel geringeren Grad an Organisation und Führung und kann deswegen in einem Bruchteil der Zeit entstehen, die frühere Bewegungen benötigten. Aber eben auch wieder vergehen.

Das Internet wird kaum helfen können, den politischen Prozess der Demokratiewerdung zu beeinflussen. Übergangsregierungen und Verfassungen müssen nach wie vor von Eliten ausgehandelt werden, zu denen auch jetzt wieder das Militär gehören wird. Aber das Signal der kollektiven Frustration ist von den Bevölkerungen in mehreren Ländern fast gleichzeitig ausgestrahlt worden. Die vielen Internetnutzer haben es noch mehr als die Nachrichtensender weitergetragen, die das Monopol der Berichterstattung eingebüßt haben. Erst mit einer Verzögerung von mehreren Tagen reagieren die Medienanstalten mit adäquaten und umfassenden Berichten und die Regierungen mit leisen Stellungnahmen. Aber auch der verzweifelte Versuch des ägyptischen Regimes, Journalisten gewaltsam mundtot zu machen, wird die Ereignisse nicht aufhalten. Jeder Bürger hat das Potential zum Berichterstatter.

Historiker müssen bewerten, ob sich dieser Tage eine Revolution in den einzelnen Ländern vollzieht. Wir beobachten aber erstens politischen Protest, der innerhalb der bestehenden politischen Ordnungen nicht eingehegt werden kann. Die Regime reagieren zweitens entweder mit sofortigem Rückzug oder mit Gewalt, wozu auch das Abschalten der Internetverbindungen zählt. Und drittens formieren sich Oppositionsbewegungen, die um Ideen für eine post-autokratische Zeit ringen und diese formulieren. Die Parallelen zu den Freiheitsbewegungen in Osteuropa 1989 sind jedenfalls sehr deutlich.

Die neuen Medien sind die Geburtshelfer für Protest und Revolution am Beginn des 21. Jahrhunderts. Der Erfolg von Regimewechseln wird nicht von ihnen abhängen, aber sie sind schon jetzt ein Teil der Angst amtierender Autokraten vor dem Verlust der Macht geworden.

Quellen:

Hirschman, Albert O. (1982) Shifting Involvement. Private Interest and Public Action. Princton University Press

Shirky, Clay (2009) Here Comes Everbody. Penguin Books.

Der Autor:

Johannes Staemmler, MPP, promoviert im Rahmen eines Fellowships der Hertie School of Governance und IFOK zum Thema „Zivilgesellschaft in strukturschwachen Regionen“. Er studierte Internationale Beziehungen an der Technischen Universität Dresden und Public Policy an der Hertie School of Governance. Seine Schwerpunkte sind bürgerschaftliches Engagement, politische Theorie, Regionalentwicklung sowie politische Kommunikation.

 

Duo, Trio oder Elefantenrunde? Zur Diskussion über die Fernsehdebatte in Baden-Württemberg

Von Jürgen Maier und Thorsten Faas
Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) hat sich durchgesetzt. Überlegungen des SWR, nicht nur den CDU-Spitzenkandidaten und seinen Herausforderer von der SPD, Nils Schmid, für eine Fernsehdebatte einzuladen, sondern auch den Top-Kandidaten von Bündnis 90/Die Grünen, Winfried Kretschmann, erteilte er eine klare Absage: „Für Trio-Konstellationen stehe ich nicht zur Verfügung. Ein Duell besteht aus zwei Personen, wie der Name schon sagt.“ Tatsächlich kommt es nun am 16. März zu einem Aufeinandertreffen von Mappus und Schmid.

Fernsehdebatten (oft etwas martialisch auch als „TV-Duelle“ bezeichnet) sind ein aus den USA importiertes Format, in dessen Rahmen die aussichtsreichsten Kandidaten für das Amt des Regierungschefs miteinander die zentralen Themen des Wahlkampfs diskutieren. In der Regel sind es tatsächlich zwei Kandidaten, die sich dabei gegenüberstehen. Allerdings gab und gibt es Ausnahmen davon: Der prominenteste Fall sind die TV-Debatten im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 1992, als der demokratische Herausforderer Bill Clinton nicht nur mit dem damaligen republikanischen Präsidenten George Bush sen., sondern auch mit dem unabhängigen Kandidaten Ross Perot diskutierte. Auch bei der Erstauflage solcher Debatten in Großbritannien im vergangenen Jahr waren drei Kandidaten geladen: Gordon Brown für Labour, James Cameron für die Conservatives und Nick Clegg für die Liberalen.

Auch in Deutschland wäre ein Dreikampf kein Novum. In den Landtagswahlkämpfen 2004 und 2009 in Brandenburg und Thüringen standen sich Vertreter von CDU, SPD und PDS bzw. Die Linke gegenüber. Ein „Duell“ besteht also nicht immer aus zwei Personen. Nun könnte man argumentieren, dass es sich hierbei eigentlich nicht um TV-Duelle, sondern um Elefantenrunden – also eine Diskussion zwischen Repräsentanten aller im Parlament vertretenen Parteien – handelte. Dies stimmt jedoch nur für Thüringen (hier saßen tatsächlich nur diese drei Parteien im Landtag). In der brandenburgischen Volksvertretung war zum Zeitpunkt der Fernsehdebatten allerdings auch die DVU vertreten – der man allerdings keine öffentliche Bühne geben wollte. Auf diese Weise kam es zumindest in Brandenburg schon einmal zu einem aus drei Personen bestehenden Duell.

Die Rationalität hinter diesem Vorgehen war die hohe Popularität der eingeladenen politischen Kräfte – sowohl in den USA als auch in Großbritannien als auch in Thüringen und Brandenburg. Aus diesem Grund regt sich auch in Baden-Württemberg Widerstand. Bündnis 90/Die Grünen reagierten in einem offenen Brief an den Intendanten des SWR auf die Entscheidung des Fernsehsenders. Sie argumentieren unter Berufung auf Umfrageergebnisse, dass ein Ausschluss von Kretschmann die (sich abzeichnenden) politischen Kräfteverhältnisse „verzerren“ würde. Im Kern geht es den Grünen natürlich nicht nur um bloße Sichtbarkeit, sondern vor allem um die Möglichkeit, ein vergleichsweise großes Publikum direkt, d.h. unter Umgehung journalistischer Selektionskriterien, anzusprechen. Damit verknüpft ist die Hoffnung, dass dieser direkte Zugang zu den Wählern sich positiv auf die eigenen Wahlchancen niederschlägt. Wissenschaftliche Untersuchungen zu den TV-Debatten auf Bundesebene belegen immer wieder, dass diese Hoffnung durchaus zur Realität werden kann.

Wie kann man die Situation nun auflösen? Kurzfristig damit, nochmals darüber nachzudenken, ob das Duo Mappus-Schmid nicht doch um den Grünen Kretschmann ergänzt werden sollte. Dies muss – wie ein Blick nach Österreich zeigt – nicht unbedingt darin münden, alle drei Kandidaten gemeinsam vor der Kamera stehen. In der Alpenrepublik debattiert traditionell jeder gegen jeden. Alternativ dazu könnte man natürlich auf eine Elefantenrunde ausweichen – und auch Liberale (und Linke?) zu einer Diskussion bitten. Mittelfristig müssen klarere Regeln her, wann Parteien einen Repräsentanten in ein solches Duell entsenden dürfen. Zwar wurde vom Bundesverfassungsgericht 2002 entschieden, dass ein solcher Anspruch generell nicht besteht und die Fernsehsender (und zwar auch die öffentlich-rechtlichen) in der Zusammenstellung solcher Diskussionsrunden grundsätzlich frei sind. Aber auch hier könnte ein Blick in die USA weiterhelfen: Dort werden alle Kandidaten geladen, die eine rechnerische Chance haben, die Mehrheit im Electoral College zu gewinnen, bzw. die in landesweiten Umfragen mindestens 15 Prozent der Wähler hinter sich vereinigen können. Außerdem liegt die Organisation solcher Debatten dort in den Händen einer unabhängigen „Commission on Presidential Debates“, was auch der Situation in Deutschland angesichts der zu beobachtenden Institutionalisierung solcher Diskussionsrunden sicher gut tun würde.

 

Auf der Jagd nach den 50.000 Klicks: E-Petitionen in Deutschland

von Andreas Jungherr, Pascal Jürgens und Harald Schoen

Geht man nach den Nutzerzahlen, so gehört das E-Petitionssystem des Deutschen Bundestages zu den erfolgreichsten Beispielen für demokratische Partizipation über das Internet. Tatsächlich bündeln jedoch nur sehr wenige E-Petitionen mehr als die Hälfte aller Unterschriften. Die öffentliche Unterstützung konzentriert sich also auf einem verschwindend kleinen Bruchteil aller öffentlichen E-Petitionen. Das E-Petitionssystem scheint allerdings nicht dem “Winner takes all”-Prinzip zu folgen. Auch wenn nur ein kleiner Bruchteil der E-Petitionen einen Großteil der Unterstützung auf sich konzentriert, profitieren auch kleinere, weniger erfolgreiche E-Petitionen von der Aufmerksamkeit, die erfolgreiche E-Petitionen erregen. Es scheint, als ob Aufmerksamkeit und Unterschriften von erfolgreichen auf weniger erfolgreiche E-Petitionen gleichsam überspringen.

Auf einer vom Bundestag bereitgestellten Internetplattform können interessierte Bürger online Petitionen an den Bundestag richten. Falls die Urheberin einer Petition dies wünscht, kann sie die Petition als „öffentlich“ kennzeichnen. Dies ermöglicht es dann anderen Nutzern des E-Petitionssystems, diese Petition auf der Internetplattform mitzuzeichnen. Gelingt es einer E-Petition, in den ersten drei Wochen nach ihrer Veröffentlichung auf der Petitionsplattform mehr als 50.000 Unterschriften zu sammeln, so wird die Petition in einer öffentlichen Sitzung des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Beisein der Urheberin der E-Petition diskutiert. 50.000 Unterschriften sind damit die entscheidende Hürde, die überwunden werden muss, ehe einer E-Petition und ihrer Urheberin Öffentlichkeitswirksamkeit garantiert ist (siehe zum deutschen E-Petitionswesen z.B. Riehm et al. 2009).

Wir untersuchten E-Petitionen seit der Einführung der derzeitigen E-Petitionsplattform am 14. Oktober 2008 bis zum 19. Januar 2010. In dieser Zeit fanden sich auf der Plattform 886 E-Petitionen mit mindestens einer Unterstützerunterschrift. 495.611 Nutzer hatten sich der Plattform bedient, um eine oder mehrere E-Petitionen einzureichen oder zu unterstützen. Insgesamt waren über eine Million Unterschriften zugunsten der 886 öffentlichen E-Petitionen geleistet worden. Dies sind beeindruckende Zahlen, vor allem wenn man die übliche Gelassenheit der deutschen Internetnutzer gegenüber Partizipationsangeboten im Netz bedenkt (man denke nur an das dröhnende Schweigen des „18. Sachverständigen“, also der Bürger, in der Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft).

Mit den Methoden der „Computational Social Science“ (Lazer et al. 2009) haben wir das E-Petitionsverhalten genauer untersucht. Das folgende Schaubild zeigt die Summe aller Unterschriften im Laufe des Untersuchungszeitraums. Schwarz markiert sind alle Unterschriften die für E-Petitionen eingingen, denen es nicht gelang, über 10.000 Unterschriften zu sammeln. Die farblich abgesetzten Flächen zeigen die Unterschriften für E-Petitionen, die mehr als 10.000 Unterschriften auf sich vereinigen konnten. Von den 886 öffentlichen E-Petitionen im Untersuchungszeitraum gilt das nur für vierzehn E-Petitionen. Nur 1,5% der öffentlichen E-Petitionen bündeln also gut die Hälfte aller auf der E-Petitionsplattform eingegangenen Unterschriften.

[Für eine größere Version bitte das Schaubild anklicken]

Welche sind nun diese außerordentlichen E-Petitionen? Im Schaubild zeigen sich die E-Petitionen mit über 10.000 Unterschriften als plötzlich ansteigende und wieder abfallende Farbflächen. So sehen wir im Frühjahr 2009 die in der Öffentlichkeit stark diskutierte E-Petition für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Im Sommer 2009 finden sich dann gleich mehrere dieser populären E-Petitionen. Allen voran die E-Petition „Keine Indizierung und Sperrung von Internetseiten“ die im Sommer 2009 Teil der #zensursula-Kampagne gegen das umstrittene Netzsperrengesetz der damaligen Bundesregierung wurde.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, für das E-Petitionswesen gelte die Devise „Die Reichen werden reicher“ oder gar das Prinzip „The winner takes all“. Bei näherem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass eine andere Dynamik am Werk ist. Betrachtet man die Entwicklung der schwarzen Fläche im Schaubild, so sieht man, dass die E-Petitionen unter 10.000 Unterschriften zu Beginn des Untersuchungszeitraums täglich einige hundert Unterschriften erhalten. Dieses Muster wird gebrochen, sobald die außergewöhnlich erfolgreiche E-Petition für das bedingungslose Grundeinkommen auftritt. Während des Zeichnungszeitraums dieser E-Petition steigt auch die Summe der Unterschriften für kleinere E-Petitionen deutlich an. Der Erfolg einer E-Petition springt also, mit abgeschwächter Wirkung, auf andere in diesem Zeitraum unterzeichenbare E-Petitionen über. Dieses Muster findet sich im weiteren Verlauf des Untersuchungsraumes immer wieder und deutet auf eine Regelmäßigkeit hin. In Zahlen ausgedrückt, scheint eine E-Petition, die mehr als 10.000 Unterschriften erhält, weniger erfolgreichen E-Petitionen zusätzliche Unterschriften einzubringen. Aufmerksamkeit und Unterschriften scheinen also von erfolgreichen auf weniger erfolgreiche Petitionen überzuspringen. Oder, in anderen Worten: Politische Partizipation erzeugt politische Partizipation.

Literatur:

Jungherr, A., und P. Jürgens (2010) ”The political click: political participation through e-petitions in Germany,” Policy & Internet 2(4), 131-165.

Lazer, D., et al. 2009. “Computational Social Science.” Science 323 (5915): 721–723.

Riehm, U., C. Coenen, R. Lindner, und C. Blümel. 2009. Bürgerbeteiligung durch E-Petitionen: Analysen von Kontinuität und Wandel im Petitionswesen. Volume 29 of Studien des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag. Berlin: Edition Sigma.

Die Autoren:

Andreas Jungherr arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Soziologie an der Universität Bamberg. Dort promoviert er zur Dynamik politischer Twitternutzung. Er twittert unter dem Namen @ajungherr.

Pascal Jürgens ist Kommunikationswissenschaftler und promoviert demnächst im Bereich der Online-Kommunikation. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in empirischen Methoden, insbesondere bei Sozialen Netzwerken und Modellierung.

Harald Schoen ist Politikwissenschaftler und Professor für Politische Soziologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Zu seinen Forschungsgebieten gehören Wahlverhalten, Wahlkämpfe und ihre Wirkungen, Einstellungen zu außen- und sicherheitspolitischen Themen sowie Fragen der politischen Psychologie und der Politischen Kommunikation.