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Alle (fünf) Jahre wieder…

Geschichte wiederholt sich – zumindest, wenn es um die Wahlen zum Europäischen Parlament geht. Seit 1979 haben die Bürgerinnen und Bürger im Fünf-Jahres-Takt die Möglichkeit erhalten, ihrer Zustimmung bzw. Ablehnung gegenüber dem europäischen Integrationsprozess manifesten Ausdruck zu verleihen. In zwei Monaten, am 7. Juni, ist es wieder soweit, ohne dass dies in der Medienberichterstattung bislang zum Ausdruck käme. Das Paradoxe daran: Je weiter das Projekt „EU“ in den vergangenen Jahren vorangetrieben wurde, je mehr sich die EU geografisch ausgeweitet und strukturell verfestigt hat, desto weniger waren die Völker Europas bereit, ihr „Bürger-‚Recht der Rechte'“ (Jeremy Waldron) – ihr Wahlrecht – zu nutzen. Bei den vergangenen Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2004 verzeichneten 18 von 25 Mitgliedsländern eine Wahlbeteiligung von unter 50 Prozent, in fünf der osteuropäischen Staaten, die kurz zuvor, am 1. Mai 2004, der EU beigetreten waren, beteiligte sich weniger als ein Drittel an der Europawahl. In den fünf EU-Ländern mit Wahlpflicht (blaue Balken in der Abbildung, siehe auch die Blogbeiträge von Thorsten Faas zum Thema Wahlpflicht) konnte immerhin zumeist mehr als die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger motiviert werden, sich an der Wahl zu beteiligen.

Die Wahlbeteiligung bei der Europawahl 2004

(blau: Länder mit Wahlpflicht, rot: EU-15, gelb: neue Mitgliedsstaaten, grün: Deutschland; die Abbildung kann durch Anklicken vergrößert werden)

Wenngleich in der journalistischen Kommentierung durchaus üblich, wäre es doch zu kurz argumentiert, diese Europa umspannende Wahlabstinenz (wie auch die gescheiterten Verfassungsreferenden in den Niederlanden, Frankreich und Irland) als sinnfällige „Rote Karte“ der Bürgerinnen und Bürger für das Arkanum EU zu interpretieren. Näher liegt, die Nicht-Wahl vor allem als einen rationalen Akt zu interpretieren: Geht es um Europa, scheint für die Bürgerinnen und Bürger – aus deren subjektiver Sicht – schlichtweg weniger auf dem Spiel zu stehen, als bei den Wahlen auf nationaler, regionaler oder kommunaler Ebene. Die EU ist weit weg, außerhalb der alltäglichen Reich- und Sichtweite (Walter Lippmann). Die Europawahlen erscheinen als folgenlos für die nationale Politik und das eigene Leben, die Bürger interessieren sich nicht besonders für die EU und erfahren auch wenig über sie. Selbst in Wahlkampfzeiten stellt die Berichterstattung eine quantité négligeable dar, eine Restgröße unterhalb der durchschnittlichen Wahrnehmungsschwelle. Warum sollte man sich also an so einem Projekt beteiligen, wenn doch die aufzubringenden Kosten für die Wahl (Informations-, Wege- und Opportunitätskosten) auf jeden Fall den zu erwartenden Nutzen der Wahlbeteiligung übertreffen würden? Anthony Downs hat zu diesem Wahlparadoxon einen „Rettungsanker“ eingebracht: Man kann durch die Beteiligung an der Wahl einen Beitrag für den Fortbestand des demokratischen Gemeinwesens leisten. Allerdings kann dies bei einem supranationalen Gemeinwesen mit eingeschränktem Demokratiecharakter wie der EU und angesichts von Wahlen, aus denen keine Regierung unmittelbar hervorgeht, nur wenig überzeugen.

So steckt die Europäische Union in einem Dilemma: Sie benötigt – wie jedes „zwangsfreie“ politische System – Rückhalt und Legitimation, um sich weiter entfalten zu können. Für den Großteil der Bürgerinnen und Bürger ist die EU aber schlichtweg eine Selbstverständlichkeit geworden, die es – ganz rational betrachtet – nicht lohnt, aktiv zu unterstützen. Zugleich ist die emotionale Bindung an die EU für viele (noch) zu schwach ausgeprägt, als dass mit dem Wahlgang ein expressives Bedürfnis befriedigt werden würde. „Ja, ich stehe zur EU“ könnte nur dann ein Wahlmotiv sein, wenn andere dieses Gefühl teilten und das Dazu-Stehen gesellschaftliche Anerkennung fände. Soweit sind die Bürgerinnen und Bürger Europas aber nicht. Inwieweit die Kommunikationsbemühungen der EU-Kommission in den vergangenen Jahren (Stichwort: „Plan D“) einen Beitrag dazu geleistet haben, diese emotionale Kluft zu schließen, bleibt abzuwarten. Im Moment scheint es jedoch so, als ob auch die nächsten Europawahlen weitgehend unbemerkt von Parteien, Massenmedien und Bürgerinnen und Bürgern stattfinden werden oder sich – zumal in Deutschland – bestenfalls als nationale Vor-Wahlen im europäischen Gewand entpuppen werden. Diese Art der Domestizierung mag zwar – wie die Wahlpflicht in einigen Ländern – die Wahlbeteiligung am 7. Juni erhöhen. Sie wird aber dem eigenständigen Charakter europäischer Wahlen nicht gerecht und forciert auf lange Sicht eher das Legitimationsdilemma der EU, als es zu beheben.

 

Obama als Wahlkämpfer der CSU?

Der Star der vergangenen Gipfelwoche war zweifelsohne US-Präsident Barack Obama. Ob auf dem NATO-Jubiläumsgipfel oder auf dem EU-USA-Gipfel, seine Reden fanden große öffentliche Aufmerksamkeit und Resonanz. Als inhaltlich bemerkenswert gelten vielen Beobachtern seine Plädoyers für eine atomwaffenfreie Welt und für eine EU-Vollmitgliedschaft der Türkei. Weitgehend unbeachtet blieb jedoch, dass der amerikanische Präsident mit seiner zweiten Forderung – vermutlich ungewollt – in den deutschen Europawahlkampf eingegriffen haben könnte, und zwar nicht zuletzt zugunsten der CSU.

Wie ist Obama zum Wahlkämpfer der Christsozialen geworden? Die CSU zieht in den Europawahlkampf unter anderem mit der Forderung, in Deutschland über europapolitische Fragen Volksabstimmungen abzuhalten. Dadurch würde Bürgern die Möglichkeit eröffnet, aus ihrer Sicht falsche Entscheidungen europapolitischer Eliten zu korrigieren. Diese Aussicht dürfte vielen Bürgern aber allzu abstrakt und akademisch erscheinen, solange nicht in eine konkrete europapolitische Fehlentscheidung droht. Die CSU weist daher gerne auf ausgewählte Beispielsfälle hin, in denen ein solches EU-Referendum seine segensreichen Wirkungen entfalten könnte. Besonders prominent wird stets der EU-Beitritt der Türkei genannt. Dabei rechnet die CSU-Führung offenbar damit, dass viele Deutsche (inner- wie außerhalb Bayerns) diesen Beitritt ablehnen und daher die Aussicht auf eine entsprechende Volksabstimmung als Verheißung begreifen dürften. Bis vor kurzem musste sich die CSU jedoch ernsthafte Sorgen darüber machen, ob dieses Kalkül aufgehen würde. Denn die Türkei-Frage schien von der politischen Tagesordnung verschwunden und damit auch ihres Mobilisierungspotentials beraubt: Warum sollten Bürger ihr Votum am 7. Juni von der Aussicht auf eine Volksabstimmung über eine europapolitische Entscheidung abhängig machen, wenn es zu einer solchen Entscheidung ohnehin nicht käme? Obamas Forderung hat die Lage deutlich verändert. Er hat dieser Frage neue Aktualität verliehen, so dass viele türkeikritische Bürger einen EU-Beitritt der Türkei als reale Gefahr ansehen könnten. Im Ergebnis dürfte die CSU-Forderung nach europapolitischen Volksabstimmungen werbewirksamer geworden sein. Die Partei hat nun einen Anreiz, die von Obama angestoßene öffentliche Diskussion über die Türkei-Frage zumindest bis zum Europawahltag am Köcheln zu halten.

Der einzige Pferdefuß dieser unerbetenen, aber wohl doch willkommenen Wahlhilfe könnte für die CSU darin liegen, dass Obamas Plädoyer aus manchen türkeikritischen Bürgern Beitrittsbefürworter machen könnte. Zwar deuten empirische Befunde darauf hin, dass die Deutschen sich in ihrer Haltung zum EU-Beitritt der Türkei von Parteinahmen politischer Eliten nicht wesentlich beeinflussen lassen. Doch stammen diese Ergebnisse aus der Vor-Obama-Zeit. Es bleibt abzuwarten, ob Obamas Stern so hell leuchtet, dass er diese Regelmäßigkeit außer Kraft setzt. Sollte ihm das nicht gelingen, kann sich die CSU weiterhin über Wahlhilfe von unerwarteter Seite freuen.

 

Lernen von Obama?

Barack Obama hat den Kontinent verlassen. Aber er hinterlässt uns einige bemerkenswerte Botschaften. Neben den inhaltlichen Signalen, die dieser Tage breit diskutiert werden (Wirtschaftskrise, transatlantische Beziehungen, Afghanistan), kann man am Besuch des US-Präsidenten auch interessante Hinweise in Sachen Wahlkampf ablesen. Immerhin befindet sich der amerikanische Präsident quasi per definitionem im Dauerwahlkampf. Und während seines Besuches wurde deutlich, dass er nicht nur Staats- und Regierungschefs, sondern auch das europäische Volk von seinen Ideen überzeugen wollte. Zudem gilt der Wahlkampf Obamas seit Monaten als leuchtendes Beispiel für eine perfekt organisierte und inszenierte Kampagne. Die Amerikanisierung bzw. Obamasierung des Wahlkämpfens scheint auch in Deutschland alternativlos zu sein. Welche Erkenntnisse lassen sich also aus Obamas Auftritten für die anstehenden Wahlkämpfe in Deutschland gewinnen? Über zwei Anregungen könnten unsere Spitzenpolitiker nachdenken.

Überzeugende Personen…

Dass Barack Obama seiner Politik ein Gesicht gibt, dass seine Person unmittelbar mit dem „Change“ verknüpft ist, ist bestens bekannt. Entsprechende Bemühungen, Personen mit Programmen zu verknüpfen, sind auch in Deutschland erkennbar. Ein Trend jedoch, auf den wir hierzulande noch warten, ist die professionelle Inszenierung des privaten Umfelds. Für die Ehepartner der deutschen Regierenden wird auf Auslandsreisen üblicherweise ein separates „Damenprogramm“ angeboten, Michelle Obama hingegen steht regelmäßig im Rampenlicht. Durch überzeugende Auftritte im vergangenen Herbst hat sie dazu beigetragen, dass die Wählerinnen und Wähler die menschliche Seite ihres Mannes kennen lernten – und auch in London, am Rande des G-20-Gipfels, galt ihr mehr Aufmerksamkeit als manchem Politiker. Auf diese Weise trägt sie ebenso wie andere Menschen aus seinem privaten Umfeld aktiv zur Persönlichkeitsbildung ihres Gatten bei. In einer letzte Woche veröffentlichten Gallup-Umfrage ist Michelle Obama unter den US-Bürgerinnen und -Bürgern mit einer Zustimmungsrate von 72 Prozent und einer Ablehnungsrate von 17 Prozent sogar noch etwas beliebter als ihr Mann (69 zu 28 Prozent). Das politische Potenzial dessen wird deutlich, wenn man auf die Zustimmungsraten im gegnerischen Lager blickt: Immerhin 48 Prozent der Republikaner befürworten Michelle Obama, ihr Mann erreicht 36 Prozent. In Deutschland hingegen werden solche Daten zu Joachim Sauer oder Elke Büdenbender gar nicht erhoben.

… haben Visionen

In Prag träumte der US-Präsident laut von einer Welt ohne Atomwaffen. Kein besonders realistisches Szenario, dennoch war das Medienecho auf diese Rede sehr positiv. Es scheint, als habe Obama hier mit einer Mischung aus Vision und Emotion den richtigen Nerv getroffen. Der enge, durch so viele Faktoren beschränkte reale Handlungsspielraum der Politik spielte einen Moment lang keine Rolle mehr. Für Deutschland könnte die Lektion hier lauten, dass auch und gerade in Zeiten der Wirtschaftskrise Visionäre gebraucht werden. Wem es gelingt, in den nächsten Monaten eine Botschaft zu entwickeln, die die Menschen berührt und die ihnen Hoffnung gibt, der hat gute Chancen gewählt zu werden. Auch wenn diese Vision nicht jeder Prüfung unter realpolitischen Gesichtspunkten auf Anhieb standhält. Die deutschen Spitzenpolitiker haben diesbezüglich Nachholbedarf: Der aktuelle „Deutschlandtrend“ von Infratest dimap (der vor der Ankunft Obamas in Europa erhoben wurde) besagt, dass 80 Prozent der Deutschen Barack Obama zutrauen, einen wichtigen Beitrag zur Lösung der Krise zu leisten. Angela Merkel kommt in der selben Befragung auf 58 Prozent, Frank-Walter Steinmeier auf 49 Prozent.

Fußnote: Natürlich waren neben den strahlenden Auftritten des US-Präsidenten auch die Probleme erkennbar, die sich mit seinem politischen Stil verbinden. Visionäre Persönlichkeiten werden gerne von verschiedenen Seiten vereinnahmt und zu Symbolfiguren erklärt (in der Werbebranche spricht man hier von „Testimonials“). So musste der Präsident in Istanbul beispielsweise den schwierigen Spagat zwischen seinen armenischen und seinen türkischen Freunden bewältigen. Er tat dies gleichwohl geschickt, indem er sich nicht direkt mit dem Genozid an den Armeniern beschäftigte, sondern stattdessen auf die Schuld seiner Landsleute an den Verbrechen an den amerikanischen Ureinwohnern verwies. Diese rhetorische Glanzleistung Obamas war dann wieder einen Eintrag ins Vokabelheft unserer Politiker wert.

 

Wahlpflicht? Nein, danke!

Der CSU-Politiker Stephan Mayer hat kürzlich die Einführung einer Wahlpflicht gefordert. Die BILD-Zeitung zitiert ihn mit der Aussage: „Es ist wichtig, dass möglichst jeder Bürger aktiv an der Demokratie teilnimmt“. Dem ist grundsätzlich nicht zuzustimmen.
Einer der Wahlrechtsgrundsätze des Grundgesetzes ist die Freiheit der Wahl – dem würde der Wahlzwang zuwider laufen. Auch Mayer erkennt diesen Punkt teilweise an – seine Lösung aber (Enthaltung als explizite Option auf dem Stimmzettel) kann nur teilweise überzeugen. Denn diese Option gibt es ja heute auch – niemand muss ein Kreuzchen auf dem Stimmzettel machen, selbst wenn er zur Wahl geht. Insgesamt ist die Möglichkeit zur Teilnahme an Wahlen einfach und egalitär. Wenn bestimmte Wählergruppen aus freien Stücken (und etwa mangelndem Interesse) auf die Ausübung ihres Wahlrechts verzichten – so what?

Auch funktionale Argumente sprechen dagegen: Studien aus Ländern mit Wahlpflicht zeigen, dass dort die Zahl ungültiger Stimmen relativ hoch liegt. Zudem stellt sich die Frage der Sanktionen: Ein Strafzettel für Nichtwählen? Schließlich zeigen Studien auch immer wieder, dass die Unterschiede zwischen Wählern und Nichtwählern nicht groß sind. Selbst wenn es sozialstrukturelle Unterschiede (nach Bildung oder Erwerbsstatus) gibt, so unterscheiden sich ihre politischen Einstellungen in geringerem Maße. Die Einführung einer Wahlpflicht wäre demnach eher symbolische Kosmetik.

PS: Die Gegenrede „Wahlpflicht? Ja, bitte!“ findet sich hier.

 

Wahlpflicht? Ja, bitte!

Der CSU-Politiker Stephan Mayer hat kürzlich die Einführung einer Wahlpflicht gefordert. Die BILD-Zeitung zitiert ihn mit der Aussage: „Es ist wichtig, dass möglichst jeder Bürger aktiv an der Demokratie teilnimmt“. Dem ist grundsätzlich zuzustimmen. Demokratie bedeutet Herrschaft des Volkes, in ihrer repräsentativen Variante bedeutet dies, dass die Bürger diese Herrschaft – zeitlich befristet – auf Abgeordnete übertragen, die sich wiederum regelmäßig zur Wahl stellen müssen, um Rechenschaft abzulegen. Für die Legitimation der Abgeordneten, aber auch ihre Rechenschaftspflicht ist es wünschenswert, wenn sich möglichst alle Bürger an diesem Verfahren beteiligen. Der Einfluss der Bürger wird nämlich nur gleich und damit fair verlaufen, wenn alle Bürger den gleichen Einfluss ausüben können und dies auch tun. „Meaningful democratic participation requires that the voices of citizens in politics be clear, load, and equal“, so haben es die amerikanischen Politikwissenschaftler Sidney Verba, Kay Lehman Schlozman und Henry E. Brady in ihrem Buch „Voice and Equality“ einmal formuliert. Denn nur gleich laute Stimmen sichern demnach auch gleich starken Einfluss – Politiker sind schließlich rationale Akteure. Ihr Kollege V.O. Key hat schon 1949 ernüchtert bilanziert: „The blunt truth is that politicians and officials are under no compulsion to pay much heed to classes and groups of citizens that do not vote“.

Zugleich wissen wir aber aus zahlreichen Studien, dass die Wahlbeteiligung keineswegs gleich in der wahlberechtigten Bevölkerung verteilt ist. Arbeitslose Menschen etwa nehmen seltener an Wahlen teil. Ebenso Personen mit niedriger formaler Bildung. Sie (und ihre Interessen) sind damit im politischen Prozess weniger sichtbar. Dies ist im Fall von Arbeitslosigkeit – oder allgemeiner formuliert: im Fall von sozial Schwachen – besonders bemerkenswert, weil ihre Lebensgestaltung in überdurchschnittlichem Maße von staatlicher Regulation, aber vor allem Allokation abhängig ist. Arend Lijphart – noch ein Politikwissenschaftler – sieht darin sogar ein funktionales Äquivalent etwa zum preußischen Drei-Klassen-Wahlrecht, welches heutzutage universell als undemokratisch abgelehnt würde, und fragt daher auch: „Why then do many democrats tolerate the systematic pattern of low and unequal turnout that is the functional equivalent of such rules?”. Die Einführung einer Wahlpflicht ist für ihn die Lösung. Stephan Mayer befindet sich also durchaus in guter Gesellschaft.

PS: Die Gegenrede „Wahlpflicht? Nein, danke!“ findet sich hier.

 

Wahlkampfthema DDR?

Erwin Sellering hat die DDR verteidigt. Das mag man für unerhört halten – oder auch nicht. Es könnten einem auch viele Gründe dafür einfallen, was den Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Vorpommern eigentlich dazu veranlasst hat. In einem Superwahljahr, das natürlich auch ein Superwahlkampfjahr ist, scheinen die Einlassungen des westdeutschen Juristen jedenfalls nicht ganz und gar unverdächtig. Allerdings stellt sich damit eine wichtige Frage: Taugt die DDR als Wahlkampfthema?

Aus meiner Sicht ein klares „Nein!“. Denn dagegen sprechen mindestens zwei Gründe. Erstens sind die Wählerinnen und Wähler nicht so schlicht im Gemüt, als dass sie ihre Wahlentscheidung nur an einem Thema ausrichten würden. Es gehört vielmehr zu den sicheren Befunden der Wahlforschung, dass die Entscheidung für die eine oder andere Partei von mehreren Inhalten beeinflusst wird. Außerdem hängt sie von einem überzeugenden Kandidatenangebot der Parteien ab.

Zweitens spielt es eine mitunter wahlentscheidende Rolle, welcher Partei die Menschen am ehesten zutrauen, die Probleme zu lösen, die ihnen auf den Nägeln brennen. Nach dem Anfang März dieses Jahres veröffentlichten Politbarometer der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen waren das vor allem die Arbeitslosigkeit sowie die Banken- und Finanzkrise, die 47 bzw. 40 Prozent der Deutschen nannten. In derselben Umfrage meinten 90 Prozent der Deutschen, dass die Managergehälter in Deutschland zu hoch sind. Schließlich hat sich die Sicht auf die allgemeine Wirtschaftslage weiter verdüstert: Haben im Januar noch 25 Prozent der Deutschen die Wirtschaftslage im Land schlecht beurteilt, waren es Ende März bereits 47 Prozent.

Was lässt sich im aktuellen Wahlkampf also anfangen mit dem Thema DDR? Die Menschen haben offensichtlich andere Sorgen.

 

Münte als Allzweckwaffe

Bis auf weiteres kümmert sich also Franz Müntefering bei der SPD um die Familien- und Frauenpolitik. So war es der Presse in den letzten Tagen zu entnehmen. Klar ist: Themen müssen mit Personen besetzt werden – nur dann haben sie eine Chance, im Wahlkampf transportiert werden zu können. Und dies hat nichts mit Personalisierung auf Kosten von politischen Inhalten zu tun. Empirische Studien haben im internationalen Vergleich ergeben, dass mehr und mehr Themen mit Personen verbunden werden. So stieg der Anteil der Wahlkampfthemen, die von den Bürgern direkt mit einem „politischen Gesicht“ verbunden wurden, allein in Deutschland von unter 20 Prozent im Jahr 1960 auf über 40 Prozent in 2000.

Personen liefern den Bürgern einen „information shorcut“, sie sind leichter verdaubar und haben auch einen höheren Nachrichtenwert. Das beste Beispiel hierfür ist die Familienpolitik der CDU: Eigentlich war die Familienpolitik lange Zeit ein Thema, das von der SPD „besetzt“ wurde. Mit Ursula von der Leyen verdrängte die CDU die SPD allerdings – Ursula von der Leyen gibt dem Thema Familienpolitik ein überzeugendes und sichtbares Gesicht. Ein anderes Beispiel ist die fehlende Personalisierung bzw. die fehlenden Personalisierungsmöglichkeiten auf europäischer Ebene: Uns allen wäre Europa vertrauter, europäische Themen eingängiger, wenn sie mit einem Gesicht verbunden wären.

Der familienpolitische Vorstoß von Franz Müntefering ist somit sicherlich sinnvoll, da die SPD in diesem Bereich präsenter werden muss. Ob er allerdings mittelfristig als „information shortcut“ dienen kann, darf bezweifelt werden. Münte ist sicherlich eine Allroundwaffe, aber zum Thema Familienpolitik muss die SPD noch etwas tiefer in die Personalkiste greifen…

 

Wahlkämpfer aufgepasst!

Die diesjährige Tagung der MPSA steht noch ganz im Zeichen des US-Präsidentschaftswahlkampfs aus dem vergangenen Jahr. Das Panel „Campaigns: Do They Matter?“ lieferte – wie viele andere auch – höchst interessante Ergebnisse zu Tage. Simon Jackman (Stanford University) und Lynn Vavreck (University of California, Los Angeles) verglichen die Wähler in den Battleground States der US-Wahl mit ihren Pendants in anderen Staaten. Wie wirkte sich der massive Wahlkampf, der in diesen umkämpften Staaten stattfand, aus? Er verwirrte die Wähler! Sie trauten sich seltener als die Bürger in anderen Staaten zu, die Positionen der beiden Hauptkontrahenten bei wichtigen politischen Sachfragen einzuschätzen. Zugleich konnten Gabriel Lenz und Chappell Lawson (Massachusetts Institute of Technology) zeigen, dass das Aussehen (genauer gesagt: das Gesicht!) von Kandidaten Konsequenzen hat. Je hübscher ein Kandidat (betrachtet wurden hier Kandidaten bei Senatswahlen), desto besser schneidet er ab. Dabei ist dieser Effekt vor allem bei jenen Wählern zu beobachten, die viel Fernsehen schauen, sich aber eigentlich wenig für Politik interessieren. Bundestagswahlkämpfer also aufgepasst: Macht Eure Kandidaten hübsch, aber lasst sie nicht zu viele (und damit verwirrende) Botschaften aussenden. Oder?

 

Blogs und Journalisten

Robin Meyer-Lucht bloggt auf www.carta.info unter dem Titel „Das große Unbehagen der Großjournalisten mit dem Internet: heute mit Peter Frey“ zum Verhältnis von Journalisten und Blogs.
Zu seiner anekdotischen Evidenz gibt es auch noch systematische Empirie. In einer via Internet durchgeführten Befragung der Mitglieder der Bundespressekonferenz aus dem Sommer 2007, an der sich 185 Mitglieder der BPK beteiligten, sollten diese einerseits ihre eigenen Blogaktivitäten skizzieren, aber auch ihre Einschätzungen zu Blogs abgeben.
Die folgende Abbildung zeigt zunächst die Blogaktivitäten der Journalisten zum Erhebungszeitpunkt:

Weniger als die Hälfte der befragten Journalisten liest demnach Blogs. Die Abbildung zeigt darüber hinaus, dass die politische Nutzung von Blogs relativ weit verbreitet ist. Wenn die befragten Journalisten also überhaupt Blogs lesen, so sind dies sehr häufig – wenn auch nicht ausnahmslos – politische Blogs. Vor dem Hintergrund der Grundgesamtheit (Bundespressekonferenz) kann dies allerdings wenig verwundern.
Eine der positiven Eigenschaften, die Blogs allgemein zugeschrieben werden, ist die Geschwindigkeit, mit der sie auf Ereignisse und Informationen reagieren. Dass sich dies auch auf die klassischen Medien übertragen kann, setzt voraus, dass auch die Journalisten zeitnah Blogs verfolgen. Dem ist allerdings kaum so: Nur jeder fünfte Journalist liest mehrmals in der Woche Blogeinträge, dies entspricht weniger als der Hälfte der Blog lesenden Journalisten. Die häufigste Antwort auf die von uns gestellte Frage ist ‚mehrmals im Monat‘ – unter diesen Umständen wird man also kaum von einer zeitnahen Informationsaufnahme ausgehen können. Die Distanz zwischen Blogs und Journalisten zeigt sich schließlich am deutlichsten, wenn man nach der aktiven Teilhabe an der Blogosphäre fragt. Elf der 179 befragten Journalisten betreiben selber einen Blog, weitere acht kommentieren ab und an Einträge, was in der Summe einem Wert von rund zehn Prozent aktiver Blognutzung entspricht.
Eine kritische Distanz dominiert auch die Einstellungen der Journalisten zum Thema Blogs, wie die folgende Abbildung zeigt:

Die Aussagen, die den Journalisten zur Bewertung (auf einer fünfstufigen Antwortskala) vorgelegt wurden, weisen bei nur einer Ausnahme negative Mittelwerte auf, stoßen also eher auf Ablehnung als Zustimmung bei den befragten Journalisten. Lediglich das Item ‚Blogs zeigen Trends‘ stößt im Mittel – gerade so – auf etwas mehr Zustimmung als Ablehnung. Weiterhin werden Blogs am ehesten noch als Inspirations- und Informationsquelle gesehen, doch selbst hierfür sind die resultierenden Mittelwerte schon negativ. Noch skeptischer schließlich sind die Journalisten, wenn es um Fragen der Ausgewogenheit einzelner Blogs, aber auch der Blogosphäre insgesamt geht sowie bei der Beurteilung des Verhältnisses zwischen Blogs und Journalismus: Blogs – so die mehr oder minder einhellige Meinung – bilden keine Konkurrenz und Alternative zum klassischen Journalismus und werden dies auch zukünftig nicht tun.

Ein Informationsfluss aus der Blogosphäre in die klassischen Medien ist somit nicht zu erwarten. Vielleicht sollte man besser ‚bisher nicht‘ sagen. Die Abbildung zeigt nämlich neben den Gesamtwerten noch eine weitere Differenzierung nach der eigenen Blognutzung – differenziert nach Befragten ohne Blogerfahrung, Bloglesern und Bloggern. Diese Differenzierung liefert bei einigen Items recht deutliche Unterschiede. Mit wachsender Vertrautheit mit Blogs steigt offenkundig zumindest auf einigen Dimensionen das Ansehen der Blogs. Dies gilt nicht unbedingt für die Frage der aktuellen und zukünftigen Konkurrenz. Hier sind sich die Journalisten doch weitestgehend einig, dass die Medien konkurrenzlos bleiben. Aber mit Blick auf die Ausgewogenheit und auch die Zitationswürdigkeit sind Blogger doch deutlich optimistischer und positiver gestimmt. Dies umfasst auch die Frage, ob Blogs Inspirationsquelle sein könnten. Unterstellt man nun, dass die Blognutzung in Deutschland allgemein, aber auch bei Journalisten zukünftig ansteigen wird (aktuelle Trends wie das ZDF-Wahlblog zeigen dies ja), so könnte man erwarten, dass damit auch der mögliche Einfluss von Blogs auf den hier skizzierten Wegen zunehmen wird. Für den Moment aber bleibt das Verhältnis zwischen klassischen und neuen Medien von gegenseitigem Misstrauen und mangelnder Vertrautheit geprägt. Im Fußball würde man sagen: Beide Mannschaften tasten sich noch ab, aber es kommt noch kein Spielfluss zu Stande. Die wenigen Fälle, in denen Themen der Blogosphäre in die Medien gelangen, beruhen eher auf gelungenen Einzelaktionen einzelner Spieler denn auf einem funktionierenden Spielaufbau. Im Fußball ist dies häufig ein Merkmal der ersten, von gegenseitigem Respekt geprägten Minuten eines Spiels. Man darf gespannt sein, ob dies auch für die Blogosphäre und die Massenmedien gilt.

(Noch mehr Infos dazu gibt es hier: Holler, Sebastian, Sven Vollnhals & Thorsten Faas (2008). „Focal Points und Journalisten – Bedingungen für den Einfluss der Blogosphäre?“. In: Zerfaß, Ansgar, Martin Welker & Jan Schmidt (Hrsg.). Kommunikation, Partizipation und Wirkung im Social Web. Köln. S. 94-111.)

 

„As Hessen goes, so goes the nation“

So gering das Medienecho derzeit auch sein mag: Das Spektakel um den hessischen SPD-„Abweichler“ Jürgen Walter hat eine bundespolitische Dimension. Einerseits kann die Krise der hessischen SPD jederzeit auf die Bundespartei überschwappen, wenn die laufenden Verfahren nicht schnell und möglichst geräuschlos beendet werden. Und andererseits ist die politische Stimmung in Hessen ein wichtiger Gradmesser für das gesamte Bundesgebiet.

Denn Hessen ist das deutsche Ohio. Dort, im vielleicht wichtigsten amerikanischen „swing state“, nehmen die Bürger stolz für sich in Anspruch, bei den Wahlen zum Präsidenten der Vereinigten Staaten eine Art politischer Kompass der Nation zu sein: „As Ohio goes, so goes the nation“ ist das Credo. Tatsächlich lagen die Wähler zuletzt 1960 nicht im nationalen Trend, als sie mehrheitlich für Richard Nixon votierten, John F. Kennedy jedoch die Wahl gewann. Seither aber gingen die 20 Stimmen Ohios in zwölf Präsidentschaftswahlen nacheinander an den späteren Sieger.

Die hessische Bilanz in den Bundestagswahlen ist ähnlich beeindruckend. Seit dem Ende der ersten Großen Koalition 1969 galt bis zur Wahl 2005: Wer Hessen gewinnt, stellt auch den Kanzler. Erst die zweite Große Koalition der Geschichte beendete diesen Trend. 2005 hatte die SPD in Hessen einen Vorsprung von zwei Prozentpunkten, während sie bundesweit denkbar knapp hinter der CDU landete.

Natürlich ist die Aussagekraft solcher Beobachtungen begrenzt, zumal bei der Bundestagswahl nicht das in den USA verbreitete „The winner takes it all“-Prinzip gilt. So stimmen die Wahlmänner Ohios geschlossen für den siegreichen Kandidaten, die Wahlergebnisse der Parteien in den deutschen Bundesländern werden hingegen anteilig in das bundesweite Ergebnis eingerechnet. Eine neuerliche Wahlschlappe in Hessen bei der Bundestagswahl würde die SPD allerdings definitiv einige Sitze kosten. Gut zeigen lässt sich dies am Beispiel der Direktmandate: Bei der Bundestagswahl 2005 gewann sie 13 von den 21 hessischen Direktmandaten, in der Landtagswahl vom Februar 2009 waren es noch ganze neun von möglichen 55.

Die Spaltung der hessischen SPD in zwei Lager muss die Bundespartei alarmieren, selbst wenn dies ein rein hessisches Problem bleiben sollte. Verdruss an der Basis und eine schwierige Mobilisierung der Wähler wären unmittelbare Folgen für die Bundestagswahl. In den USA nennt man Ohio auch einen „battleground state“. Diese Metapher muss sich die SPD bewusst machen: Es gilt, um die Wähler zu kämpfen.