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Schwarz-gelb, schwarz-rot, Jamaika oder die Ampel?

Das Scheitern des Regierungsbildungsprozesses nach den Landtagswahlen in Hessen vom Februar 2008 hing maßgeblich mit den von den Parteien a priori getätigten Koalitionsaussagen ab. So schloss die hessische SPD eine Koalition mit der CDU unter der Führung Roland Kochs aus, während die FDP die Bildung einer „Ampelkoalition“ aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen vorab verwarf. Eine Zusammenarbeit mit CDU und FDP wurde durch Bündnis 90/Die Grünen ausgeschlossen. Nachdem durch den Einzug der Linken in den Wiesbadener Landtag kein „traditioneller“ Koalitionsblock (schwarz-gelb oder rot-grün) eine Mehrheit erreichte und die Bildung einer Minderheitsregierung aus SPD und Grünen unter der Tolerierung der Linken am Widerstand innerhalb der Sozialdemokraten scheiterte, waren Neuwahlen der einzige Ausweg aus der festgefahrenen Situation.

Auf Bundesebene sah es zunächst so aus, als ob die Parteien aus der Gefahr zu starker Statements im Hinblick auf definitive Ausschlüsse diverser Koalitionsoptionen gelernt hätten und nur noch positiv formulierte Koalitionsaussagen und damit keine Koalitionsabsagen tätigen würden. Jedoch folgte dem Ausschluss einer Zusammenarbeit mit der Linken durch die SPD die Ablehnung der Grünen, sich an einem Bündnis mit CDU/CSU und FDP zu beteiligen. Auch die Liberalen haben schließlich mehrfach bekräftigt, keine Koalition mit Sozialdemokraten und Grünen eingehen zu wollen.

Nun sind Koalitionsaussagen – egal ob positiv oder negativ formuliert – bei weitem nicht der einzige Faktor, der einen Einfluss auf die parteipolitische Zusammensetzung einer Regierung ausübt. Auf der Grundlage gängiger Koalitionstheorien ist bekannt, dass Parteien auch an der Besetzung politischer Ämter sowie an der Durchsetzung ihrer in Wahlprogrammen festgehaltenen inhaltlichen Positionen interessiert sind. Daraus lässt sich kurz gefasst ableiten, dass Koalitionen umso wahrscheinlicher sind, wenn sie (1) über eine sie stützende Mehrheit im Parlament verfügen, diese Mehrheit jedoch nicht übergroß ist und von so wenigen Parteien wie möglich getragen wird, und (2) aus solchen Parteien zusammengesetzt ist, die möglichst ähnliche programmatische Positionen vertreten. Zusätzlich gibt es theoretische Ansätze, die der stärksten Parlamentspartei einen besonderen Vorteil zusprechen und der amtierenden Koalition einen Startvorteil im Regierungsbildungsprozess zugestehen.

In Deutschland ist ein weiterer Faktor von Bedeutung, der sich aus der Rolle des Bundesrates in der Gesetzgebung ergibt: die Parteien auf Bundesebene sind daran interessiert, in den Ländern solche Koalitionen zu „installieren“, die mit der parteipolitischen Zusammensetzung von Regierung und Opposition auf Bundesebene übereinstimmen. Wenn solche Landesregierungen die Mehrheit der Sitze im Bundesrat stellen, die aus den selben Parteien wie die Bundesregierung gebildet sind, dann sollte es für die Bundesregierung einfacher sein, ihre Gesetzesinitiativen durch die Länderkammer zu bringen als in Situationen, wo die Bundestagsopposition eine Mehrheit im Bundesrat kontrolliert. Umgekehrt sollten die Bundesparteien bei der Koalitionsbildung die aktuelle Mehrheit in der Länderkammer in Betracht ziehen: wenn sich eine Koalition von Beginn an auf eine Mehrheit in der Länderkammer stützen kann, dann sollte dies deren Bildung begünstigen.

Auf der Grundlage eines Datensatzes, der alle 79 Regierungsbildungsprozesse in Bund und Ländern seit Januar 1990 beinhaltet und davon in 66 Fällen (83,5%) die Regierungsbildung korrekt voraussagt, können wir mit Hilfe multivariater statistischer Analysetechniken die Wahrscheinlichkeiten ermitteln, die jede theoretisch denkbare Koalition (hierzu zählen etwa auch Einparteien-Minderheitsregierungen) nach der Bundestagswahl aufweist. Wir unterscheiden zwei Szenarien: in Szenario 1 wird Union und FDP eine Mehrheit der Bundestagsmandate zugewiesen, während in Szenario 2 ein christlich-liberales Bündnis keine Mandatsmehrheit erreicht. Um die Auswirkungen verschiedener Koalitionsaussagen und der Regierungsbildung in Thüringen und im Saarland auf die Koalitionsbildung auf Bundesebene abzuschätzen, ändern wir die Daten so ab, dass

(1) der amtierenden großen Koalition Merkel/Steinmeier kein Amtsinhaberbonus zugewiesen wird,

(2) der Ausschluss einer Zusammenarbeit mit der Linken durch die SPD nicht berücksichtigt wird und

(3) das noch offene Ergebnis der Koalitionsverhandlungen in Thüringen und dem Saarland vorweggenommen werden. In Thüringen gehen wir von der Bildung einer Koalition aus CDU und SPD aus, während wir im Saarland die Bildung einer Jamaika-Koalition erwarten.

Die folgende Tabelle 1 zeigt die Wahrscheinlichkeitsverteilung ausgewählter Koalitionen unter der Annahme, dass CDU/CSU und FDP eine Mehrheit im zu wählenden 17. Deutschen Bundestag erreichen. Sowohl im Ausgangsmodell als auch nach Durchführung der drei oben genannten Änderungen dominiert ein Bündnis aus Union und Liberalen klar die Wahrscheinlichkeitsverteilung mit Werten zwischen 83 und 95%. Die Chancen zur Wiederauflage einer großen Koalition Merkel/Steinmeier sind bei einer solchen Mehrheitsverteilung im Parlament äußerst gering.

Tabelle 1: Wahrscheinlichkeiten ausgewählter Koalitionen bei CDU/CSU-FDP-Bundestagsmehrheit

  Ausgangs-
modell
Kein Amtsinhaber-
vorteil für die große Koalition
SPD schließt Zusammen-
arbeit mit der Linken nicht aus
Thüringen: CDU/SPD; Saarland: Jamaika
CDU und SPD 16,9% 5,0% 5,0% 4,1%
CDU/CSU und FDP 83,0% 94,8% 94,3% 95,4%
CDU/CSU und Grüne 0,0% 0,0% 0,0% 0,0%
CDU/CSU, FDP und Grüne 0,0% 0,0% 0,0% 0,0%
SPD und Grüne 0,1% 0,1% 0,1% 0,0%
SPD, FDP und Grüne 0,0% 0,0% 0,0% 0,0%
SPD, Grüne und Linke 0,0% 0,0% 0,0% 0,0%

Deutlich anders sieht das Bild aus, wenn Christ- und Freidemokraten eine Mehrheit im Bundestag verfehlen würden. Tabelle 2 macht deutlich, dass unter diesen Umständen die wahrscheinlichste Koalition eine schwarz-rote Neuauflage ist. Dies gilt sogar dann, wenn man der großen Koalition keinen Amtsinhabervorteil zuweist und der SPD nicht abnimmt, keine Zusammenarbeit mit der Linken in Erwägung zu ziehen. Die Wahrscheinlichkeit für die Fortsetzung der großen Koalition liegt bei über 75%, während ein Linksbündnis auf Chancen von etwas mehr als 9% kommt.

Tabelle 2: Wahrscheinlichkeiten ausgewählter Koalitionen bei Verfehlen einer CDU/CSU-FDP-Bundestagsmehrheit

  Ausgangs-
modell
Kein Amtsinhaber-
vorteil für die große Koalition
SPD schließt Zusammen-
arbeit mit der Linken nicht aus
Thüringen: CDU/SPD; Saarland: Jamaika
CDU und SPD 97,8% 92,1% 76,5% 78,2%
CDU/CSU und FDP 1,4% 4,9% 4,1% 3,9%
CDU/CSU und Grüne 0,1% 0,4% 0,4% 0,2%
CDU/CSU, FDP und Grüne 0,0% 0,0% 0,0% 0,0%
SPD und Grüne 0,3% 1,1% 0,9% 0,6%
SPD, FDP und Grüne 0,0% 0,0% 0,0% 0,0%
SPD, Grüne und Linke 0,0% 0,0% 9,5% 9,1%

In den letzten Tagen war mit Hinblick auf die Koalitionsaussagen der Parteien besonders auffällig, dass sich die Grünen offenbar einen kleinen Türspalt zur Bildung einer Jamaika-Koalition offen halten, indem ihr Spitzenkandidat Jürgen Trittin explizit betonte, dass mit allen demokratischen Parteien nach der Wahl Gespräche geführt werden. Berücksichtigt man in den Regressionsmodellen nicht den Parteitagsbeschluss der Grünen, der eine Jamaika-Koalition von vornherein ausschliesst, dann ergibt sich eine deutlich andere Wahrscheinlichkeitsverteilung auf die verschiedenen Koalitionsoptionen, wie Tabelle 3 deutlich macht. Wenn man von keinem Amtsinhabervorteil für die große Koalition ausgeht, dann ist eine schwarz-rote Koalition noch immer mit knapp 58% das wahrscheinlichste Ergebnis, aber ein Jamaika-Bündnis würde mit einer Chance von rund 37% nicht allzu viel unwahrscheinlicher sein. Geht man noch einen Schritt weiter und nimmt an, dass sich im Saarland eine schwarz-gelb-grüne Koalition bilden wurde, dann stünden die Chancen für „Jamaika“ auf Bundesebene sogar besser als für eine große Koalition. Der Hauptgrund dafür liegt in den Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat, in dem momentan weder eine schwarz-gelbe noch eine schwarz-rote Koalition, jedoch aber ein potentielles Bündnis aus Union, FDP und Grünen über eine Mehrheit verfügen. Die Grünen haben sich diesen Ergebnissen zufolge aufgrund ihrer Koalitionsaussage eine große Chance auf eine Regierungsbeteiligung verbaut, da die von ihnen wie auch der SPD präferierte Ampel aufgrund der Weigerung der Liberalen, ein solches Bündnis einzugehen, als ausgeschlossen gelten kann.

Tabelle 3: Wahrscheinlichkeiten ausgewählter Koalitionen bei Verfehlen einer CDU/CSU- FDP-Bundestagsmehrheit / Grüne schließen „Jamaika“ nicht aus

  Ausgangs-
modell
Kein Amtsinhaber-
vorteil für die große Koalition
SPD schließt Zusammen-
arbeit mit der Linken nicht aus
Thüringen: CDU/SPD; Saarland: Jamaika
CDU und SPD 97,8% 57,8% 51,2% 36,4%
CDU/CSU und FDP 1,4% 3,1% 2,7% 1,8%
CDU/CSU und Grüne 0,1% 0,3% 0,2% 0,1%
CDU/CSU, FDP und Grüne 0,0% 37,2% 33,0% 53,5%
SPD und Grüne 0,3% 0,7% 0,6% 0,3%
SPD, FDP und Grüne 0,0% 4,1% 0,0% 0,0%
SPD, Grüne und Linke 0,0% 0,0% 6,4% 4,2%
 

Die Piratenpartei in der ideologischen Parteienkonstellation Deutschlands

Analysen von Parteiensystemen, Parteienwettbewerb und insbesondere der Regierungsbildung konzentrieren sich in der Regel auf solche Parteien, die im Parlament vertreten sind. Solche Parteien hingegen, die es aufgrund ihres niedrigen Stimmenanteils nicht schaffen, ins Parlament einzuziehen, wird in politikwissenschaftlichen Analysen deutlich weniger Beachtung geschenkt, obwohl es mitunter Parteineugründungen gibt, die zumindest das Potential haben, in naher Zukunft aus ihrem Schattendasein zu entkommen.

Die Piratenpartei, die bei der letzten Europawahl in Deutschland auf 0,9 Prozent und in Schweden sogar auf 7,1 Prozent, ist eine solche Partei. Die „Piraten“, die bei den drei Landtagswahlen vom 30. August nur in Sachsen antraten, dort aber immerhin 1,9 % der Stimmen erreichten, konzentrieren sich in ihrer Programmatik vor allem auf die Sicherung individueller Freiheitsrechte, wozu sie insbesondere die uneingeschränkte Nutzung des Internets zählen. Wo aber ist die Piratenpartei programmatisch insgesamt und im Verhältnis zu den anderen Bundestagsparteien verortet?

Eine Analyse des Bundestagswahlprogramms der „Piraten“ mit Hilfe des wordscore-Verfahrens kann hierüber Aufschluss geben. Es wird unterschieden zwischen einer wirtschaftspolitischen Links-Rechts-Dimension einerseits sowie einer Dimension, die zwischen progressiven und konservativen Positionen in der Gesellschaftspolitik differenziert. Diese Konfliktlinie spiegelt durchaus auch Gegensätze in der Innen- und Rechtspolitik wieder, so dass „progressiv“ mit einem Ausbau an individuellen Freiheitsrechten übersetzt werden kann, wohingegen „konservativ“ deren Eingrenzung meint. Für die Piratenpartei würden wir erwarten, dass sie in diesem Politikfeld eine explizit progressive Position einnimmt. Dies ist – wie die in der Abbildung abgetragenen Positionen der Parteien deutlich machen – in der Tat der Fall: die „Piraten“ nehmen in innen-, rechts- und gesellschaftspolitischen Fragen eine ähnlich progressive Position wie Bündnis 90/Die Grünen oder „Die Linke“ ein. Die FDP ist nur ein wenig moderater in diesen Sachfragen eingestellt als die Piratenpartei. Wirtschafts- und sozialpolitisch sind die „Piraten“ hingegen in Höhe der CDU/CSU-Position lokalisiert. Inwiefern diese Position in der deutschen ideologischen Parteienkonstellation den „Piraten“ jedoch hilft, ihren Stimmenanteil zu vergrößern, ist eher zweifelhaft: da Grüne, Linke und auch die Liberalen ähnliche innen-, rechts- und gesellschaftspolitische Grundausrichtungen haben, können Wähler auch auf die etablierten Parteien bei der Stimmabgabe zurückgreifen, es sei denn, dass für sie vor allem das Thema Internet wichtig ist, das von keiner anderen Partei als den „Piraten“ in der Form thematisiert wird.

piraten

 

Drei Landtagswahlen im Vorfeld einer Bundestagswahl – wie stehen die Chancen für die verschiedenen Koalitionsmöglichkeiten in Sachsen, Thüringen und an der Saar?

Wahlergebnisse in den Bundesländern senden in der Regel immer Signale in Richtung Bundespolitik aus. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf Stimmengewinne und –verluste der Parteien, sondern auch für die Muster der Regierungsbildung. Man erinnere sich hier an die erstmalige Bildung einer rot-grünen Koalition in Nordrhein-Westfalen 1995: der damalige Ministerpräsident Johannes Rau (SPD) und wohl auch weite Teile der strukturell eher konservativen NRW-SPD waren alles andere als glücklich mit einem solchen Bündnis, doch blieb ihnen aufgrund der Mehrheitsverteilung im Landtag und dem Druck der Bundesebene, ein solches Bündnis im einwohnerstärksten deutschen Bundesland zu installieren, um so die Regierungsfähigkeit einer solchen Koalition für die Zeit nach der Bundestagswahl 1998 zu signalisieren, nichts anderes übrig, als eine rot-grüne Koalition einzugehen.

Es gibt eine Reihe weiterer, historisch älterer Beispiele, wo Koalitionen auf Landesebene dazu dienten, die Tragfähigkeit solcher Bündnisse auf Bundesebene auszutesten. Von den Landtagswahlen im Saarland, in Thüringen und in Sachsen und dem anschließenden Regierungsbildungsprozess könnte – gerade weil sie nur wenige Wochen vor der Bundestagswahl stattfinden – eine ähnliche Bedeutung ausgehen. Dies rührt vor allem daher, dass die SPD – das Debakel um die gescheiterte Bildung einer rot-grünen, von der „Linken“ tolerierten Minderheitsregierung in Hessen 2008 vor Augen – ihren Landesverbänden nicht nur im Osten, sondern nun auch im Westen freie Hand für eine Zusammenarbeit mit der SED- bzw. PDS-Nachfolgepartei gegeben hat, ein solches Bündnis jedoch auf Bundesebene nach wie vor ausschließt. Generell haben die deutschen Parteien aus der verfahrenen Situation in Hessen nach den Wahlen vom Februar 2008 gelernt und schließen weniger Koalitionsoptionen a priori aus als zuvor. Dies gilt zu einem geringeren Grad für die kommende Bundestagswahl, wo die Grünen eine Jamaika-Koalition ausgeschlossen haben und die SPD jedwedes Bündnis mit der „Linken“ ablehnen, sondern vor allem für die drei kommenden Landtagswahlen. So ist ein schwarz-gelb-grünes Bündnis weder von CDU noch von FDP und Bündnisgrünen rundweg abgelehnt worden. Auch schließt die SPD eine Koalition mit der Linken im Saarland und in Thüringen nur dann aus, wenn die Sozialdemokraten nicht den Ministerpräsidenten stellen könnten.

Jüngste Umfragen von Infratest-Dimap und der Forschungsgruppe Wahlen zeigen, dass eine Mehrheit für ein Bündnis für die in allen drei Ländern von jeweils beiden Parteien präferierte CDU/FDP-Koalition nur in Sachsen relativ sicher ist. Was sind nun dann die nächst wahrscheinlicheren Optionen? Auf der Grundlage gängiger Koalitionstheorien wissen wir, dass Parteien an der Besetzung politischer Ämter sowie an der Durchsetzung ihrer in Wahlprogrammen proklamierten inhaltlichen Positionen interessiert sind. Daraus lässt sich kurz gefasst ableiten, dass Koalitionen umso wahrscheinlicher sind, wenn sie

* über eine sie stützende Mehrheit im Parlament verfügen, diese Mehrheit jedoch nicht übergroß ist und von so wenigen Parteien wie möglich getragen wird;
* aus solchen Parteien zusammengesetzt ist, die möglichst ähnliche programmatische Positionen vertreten.

Zusätzlich gibt es theoretische Ansätze, die der stärksten Parlamentspartei einen besonderen Vorteil im Regierungsbildungsprozess zusprechen und der amtierenden Koalition einen Startvorteil im neuen Regierungsbildungsprozess zugestehen. Des Weiteren sollten die im Wahlkampf getätigten Koalitionsaussagen einen Einfluss ausüben: wird eine Aussage zugunsten einer künftigen Koalition zwischen zwei (oder auch mehr) Parteien getroffen, dann sollte dies einen positiven Effekt auf die schlussendliche Bildung dieser Koalition ausüben. Wird ein Bündnis hingegen von vorneherein abgelehnt, dann sollten die Chancen zur Bildung einer solchen Koalition sinken. In Deutschland ist ein weiterer Faktor von Bedeutung, der sich aus der Rolle des Bundesrates in der Gesetzgebung ergibt: die Parteien auf Bundesebene sind daran interessiert, in den Ländern solche Koalitionen zu „installieren“, die mit der parteipolitischen Zusammensetzung von Regierung und Opposition auf Bundesebene übereinstimmen. Wenn solche Landesregierungen die Mehrheit der Sitze im Bundesrat stellen, die aus den selben Parteien wie die Bundesregierung gebildet sind, dann sollte es für die Bundesregierung einfacher sein, ihre Gesetzesinitiativen durch die Länderkammer zu bringen als in Situationen, wo die Bundestagsopposition eine Mehrheit im Bundesrat kontrolliert.

Auf der Grundlage eines Datensatzes, der alle 79 Regierungsbildungsprozesse in Bund und Ländern seit Januar 1990 beinhaltet und davon in 66 Fällen (83,5%) die Regierungsbildung korrekt voraussagt (Bräuninger & Debus 2008, 2009), können wir mit Hilfe multivariater statistischer Analysetechniken die Wahrscheinlichkeiten ermitteln, die jede theoretisch denkbare Koalition (hierzu zählen etwa auch Einparteien-Minderheitsregierungen) nach den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und dem Saarland aufweist. Auf der Grundlage der letzten Umfragen wird davon ausgegangen, dass nur in Sachsen Union und Liberale eine Mehrheit im Parlament erringen, wohingegen es keine Mehrheit für eine potentielle christlich-liberale Koalition in Thüringen und an der Saar gibt. Die programmatischen Positionen der Landesparteien werden anhand einer computergestützten Analyse der Landtagswahlprogramme gewonnen. Auf der Grundlage dieser Positionen lässt sich die ideologische Distanz zwischen den jeweiligen Parteien innerhalb jeder potentiell möglichen Koalition bemessen.

Die Wahrscheinlichkeitsverteilungen der am stärksten diskutierten Koalitionsoptionen sind in der folgenden Tabelle 1 getrennt nach Bundesland dargestellt. In Sachsen dominiert klar eine CDU/FDP-Koalition die Wahrscheinlichkeitsverteilung. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse scheint somit die Fortführung der Koalition aus Union und SPD sehr unwahrscheinlich, wenn CDU und Liberale eine gemeinsame Mehrheit im sächsischen Landtag erringen. Im Saarland und in Thüringen, wo wir das Wahlergebnis mit Hinblick auf die letzten Umfragewerte so simuliert haben, dass Union und FDP keine Mehrheit in den beiden Landtagen erreichen, stehen die Chancen für die Bildung einer Koalition aus CDU und SPD gut – sie dominiert ein Linksbündnis, dessen Chancen in beiden Ländern bei rund 10% liegt, sowie auch eine Jamaika-Koalition, die jedoch mit Wahrscheinlichkeitswerten von etwas weniger als 40% auf keinen Fall als chancenlos abzutun ist.

Tabelle 1: Wahrscheinlichkeiten ausgewählter Koalitionsoptionen

  Saarland Sachsen Thüringen
CDU und SPD 47,0% 13,6% 46,9%
CDU, FDP und Grüne 36,6% 0,0% 38,4%
SPD, Grüne und Linke 9,4% 0,0% 10,8%
CDU und FDP 3,0% 86,1% 0,1%

Nun basieren diese Schätzungen – wie oben beschrieben – auch auf einer Variable, die die Bedeutung der Kongruenz zwischen dem Parteienwettbewerb auf Bundes- und Landesebene umfasst. In diesem Fall impliziert dies einen positiven Effekt für eine Koalition aus CDU und SPD in den Ländern, da diese zum Zeitpunkt der Landtagswahlen im August 2009 (noch) die Bundesregierung stellen. Lässt man diese Variable aufgrund des mehr oder weniger offensichtlichen Wunsches von Union und SPD, die große Koalition in Berlin nach den kommenden Bundestagswahlen zu beenden, in den statistischen Schätzungen außer acht, dann ändert sich auch die Verteilung der Wahrscheinlichkeiten auf die jeweils theoretisch möglichen Koalitionsoptionen. Die in Tabelle 2 abgetragenen Wahrscheinlichkeitsverteilungen auf die vier momentan am häufigsten diskutierten Szenarien der Regierungsbildung zeigen nunmehr, dass sowohl im Saarland als auch in Thüringen eine „Jamaika-Koalition“ leicht wahrscheinlicher ist als ein CDU/SPD-Bündnis. Die Chancen zur Bildung einer Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Linken steigen hingegen nur geringfügig an.

Tabelle 2: Wahrscheinlichkeiten ausgewählter Koalitionsoptionen – Kongruenz zur Bundesebene wird nicht berücksichtigt

  Saarland Sachsen Thüringen
CDU, FDP und Grüne 43,1% 0,0% 42,5%
CDU und SPD 38,0% 19,8% 40,1%
SPD, Grüne und Linke 12,1% 0,0% 13,6%
CDU und FDP 3,0% 79,8% 0,1%

Da maßgeblich entscheidend für die Koalitionsbildung die Stärke der Fraktionen in den Landesparlamenten ist, sind die hier geschätzten Wahrscheinlichkeiten für die einzelnen Koalitionsoptionen naturgemäß nur unter Vorbehalt zu betrachten. Sollten sich im Saarland und in Thüringen Mehrheiten für CDU und FDP in den Landtagen bilden, dann ist eine Koalition dieser beiden Parteien nahezu sicher. Sollte es aber keine Mehrheit für das „bürgerliche Lager“ geben, dann sind die Chancen für „Jamaika“ im Saarland nahezu ähnlich gut wie für eine CDU/SPD-Koalition – lediglich für ein Linksbündnis sieht es – überraschenderweise – nicht so gut aus, was im Saarland wohl auch an den gegensätzlichen Forderungen von Grünen und Linken zur Zukunft des Bergbaus liegen mag.

Literatur

Bräuninger, Thomas/Debus, Marc (2008): Der Einfluss von Koalitionsaussagen, programmatischen Standpunkten und der Bundespolitik auf die Regierungsbildung in den deutschen Ländern, in: Politische Vierteljahresschrift 49, 309-338.
Bräuninger, Thomas/Debus, Marc (2009): Die Regierungsbildung nach der Bundestagswahl 2009: Wie wahrscheinlich ist eine Neuauflage der großen Koalition? Paper vorbereitet für den „Workshop zur Bundestagswahl 2009“ auf dem DVPW-Kongress in Kiel, 21. bis 25. September 2009.

 

Die „Arbeit von morgen“ des Frank-Walter Steinmeier oder: das zweite Wahlprogramm der SPD

Der Wahlkampf läuft für die Sozialdemokraten alles andere als gut. Eine Aufholkampagne ist bei weitem nicht in Sicht – noch immer liegt die SPD in Umfragen bei mitunter deutlich unter 25% der Stimmen. Thomas Gschwend sagt anhand seines Prognosemodells einen Stimmenanteil für Union und FDP von 50,6% und damit eine – wenn man das auf die voraussichtliche Mandatsverteilung im Bundestag umrechnet – komfortable Mehrheit für das bürgerliche Lager voraus.

Die Ursachen für die Schwäche der Sozialdemokraten sind vielfältig. Zum einen hat die SPD schon seit der Implementierung der wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen während der Legislaturperiode von 2002 bis 2005 das Problem, ihre Kernwählerschaft – gewerkschaftlich gebundene Arbeiter und Arbeitnehmer – für sich zu mobilisieren. In diesem Bundestagswahlkampf kommt noch erschwerend hinzu, dass es bei weitem nicht die SPD, sondern die Union ist, der – nach den jüngsten Zahlen von infratest-dimap – 48% der Wähler die größte Wirtschaftskompetenz zusprechen. Den Sozialdemokraten schreiben dies lediglich 12% der Befragten zu und damit genau so viele, wie der FDP die größte Kompetenz in ökonomischen Fragen zugestehen. Stark rückläufig ist auch der Anteil der Befragten, die von allen Parteien am ehesten der SPD zutrauen, für soziale Gerechtigkeit zu sorgen. In dieser für die Sozialdemokraten entscheidenden Frage sind im Juli 2009 nur noch 31% der Befragten der Auffassung, dass die SPD die soziale Gerechtigkeitspartei ist. Im September 1998, 2002 und 2005 und damit unmittelbar vor Bundestagswahlen, die die SPD gewonnen bzw. nur knapp verloren hat, lag der Anteil bei mehr als 50% (1998 und 2002) sowie bei 41% im Jahr 2005. Schließlich macht der SPD ihr Kanzlerkandidat zu schaffen: Er liegt bei der Frage nach dem gewünschten künftigen Bundeskanzler so weit hinter Angela Merkel, dass man sich fragen muss, ob die Herausstellung von Frank-Walter Steinmeier als Spitzenkandidat dem SPD-Wahlkampf insgesamt nicht eher schadet als nützt.

Grund genug also für einen Befreiungsschlag, nachdem die Präsentation potentieller Minister in Form des „Teams Steinmeier“ nicht nur wegen der Debatte um Ulla Schmidts Dienstwagen, sondern auch aufgrund der eher blassen Mitglieder des „Schattenkabinetts“ in der Öffentlichkeit eher verpufft ist. Die neueste Innovation des SPD-Wahlkampfs ist die Veröffentlichung eines zweiten Wahlprogramms, das offenbar vor allem vom Kanzlerkandidaten selbst verfasst wurde und den Versuch darstellt, das seitens der Wählerschaft bestehende Bild einer mangelnden Wirtschaftskompetenz der SPD zu revidieren. Versucht sich Steinmeier mit neuen Politikzielen vom im Juni beschlossenen Wahlmanifest der Partei abzugrenzen, in dem er nun andere inhaltliche Positionen einnimmt? Dies scheint so gut wie nicht der Fall zu sein, wenn man die Positionen des SPD-Wahlprogramms mit denen des Steinmeier-Programms, das in der unten stehenden Abbildung mit „FWS“ gekennzeichnet ist, abgleicht (die Positionen der Parteien auf den beiden Politikfeldern Wirtschaft und Gesellschaft wurden – wie in früheren Beiträgen dieses Blogs – mit dem „wordscore“-Verfahren ermittelt). Die Abbildung macht deutlich, dass sich Frank-Walter Steinmeiers Programm nur auf der wirtschaftspolitischen Links-Rechts-Dimension in signifikanter Weise und dann auch nur in geringer Form von der Position des eigentlichen SPD-Wahlprogramms unterscheidet. Es liegt ein wenig mehr in der Mitte der sozioökonomischen Links-Rechts-Dimension und damit näher am Manifest der Unionsparteien. Große inhaltliche Unterschiede zwischen der Partei und ihrem Kandidaten bzw. eine Veränderung der inhaltlichen Aussagen der SPD sind also zwischen Juni und Anfang August nicht festzustellen. Dennoch hat die Veröffentlichung des Programms zumindest für mediale Aufmerksamkeit gesorgt. Ob diese aber den Sozialdemokraten letztendlich von Nutzen ist erscheint eher fraglich: Das Versprechen, vier Millionen neue Jobs zu schaffen, ist – wenn man sich die Reaktionen der Medien anschaut – bestenfalls zwiespältig aufgenommen worden. Es bleibt abzuwarten, mit welchen weiteren Mitteln die SPD versuchen wird, die Themenhoheit in diesem Bundestagswahlkampf zurück zu gewinnen.

 

Das letzte Wahlprogramm für die Bundestagswahl 2009: Die Union rutscht in die Mitte

CDU und CSU als letzte der im Bundestag vertretenen Parteien haben heute ihr Wahlprogramm für die kommende Bundestagswahl vorgelegt und damit der Wählerschaft als auch ihren parteipolitischen Mitbewerbern ihre inhaltlichen Vorstellungen für die nächste, bis 2013 reichende Legislaturperiode offeriert. Die Debatte um Forderungen innerhalb der CDU nach Steuererhöhungen wurden offenbar in der am 28. Juni veröffentlichten finalen Version des Regierungsprogramms nicht aufgenommen. So heißt es in Kapitel I.1 („Verantwortungsbewusste Steuerpolitik für Leistungsgerechtigkeit“) des CDU/CSU-Wahlprogramms, dass Steuererhöhungen abgelehnt werden. Diese Aussage mag nicht nur aufgrund des entschiedenen Widerstandes gegenüber Steuererhöhungen seitens der CSU in das Programm eingefügt worden sein, sondern auch aufgrund der harschen Reaktion des von den Unionsparteien präferierten Koalitionspartners FDP. Doch wie sieht die allgemeine wirtschafts- und gesellschaftspolitische Ausrichtung der Union im Jahr 2009 aus? Hat sich die programmatische Ausrichtung signifikant von der vor vier Jahren formulierten Haltung verschoben? Löst man sich also von dieser einen kurzen Satz umfassenden Aussage zu Steuererhöhungen und betrachtet das Wahlprogramm der Union und die der anderen Bundestagsparteien insgesamt, so haben CDU und CSU einen deutlichen Wandel gegenüber ihrem letzten Manifest aus dem Jahr 2005 durchgemacht.

Die in der Grafik abgetragenen Positionen der endgültigen Versionen der Wahlprogramme der momentan und – wenn man den Demoskopen glaubt – auch sicher nach dem 27. September im Bundestag vertretenen Parteien zeigen, dass in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen lediglich die Union ihre Position signifikant verschoben hat, und zwar in die Mitte der wirtschaftspolitischen Links-Rechts-Dimension (Die Technik zur Gewinnung der Positionen ist wie in früheren hier präsentierten Analysen das auf relativen Worthäufigkeiten beruhende „wordscore“-Verfahren, das auch Standardfehler der geschätzten Positionen ermittelt). Das heißt, dass CDU/CSU im Vergleich zu 2005 nunmehr stärker auf den Staat als Korrektiv setzen und damit den freien Markt stärker in seine Grenzen weisen wollen, was sicherlich eine Reaktion auf die globale Wirtschaftskrise und ihre auch in Deutschland spürbaren Folgen ist und bei einem großen Teil der Wählerschaft gut ankommt. Doch auch gesellschaftspolitisch ist die Union in ihrem Wahlprogramm 2009 deutlich weniger konservativ ausgerichtet als noch vier Jahre zuvor. Dieser Wandel kommt mit Hinblick auf die durchaus reformorientiert-progressive Familienpolitik von Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) trotz parteiinterner Kritik vom konservativen Parteiflügel nicht ganz unerwartet.

Was implizieren diese Positionsverschiebungen der Union nun aber für den nach der Wahl einsetzenden Koalitionsbildungsprozess? Wie die Reaktion der Liberalen auf die Forderungen nach höheren Steuern bereits gezeigt hat, so dürfte diese programmatische Verschiebung der Unions-Position auf dem zentralen Politikfeld „Wirtschaft und Soziales“ die Koalitionsverhandlungen mit der FDP nicht unbedingt einfacher machen. Mit der SPD, die wie Liberale und die Grüne lediglich ihre gesellschaftspolitische Position gegenüber 2005 deutlich verändert haben, dürfte sich eine Einigung auf ein weiteres Koalitionsabkommen nun weitaus unkomplizierter gestalten als noch in der Konstellation vier Jahre zuvor. Doch diese rein inhaltlich-programmatisch ausgerichtete Interpretation des am 28. September einsetzenden Koalitionsspiels vernachlässigt natürlich zentrale Faktoren wie die Sitzstärke oder auch die Koalitionsaussagen der im Parlament vertretenen Parteien. Bezieht man aber lediglich die Information mit ein, dass CDU/CSU und Sozialdemokraten sich zwar eine erneute große Koalition nicht unbedingt wünschen, eine Neuauflage jedoch auch nicht ausschließen, so bleibt festzuhalten, dass die Inhalte des 2009er Wahlprogramms der Union offensichtlich nicht dazu dienen, einem neuen schwarz-roten Bündnis große Steine in den Weg zu legen.

 

Die feinen Unterschiede? Ein Vergleich zwischen dem Entwurf und der endgültigen Version des SPD-Bundestagswahlprogramms

Die Sozialdemokraten haben sich nach ihrem schlechten Europawahlergebnis auf ihrem Parteitag in Berlin wieder Mut zugesprochen. Im Mittelpunkt stand dabei Frank-Walter Steinmeier, der sich in einer kämpferischen, wieder einmal an Gerhard Schröder erinnernden Rede als Kanzlerkandidat der SPD zurückgemeldet hat. Durch die Konzentration auf den Bundesaußenminister und die Auswirkungen seiner Rede auf die in Lethargie befindlichen Genossen trat der eigentliche Anlass des Parteitages – die Verabschiedung des SPD-Wahlprogramms für die Legislaturperiode des Bundestages von 2009 bis 2013 – leicht in den Hintergrund. Grund genug, um sich im Folgenden kurz anzuschauen, ob sich die endgültige Version des Programms von der schon seit April verfügbaren vorläufigen Variante unterscheidet oder ob die SPD hier Änderungen – quasi durch die Hintertür – vorgenommen hat.

Um diese Frage zu beantworten, wird eine Inhaltsanalyse der bislang vorliegenden Bundestagswahlprogramme zur Wahl 2009 – inklusive des SPD-Wahlprogrammentwurfs vom April – vorgenommen. Die Technik zur Gewinnung der Positionen ist wiederum das auf relativen Worthäufigkeiten beruhende „wordscore“-Verfahren von Michael Laver, Kenneth Benoit und John Garry. Grundlage der Schätzung sind alle Wahlprogramme der im Bundestag vertretenen Parteien seit 1980. Da das Verfahren auch einen Fehlerbereich für die jeweilige Parteiposition ermittelt, sind diese in Form von Balken in der folgenden Abbildung angegeben. Der Punkt, wo sich die Balken schneiden, ist die ermittelte Parteiposition. Unterschieden wird – wie bereits in der Analyse des FDP-Wahlprogramms – zwischen einer wirtschafts- und sozialpolitischen Links-Rechts-Dimension einerseits und einer gesellschaftspolitischen Konfliktlinie andererseits, die zwischen progressiven und konservativen Auffassungen zu Fragen wie etwa Abtreibung oder gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften unterscheidet.

Die Grafik, in der auch die Positionen der 2005er-Wahlprogramme abgetragen sind, macht deutlich, dass sich die Haltung der SPD zwar nicht auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialpolitik, wohl aber auf dem der Gesellschaftspolitik signifikant in eine moderatere Richtung zwischen April und Juni diesen Jahres verändert hat. Damit nähern sich die Sozialdemokraten wieder der Position ihres 2005er-Wahlprogramms auf der gesellschaftspolitischen Konfliktdimension an und entfernen sich dabei gleichzeitig etwas von den sehr progressiven Positionen der Liberalen und der Grünen, die ja die präferierten Koalitionspartner der SPD sind. Ob diese Positionsverschiebung der Sozialdemokraten ein Signal an die Unionsparteien, deren Wahlprogramm erst gegen Ende diesen Monats vorliegen wird, und damit auch an eine Neuauflage der großen Koalition ist, erscheint jedoch eher unwahrscheinlich. Unter der Annahme, dass das 2009er-Wahlprogramm der CDU/CSU im Politikraum ungefähr dort liegen wird, wo sich auch das Regierungsprogramm der Union von 2005 befindet, ist die inhaltlich „günstigere“ Option für die SPD weder ein Bündnis mit CDU und CSU einerseits noch mit FDP und Bündnisgrünen andererseits, sondern vielmehr die von Müntefering und Steinmeier abgelehnte rot-rot-grüne Koalition. Hier gibt es – zumindest was die beiden hier betrachteten Politikfelder angeht – die größten Schnittmengen. Während es in einem schwarz-roten Bündnis große Unterschiede in wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Fragen gibt, so wäre eine „Ampel“ von großen Gegensätzen im gerade in der Wirtschaftskrise zentralen sozioökonomischen Politikfeld gekennzeichnet. Ob es für ein Linksbündnis aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der „Linken“ aber Ende September reichen und die Sozialdemokraten sich unter ihrer jetzigen Führung darauf einlassen werden, ist mehr als fraglich. Um hierauf eine Antwort zu bekommen, müssen wir nicht nur das Wahlprogramm der Union abwarten, sondern vor allem des Wahlergebnis vom 27. September 2009.

 

Das Superwahljahr 1994 als Vorlage für das Superwahljahr 2009: Keine guten Aussichten für die SPD

Aktuelle Wahlergebnisse werden in der Regel mit den Resultaten der vorhergehenden Wahl verglichen, um den Ausmaß an Wandel in den Präferenzen der Wählerschaft darzustellen. Dies ergibt intuitiv Sinn: Man will verdeutlichen, wie sich die Stärkeverhältnisse der politischen Parteien auf der entsprechenden Ebene – Bund, Land, Kommune oder eben Europa – im Vergleich zur letzten Wahl verschoben haben. Wenn es jedoch um den Aspekt der Mobilisierungsfähigkeit einer Partei geht – dieser stand in der Wahlberichterstattung des gestrigen Abends aufgrund des schwachen Ergebnisses der SPD massiv im Vordergrund –, dann wird auch mal auf zeitlich weiter zurückliegende Resultate oder auf Ergebnisse zu Wahlen auf anderen Ebenen zurückgegriffen. Gestern diente in einer ARD/Infratest Dimap-Grafik die absolute Stimmenanzahl der SPD zur Europawahl 2004, 2009 und zur Bundestagswahl 2005 als Grundlage für den – angeblichen – Beleg, dass die Sozialdemokraten sich immer schwer tun, ihre traditionelle Kernwählerklientel bei Europawahlen zu mobilisieren, während es ihnen bei Bundestagswahlen – zumindest bei der letzten vom September 2005 – relativ gut gelungen ist.

Der mit dieser Interpretation verbundene Hoffnungsschimmer für die SPD und ihre Chancen bei der Bundestagswahl in diesem September werden allerdings deutlich kleiner, wenn man die Analyse vor dem Hintergrund der letzten Wahlen aus den Jahren 2004 und 2005 verlässt und eine Situation als Vergleichsperspektive wählt, in der gleiche Rahmenbedingungen gerade im Hinblick auf die Mobilisierungsfähigkeit der Parteien geherrscht haben. Ein Bundestagswahlkampf mag die Wähler zwar vor allem in den letzten Wochen vor der Wahl beschäftigen, aber der Wahlkampf an sich beginnt schon Monate zuvor und übt auch dann bereits Effekte auf das Verhalten – gerade der vielgenannten Kernwählerklientel – aus.

Solche Wahlen mit ähnlichen Rahmenbedingungen sind – gerade im Fall der SPD – nicht die Europawahlen 1999 und 2004, bei denen die traditionellen SPD-Wähler aufgrund von Frustration über das generelle Agieren der rot-grünen Bundesregierung (1999) bzw. deren Wirtschafts- und Sozialpolitik (2004) der Wahl fern geblieben sind, sondern vielmehr die Wahl aus dem Jahr 1994. Das „Superwahljahr“ vor 15 Jahren gleicht in sehr vielen Punkten, die entscheidend für die Mobilisierung der eigenen Anhänger sind, dem Jahr 2009: es fanden 1994 neben zahlreichen Landtagswahlen eine Bundespräsidentenwahl und eine Wahl zum europäischen Parlament statt, die beide für die SPD ähnlich wie in diesem Jahr verloren gingen. Der Unterschied ist jedoch das Ausmaß: 1994 konnten die Sozialdemokraten – zugegebenermaßen bei höherer Wahlbeteiligung von 60% – bei den Europawahlen noch ein Ergebnis von 32,2% erreichten. Der Abstand zur Union, die auf 38,8% kam, betrug somit rund sieben Prozentpunkte. Die SPD änderte dann massiv ihre Wahlkampfstrategie und setzte mit dem fröhlichen Slogan „Freu Dich auf den Wechsel, Deutschland“ auf den Wunsch vieler Wähler, den 1994 seit 12 Jahren amtierenden Kanzler Helmut Kohl (CDU) abzulösen. Diese Taktik ging jedoch erst 1998 auf: Bei der Bundestagswahl im Oktober 1994 konnten beide Volksparteien bei deutlich höherer Wahlbeteiligung von 79% ihre Stimmenanteile leicht steigern – die SPD kam auf 36,4% und die CDU/CSU auf 41,5% der Stimmen – und die christlich-liberale Koalition blieb im Amt.

Nimmt man den Ausgang der Bundestagswahl 1994 – natürlich bei aller gegebenen Vorsicht, die sich auch aus dem durch die bundesweite Etablierung der „Linken“ geänderten Parteiensystem ergeben – als Grundlage einer Prognose für die Wahlen im September diesen Jahres, so ist nur sehr schwer vorstellbar, wie die SPD bei einem Stimmenanteil von nicht ganz 21% bei der Europawahl bei der Bundestagswahl im September die 30%-Marke schaffen oder gar an ihr Ergebnis aus 2005 von 34,2% der Stimmen herankommen will. Denn 1994 ähnelt nicht nur dem Superwahljahr 2009 hinsichtlich der Anzahl und Sequenz von bundesweiten Wahlen und Abstimmungen, sondern auch in Fragen des Charismas und der Ausstrahlungskraft der jeweiligen SPD-Kanzlerkandidaten: letztgenannte Eigenschaften fehlten dem 1994 angetretenen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Rudolf Scharping, und sie fehlen auch Frank-Walter Steinmeier, der – obwohl er aus der populären Rolle des Bundesaußenministers antritt – nicht so recht in die Rolle des mobilisierenden Wahlkämpfers hineinwachsen will. Wenn man also das Wahljahr 1994 als Vorlage für eine Prognose für das Wahljahr 2009 heranzieht und dazu noch annimmt, das ein Kanzlerkandidatenfaktor als Komponente der Entscheidung eines Wählers nicht zu vernachlässigen ist, dann steht der SPD bei weitem keine angenehme zweite Hälfte dieses Superwahljahres bevor.

 

Die Ampelkoalition und die FDP: nicht geliebt und nicht gewollt, aber inhaltlich gar nicht so abwegig?

Der Parteitag der FDP vom vergangenen Wochenende in Hannover bot – mit einer Ausnahme – wenig Neues. So verabschiedeten die Liberalen ohne große Diskussionen ihren Wahlprogrammentwurf „Die Mitte stärken“ und bestätigten ihren Vorsitzenden Guido Westerwelle mit einem deutlichen Ergebnis von mehr als 95% der Delegiertenstimmen. Die (implizite) Überraschung des Parteitages bildete hingegen die Aussage, dass eine Koalition mit SPD und Bündnis’90/Die Grünen nicht von vorneherein ausgeschlossen wird (Analysen der Programme dieser Parteien finden sich hier für die Grünen und hier für die SPD). Dies ist gegenüber der bisherigen Strategie der Liberalen, wie sie etwa ihr hessischer Landesverband bei den Wahlen 2008 und 2009, aber auch die Gesamtpartei bei den letzten Bundestagswahlen 2005 vertreten hat, eine deutliche Kehrtwende. Zwar bleibt die Erstpräferenz der Freidemokraten ein bürgerliches Bündnis mit der Union, aber der deutliche Aufruf zur Abwahl der großen Koalition sowie der nicht erfolgte Ausschluss der „Ampel“ implizieren, dass sich die Liberalen hier ein Hintertürchen offen halten.

Das grundlegende Statement der FDP vom Wochenende im Hinblick auf die nächste Regierungsbildung ist, dass eine Koalition ausschließlich auf der Grundlage inhaltlicher Übereinstimmung geschlossen werden soll. Um zu überprüfen, ob solche Schnittmengen bestehen, müssen die Positionen der Wahlprogramme der Parteien auf den für Deutschland zentralen Politikfeldern bestimmt werden. Dies sind laut gängigem Forschungsstand die Wirtschafts- und Sozialpolitik einerseits sowie die Innen-, Rechts- und Gesellschaftspolitik andererseits. Unterschiedliche ideologische Ausrichtungen in diesen beiden Politikbereichen prägen maßgeblich Wahlverhalten und Parteienwettbewerb in Deutschland. „Linke“ Positionen bedeuten in der Wirtschafts- und Sozialpolitik ein Eintreten für einen starken Wohlfahrtsstaat mit hohem Steuer- und Abgabenniveau zugunsten einer starken sozialen Sicherung, während eine „rechte“ Position mit der Forderung nach einem schwachen Sozialstaat mit niedrigen Steuersätzen übersetzt werden kann. Gesellschaftspolitisch „progressive“ Positionen meinen liberale Haltungen zu Fragen der Abtreibungsregelung oder der Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften mit traditionellen Formen familiären Zusammenlebens. Im Gegensatz dazu impliziert eine „konservative“ Haltung auf diesem Politikfeld etwa eine striktere Abtreibungsregelungen und weniger Rechte für gleichgeschlechtliche Paare.

Wo liegen nun die die Übereinstimmungen zwischen den Bundestagsparteien, wenn man sich deren Positionen auf diesen beiden Politikfeldern anschaut? Haben sich die Positionen im Vergleich zur letzten Bundestagswahl 2005 deutlich gewandelt? Um diese Fragen zu beantworten, wird eine Inhaltsanalyse der bislang vorliegenden Bundestagswahlprogramme zur Wahl 2009 sowie der Programme von 2005 vorgenommen (basierend auf der Wordscore-Methode von Laver, Benoit und Garry).

Die gewonnenen Positionen der Parteien zu den Wahlen 2005 und 2009 zeigen – mehr oder weniger – das Bestehen zweier Blöcke: Union und FDP nehmen recht ähnliche Positionen auf dem Politikfeld „Wirtschaft“ ein, die in der Grafik auf der x-Achse abgetragen sind. Hier hat die FDP ihre Positionen nur sehr marginal gegenüber 2005 verändert (da das 2009er Programm der Union noch nicht vorliegt, können die Distanzen zur Union nur auf dem Wahlmanifest interpretiert werden). Anders sieht es jedoch im gesellschaftspolitischen Bereich aus, wo SPD, FDP, Grüne und die Linke einen ideologischen „Block“ bilden: Hier haben sich die Liberalen im Vergleich zu 2005 deutlich in die progressive Richtung verändert. Dies gilt auch für SPD und Grüne. Generell hatten bereits 2005 (und auch zu früheren Wahlen, wie zahlreiche Studien zeigen) Sozialdemokraten, FDP und Grüne sehr ähnliche Standpunkte zu gesellschaftspolitischen Fragen. Das Konfliktpotential einer potentiellen „Ampelkoalition“ liegt also vor allem im wirtschaftspolitischen Bereich, das eines christlich-liberalen Bündnisses in der Innen-, Rechts- und Gesellschaftspolitik (sofern sich die gesellschaftspolitische Position des CDU/CSU-Wahlprogramms 2009 nicht klar in die progressive Richtung verändert). Ob dieser Grad an Übereinstimmung im Falle eines Verfehlens einer bürgerlichen Mehrheit jedoch zur Bildung einer (stabilen) Dreierkoalition aus Rot, Gelb und Grün reicht, werden erst Sondierungsverhandlungen zwischen den Parteien zeigen können. Würden einzig und allein Fragen der Bürgerrechte und – generell – gesellschaftspolitische Aspekte entscheidend für die Regierungsbildung im kommenden Herbst sein, dann wäre eine Ampelkoalition jedoch die ideale, programmatisch kohärenteste Lösung.

 

Das grüne Wahlprogramm von 2009 – Vorbereitung für eine neue Regierungsbeteiligung?

Politische Parteien müssen zwangsläufig Wandlungsprozesse durchlaufen, um sich an veränderte Präferenzen in der Wählerschaft anzupassen. Nur so können sie ihre Erfolgschancen wahren und erhöhen. Auf keine Partei trifft dies mehr zu als die Grünen, die in ihrer noch relativ jungen Geschichte wohl die stärksten Veränderungen erfahren haben. Dies gilt zunächst für die Parteiorganisation und die Wahlkampfführung. Es gilt aber auch, wenn man sich die Veränderungen in der Haltung der Bündnisgrünen zum bundesdeutschen Staat im Allgemeinen und den Wandel der ideologisch-programmatischen Ausrichtung der Grünen im Besonderen anschaut. So wandelte sich die grüne „Anti-System-Partei“, die sogar noch von Teilen der SPD bis Mitte der 1990er Jahre als nicht koalitionsfähig angesehen wurde, zu einer staatstragenden politischen Kraft, deren Regierungsvertreter die ersten Kampfeinsätze der Bundeswehr in internationalen Friedensmissionen mitgetragen und befürwortet haben.

Dieser Wandel in der Grundausrichtung der Partei ist auch in deren Wahlprogrammen erkennbar. Insbesondere während der 1980er Jahre nahmen die Grünen eine explizit linke Position auf dem ideologischen Spektrum ein, die auch in den 1990er Jahren noch beibehalten wurde. Dies änderte sich nach der Regierungsübernahme der rot-grünen Koalition. Zu den Wahlen 2002, in die die Bündnisgrünen als Regierungspartei zogen, zeigt sich ein deutlicher Wandel hin zu einer moderaten Position, die der des Koalitionspartners SPD sehr nahe kam. Zu den vorgezogenen Neuwahlen 2005 setzte wiederum eine Bewegung in Richtung des linken ideologischen Spektrums ein, der sich – zumindest auf Grundlage des vorläufigen Wahlprogramms – im Jahr 2009 offenbar fortsetzt.

Links-Rechts-Positionierung der Wahlprogramme 1980-2009

Eine ähnliche Bewegungsrichtung ist auch im Fall des FDP– und insbesondere des SPD-Wahlprogramms sichtbar, was dazu führt, dass Sozialdemokraten und Grüne eine ähnlich geringe ideologische Distanz trennt wie zur Wahl 2002. Lediglich die Linkspartei nimmt – gemessen auf der Grundlage ihres Wahlprogrammentwurfs – nach ihrem deutlich links ausgerichtetem Programm zur Wahl 2005 wieder eine leicht moderatere Position auf der allgemeinen Links-Rechts-Achse ein, was zu einer recht geringen ideologischen Distanz eines potentiellen Linksbündnisses aus SPD, Grünen und der früheren PDS führt. Dies stellt – koalitionstheoretisch betrachtet und unter der Bedingung einer Mandatsmehrheit – eine optimale Voraussetzung für die Bildung einer stabilen Koalitionsregierung dar – wenn nicht die Sozialdemokraten unter Führung von Müntefering und Steinmeier eine Koalition mit der „Linken“ explizit ausgeschlossen hätten. Inwiefern diese „negative Koalitionsaussage“ der SPD gegenüber den Sozialisten auch nach der Bundestagswahl im September gilt, werden das Wahlergebnis und die Resultate der Sondierungsgespräche zwischen den Parteien zeigen. Die Bündnisgrünen haben zumindest auf ihrem Parteitag vom vergangenen Wochenende ein solches Linksbündnis nicht a priori ausgeschlossen.

 

Das Flügelflattern in der Union und seine Folgen

Wahlprogramme gelten als die Zusammenstellung der programmatischen Vorstellungen einer Partei für die folgende Legislaturperiode. Auf die darin formulierten Politikziele haben sich die Parteiführungsgremien unter Einbeziehung aller relevanten innerparteilichen Gruppen in Form von Kompromissen geeinigt, die dann von einem Parteitag in der Regel problemlos abgesegnet werden.

Die CDU tut sich in der Formulierung ihres Wahlprogramms zur Bundestagswahl 2009, das sie wohl wieder mit der CSU gemeinsam verfassen wird (es gab bislang nur vier Bundestagswahlen, bei denen CDU und CSU mit getrennten Programmen zur Bundestagswahl angetreten sind), überraschend schwer. Dies mag einerseits an den schwachen Umfragewerten für die Partei liegen, der zurzeit ein ähnlich (schlechtes) Ergebnis wie zur letzten Wahl 2005 von um die 35% vorhergesagt wird. Es kann aber auch andererseits mit den Konflikten innerhalb der Christdemokraten zu tun haben, die sich ja bekanntlich nicht über den wirtschafts- und sozialpolitischen Kurs von Kanzlerin Angela Merkel in Form des Einstiegs des Staates bei Banken und Konzernen sowie Schulden in die Höhe treibenden Konjunkturpakten einig sind. Auch in gesellschaftspolitischen Fragen werden alte Gräben innerhalb der Union durch die – aus Sicht des konservativen Parteiflügels – zu liberale Politik wieder aufgerissen: so wird die Familienpolitik von Ministerin Ursula von der Leyen schon lange innerparteilich kritisch beäugt und die Papst-Kritik der Kanzlerin hat den auf traditionelle Werte setzenden Flügel noch weiter in Beunruhigung versetzt.

Wie weit die Vorstellungen innerhalb der CDU auseinanderklaffen macht eine Analyse der Präferenzen der beiden maßgeblichen wirtschafts- und sozialpolitischen innerparteilichen Organisationen der Union – der Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA) und der Mittelstandsvereinigung (MIT) – deutlich. Bezieht man ihre zuletzt formulierten grundlegenden Programme – im Fall der MIT sind dies die „Kölner Leitsätze“ von 2003 und ihre Fortschreibung aus dem Jahr 2004, für die CDA werden die „Hannoveraner Leitsätze“ von 2008 herangezogen – in die Analyse der Bundestagswahlprogramme mit ein, dann ergibt sich ein deutlicher Gegensatz in den programmatischen Vorstellungen dieser beiden innerparteilichen Gruppen. Auf einer explizit die wirtschaftspolitischen Vorstellungen widerspiegelnden Achse, die zwischen „mehr staatliche Leistungen bei höheren Steuern“ und „weniger staatlichen Leistungen bei niedrigen Steuern“ unterscheidet, kommt die CDA auf einen Wert von 11,8 und die MIT auf eine Position von 20,3 (höhere Werte geben eine wirtschaftsliberale Position an, während niedrige Werte für einen starken Wohlfahrtsstaat stehen). Zur Einordnung dieser Werte eignen sich Angaben zu den ermittelten wirtschaftspolitischen Positionen der bislang vorliegenden Wahlprogramme von SPD, FDP und der „Linken“ zur Bundestagswahl 2009: der Programmentwurf der Sozialdemokraten erhält eine Position von 7,1, der der Liberalen von 18,0 und der der Linken einen – überraschend moderaten – Wert von 6,1 auf dieser sozioökonomischen Achse.

Diese hohe Divergenz in den wirtschafts- und sozialpolitischen Zielvorstellungen innerhalb der Union macht nicht nur deutlich, warum es zu schwierigen Verhandlungen über die letztendliche Form des Wahlprogramms kommt, sondern auch, dass es bei einem Weiterregieren von Angela Merkel und CDU/CSU nach den September-Wahlen weiterhin Konflikte um den wirtschaftspolitischen Kurs innerhalb der Christdemokraten wie auch der künftigen Koalitionsregierung geben wird. Sollte die Union mit der FDP koalieren, dann würde dies der Mittelstandsvereinigung und damit den wirtschaftsliberalen Flügel in der Union stärken. Die Chancen, einen klaren marktliberalen Kurs in der Wirtschaftspolitik umzusetzen, würden massiv anwachsen, jedoch nicht gerade auf wohlwollende Unterstützung seitens der CDA stoßen. Das Gegenteil wäre der Fall, wenn die große Koalition mit der SPD fortgesetzt werden würde (oder vielmehr: müsste): die CDU-Sozialausschüsse könnten unter Verweis auf die wirtschaftspolitische Position der SPD ihre moderaten ökonomischen Vorstellungen in der Koalitionsregierung besser durchsetzen. Es bleibt somit nicht nur für die Regierungsbildung und die künftige Politikgestaltung der nächsten Bundesregierung spannend, wie die endgültige Version des CDU/CSU-Wahlprogramms aussieht, sondern auch, wie sich die innerparteilichen Gruppen der Union in der künftigen Koalitionsregierung durchsetzen können. Je nach Couleur der nächsten Regierungskoalition wird auf jeden Fall eine der beiden wirtschaftspolitischen innerparteilichen Gruppen Probleme mit dem Kurs des neuen Regierungsbündnisses haben – sei es die CDA in einer bürgerlichen Koalition oder die MIT in einer Neuauflage der großen Koalition.