Lesezeichen
 

Kurz, knapp, Merkel…

… so könnte man die Wahlkampfstrategie der CDU zusammenfassen. Bereits im Sommer letzten Jahres verkündete die Partei, einen Blitzwahlkampf ums Kanzleramt führen zu wollen. Als Muster galt die Kampagne von Ole von Beust in Hamburg. Im Gegensatz zur SPD, die vor wenigen Tagen den Wahlkampf eröffnet hat, möchte die Union ihr Programm erst Ende Juni vorstellen.

Der Fokus der Kampagne scheint unterdessen längst klar zu sein: Angela Merkel. Die Beliebtheit der Amtsinhaberin einerseits und die inhaltlichen Streitigkeiten der Unionsparteien andererseits legen eine Betonung der Person Angela Merkel nahe. Diese Strategie passt zum allgemein erkennbaren Trend der Personalisierung der Wahlkämpfe. Die Wähler richten ihre Wahlentscheidung zunehmend nach den Kandidaten aus.

Das Vorbild ist hier einmal mehr Barack Obama. Allerdings hat gerade seine Kampagne eines deutlich gemacht: Ohne Themen geht es nicht! Erst als der Kandidat Obama im Zuge der immer deutlicheren Krise das Thema Wirtschaft besetzen konnte, stiegen seine Umfragewerte. Erst dann lag er plötzlich vor John McCain.

Die Forschung sagt, dass in einem Wahlkampf Person, Partei und Programm zusammenpassen müssen. Zudem haben diese Studien auch gezeigt, dass es für eine Partei von Vorteil ist, früh mit dem Wahlkampf zu beginnen – so haben die Wähler mehr Zeit, diese Verbindungen von Personen und Inhalten (die „information shortcuts“) zu verinnerlichen. Für die Union heißt das, dass sie sich nicht allein auf die Beliebtheit und den Amtsbonus der Kanzlerin verlassen kann. Sie hat dadurch sicherlich einen Startvorteil. Aber ohne die passenden Inhalte wird sie diesen Vorsprung nicht halten können.

 

Flach- oder Bergetappe?

Das Ziel ist klar – am 27. September 2009, Punkt 18.00 Uhr werden die Wahllokale schließen, ist das Rennen zu Ende. Doch wie ist das Profil der Strecke bis dorthin? Die SPD interpretiert den Wahlkampf als Bergetappe: Der Tempodrom-Berg vom vergangenen Sonntag war nur der erste Schritt in ihrem langen Wahlkampf, viele weitere Anstiege stehen noch bevor, kontinuierlich wird gearbeitet. Die Union (und vor allem die CDU) dagegen fährt eine Flachetappe: Mitrollen im Feld, volle Konzentration auf die letzten Meter des Rennens, in denen der Zielsprint (und sogar das Zielfoto?) über Sieg oder Niederlage entscheidet. Ein Last-Minute-Wahlkampf wird derzeit im Adenauerhaus geplant.
Ist das eine „gefährliche Strategie“, wie die Süddeutsche Zeitung heute schreibt? Werfen wir einen Blick auf die vergangene Bundestagswahl 2005: Wann haben sich die Wähler entschieden?

 


Quelle: Projekt „Kampagnendynamik 2005“

 

Tatsächlich war der Zielsprint fulminant: Fast zehn Prozent der Wahlberechtigten haben nach eigenen Angaben ihre Entscheidung erst am Wahltag getroffen, weitere fünfzehn Prozent in den Tagen unmittelbar vor der Wahl. Das sind beeindruckende Zahlen, die das Bild der Flachetappe stützen. Ebenso aber gilt: 75 Prozent der Bürger – also drei Mal so viele – haben ihre Entscheidung früher getroffen. Und gerade die Union hatte 2005 schon vergleichsweise früh ihre Basis mobilisiert, wie die Abbildung ebenfalls zeigt.
Wer wird dieses Mal gewinnen: Steinmeier im gepunkteten Trikot (des besten Bergfahrers)? Merkel im grünen Trikot (der besten Sprinterin)? Der Sieger der Tour de France trägt bekanntlich das gelbe Trikot.

 

Zwei rechts, zwei links – wo steht die SPD unter Frank-Walter Steinmeier?

Die Veröffentlichung des SPD-Wahlprogramms am vergangenen Wochenende zur Bundestagswahl hat nicht nur ein breites Medienecho ausgelöst, sondern auch die parteipolitischen Mitbewerber zu Äußerungen zum politischen Kurs der Sozialdemokratie im Hinblick auf künftige Koalitionen veranlasst. Die Unionsparteien und insbesondere die Liberalen kritisierten vor allem die wirtschafts- und sozialpolitischen Positionen der SPD als zu staatsinterventionistisch. Den FDP-Vorsitzenden Westerwelle veranlasste das programmatische Konzept der Sozialdemokraten sogar zu einer Absage an die Adresse der Sozialdemokraten: Ein Bündnis mit der SPD sei auf der Grundlage dieses Programms „völlig ausgeschlossen”, das SPD-Programm sei für „die Linksfront” geschrieben, so zitiert ihn die Süddeutsche Zeitung heute.

Ist die SPD mit ihrem Wahlprogramm 2009 wirklich nach links gerutscht, wie die bürgerlichen Parteien suggerieren? Oder stehen die Sozialdemokraten mit dem Schröder-Vertrauten Frank-Walter Steinmeier als Kanzlerkandidaten nach wie vor in der Tradition der „Agenda 2010“-Politik? Ein vergleichender Blick auf die Wahlprogramme der SPD zeigt: Tatsächlich ist das vorgelegte Programm der SPD vergleichsweise links. Auf einer Skala von von 1 (links) bis 20 (rechts) erhält „Sozial und Demokratisch“ – so der Titel des Programms – einen Wert von 6,1.

Zum Vergleich: Die SPD-Programme der jüngeren Vergangenheit lassen sich bei 7,1 (1990 unter Oskar Lafontaine), 8,6 (1994 unter Rudolf Scharping) sowie 8,4 (1998 und 2002) und 8,1 zur Wahl 2005 unter Gerhard Schröder verorten. Die SPD ist unter Frank-Walter Steinmeier tatsächlich nach links gerutscht.

Aber Vorsicht vor zu schnellen Schlüssen – gemeinsam mit der SPD könnten auch alle anderen Parteien im Zuge der Wirtschaftskrise nach links gerutscht sein. Inwiefern dies ein genereller Trend über alle Parteien hinweg ist, wird die Analyse der Programme der anderen Parteien zeigen müssen (bei der FDP etwa deutet sich dies bereits an). Festzuhalten bleibt aber: Ganz falsch lagen die Einschätzungen von FDP- und Unionsvertretern zur inhaltlichen Ausrichtung des aktuellen SPD-Wahlprogramms nicht. Ebenso aber gilt: Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen.

Hinweis zur Methode: Den Werten liegt eine computergestützte Inhaltsanalyse der Wahlprogramme (basierend auf Wordscores) aller im Bundestag vertretenen Parteien seit 1976 zugrunde, die auf relativen Worthäufigkeiten in den jeweiligen Dokumenten basiert. Zur Eichung der Skala wird das Jahr 2002 verwendet: Die auf einer Expertenbefragung basierende Einstufung der Parteien auf einer allgemeinen Links-Rechts-Achse zu dieser Wahl dient als Ankerpunkt für die Textanalyse.

Weitere Informationen gibt es hier:
Thomas Bräuninger/Marc Debus: Der Einfluss von Koalitionsaussagen, programmatischen Standpunkten und der Bundespolitik auf die Regierungsbildung in den deutschen Ländern. Politische Vierteljahresschrift, 49 (2008), S. 309-338
Thomas Bräuninger, Marc Debus: Estimating Hand- and Computer-Coded Policy Positions of Political Actors Across Countries and Time, Vortrag auf der Jahrestagung der Midwest Political Science Association in Chicago, Illinois/USA.

 

Dieter Althaus zurück im Amt

Gestern war es also soweit, Dieter Althaus hatte seinen ersten offiziellen Arbeitstag und stand den Medien Rede und Antwort. Wir haben diesen Moment alle mit Spannung erwartet. Es war offensichtlich, dass Althaus dem Rat seines engen politischen Umfeldes gefolgt ist, und das Schuldeingeständnis kam. Er trage schwer an der Schuld, hieß es aus seinem Munde, und ohne Zweifel, das glaubt man ihm. Es braucht hierzu auch keine großen Gefühlsregungen, wie von vielen erwartet wurde. Das Wort allein zählt.

Aber: Es ist letztendlich der Respekt vor der Tat selbst, vor dem was vorgefallen ist, was unwiderruflich ist. Dieser Respekt vor dem Geschehenen hätte Dieter Althaus schon längst dazu veranlassen sollen zu pausieren, den Wahlkampf auszusetzen. Wäre die Wahl in Thüringen erst nächstes Jahr, so wäre ein ruhigerer, unauffälligerer Einstieg in die Politik, in den Alltag von Dieter Althaus wieder möglich gewesen. Aber so ist es nun mal nicht. Immerhin ein Fünftel der Thüringer gab bei einer Infratest-dimap-Umfrage Ende März an, dass die Vorfälle um Dieter Althaus ihre Wahlentscheidung beeinflussen, und 36 Prozent fanden es nicht richtig, dass er wieder antritt. Ob sich diese Stimmung bis zum Wahltag im August auflösen wird, ist fraglich.

 

Das Saarland sucht seine Mitte

Oskar Lafontaine ist seit Samstag offiziell Spitzenkandidat der saarländischen Linken – für die Bundestagswahl im September ebenso wie für die Landtagswahl im August. Und auch sonst deutet vieles darauf hin, dass die Wahl im Saarland eng mit der Bundestagswahl einen Monat später verwoben sein wird und von Saarbrücken aus wichtige Signale nach Berlin gesendet werden – gerade auch mit Blick auf das schwierige Verhältnis der SPD zur Linkspartei.

Bei der Wahl am 30. August könnte erstmals in einem westdeutschen Bundesland die Linkspartei vor der SPD landen, erstmals hat neben den Spitzenkandidaten der Volksparteien CDU und SPD noch eine dritte Person realistische Aussichten, Ministerpräsident zu werden. Eine aktuelle Emnid-Umfrage vom vergangenen Donnerstag hat ermittelt, dass die CDU derzeit auf 38 Prozent käme, SPD und Linke annähernd gleichauf bei 23 bzw. 22 Prozent lägen und auch FDP (8 Prozent) und Grüne (5 Prozent) in den Landtag einziehen würden. Es ist also vollkommen offen, ob es eine linke oder eine bürgerliche Mehrheit geben wird und welche der linken Parteien die stärkste werden wird.

Diese Sondersituation spiegelt sich auch im Wahlkampf wider: Man konnte zunächst den Eindruck gewinnen, dass sich auch die Parteistrategen noch nicht mit den besonderen Spielregeln dieser Schachpartie mit drei Königen angefreundet haben. Der Schwerpunkt der Bemühungen lag ganz klassisch auf der Mobilisierung des eigenen Lagers, man betrieb Selbstdefinition durch Abgrenzung (Heiko Maas gegenüber seinem politischen Ziehvater Lafontaine, die CDU gegenüber einem möglichen Linksbündnis). Das offensive Werben um Wähler aus der Mitte oder anderen Lagern schien dabei zeitweilig in den Hintergrund zu rücken. Solche Beobachtungen finden sich auch in der Parteiensystemforschung: Nach Giovanni Sartori setzen Parteien insbesondere dann auf die Mobilisierung des eigenen Lagers, wenn es viele relevante Parteien gibt und die politische Mitte der Gesellschaft somit zu eng zu werden droht. Im Falle des Saarlandes könnten dieses Jahr fünf Parteien in den Landtag einziehen, so viele wie seit über vierzig Jahren nicht mehr.

Schritt für Schritt beginnen die Saar-Parteien nun, auch außerhalb des eigenen Lagers um Stimmen zu werben. Einer der ersten Schauplätze hierfür ist die Bildungspolitik. Das ist nicht überraschend, da dies eines der zentralen Wahlkampfthemen sowohl der SPD als auch der Linkspartei ist – dementsprechend müssen sich hier auch Ministerpräsident Peter Müller und die CDU erkennbar positionieren. Ein interessantes Beispiel ist die Maßnahme der Regierung zur Entlastung der Studierenden, indem das Land die Zinsen auf Studiengebührendarlehen übernimmt. Natürlich geht dieser Schritt den Gegnern von Studiengebühren noch nicht weit genug. Viele Studentinnen und Studenten werden sich aber über diese Unterstützung freuen, die auch von Befürwortern der Studiengebühren mitgetragen werden kann – aus Wahlkampfperspektive also eine gelungene Kombination aus Öffnung zur Mitte und Berücksichtigung der Interessen der Anhängerschaft. Die SPD hat nachgelegt und prangert unter anderem in einem aktuellen YouTube-Clip die Schulpolitik der Regierung Müller an:

Zugleich wendet sich aber auch ihr Spitzenkandidat Heiko Maas in einem anderen, viel beachteten Spot an die politische Mitte, in dem er in landesväterlicher Manier die Heißsporne Müller und Lafontaine zur Vernunft ruft. Auch die SPD übt also den Spagat, der sich daraus ergibt, dass man zum einen die eigenen Anhänger bedienen und zum anderen als Volkspartei für alle wählbar sein möchte.

Einzig die Linkspartei bewegt sich nicht erkennbar auf die Mitte zu – sie verweist auf bereits bestehende Übereinstimmungen mit der SPD und scheint überdies zu hoffen, dass ihr die Mitte entgegen kommt. Dies ist nicht unplausibel: Kurz vor der Wahl werden die Kandidaten und damit auch der populäre Oskar Lafontaine im Mittelpunkt stehen, zudem wird aktuellen Vorhersagen zufolge die Wirtschaftskrise im Sommer endgültig in Deutschland ankommen und die Arbeitslosenzahlen steigen lassen. Vielleicht setzt dann der lange erwartete Schub für die Linkspartei ein, der Unentschlossene überzeugen und die politische Mitte des Saarlandes erneut verschieben könnte.

 

Die SPD eröffnet den Wahlkampf – mit einem nüchternen aber im Wahlkampf belastbaren Programm

Endlich dürfen die Sozialdemokraten wahlkämpfen – das machen sie gerne, manche nennen sie auch eine Kampagnenpartei. Im Gegensatz dazu ist die CDU Wahlkämpfen gegenüber eher skeptisch gestimmt – zu schmerzhaft sind da noch die Erinnerungen an 2005, als von einem zeitweilig sehr großen Vorsprung am Wahlabend quasi nichts mehr übrig blieb. Und auch in der Wahl davor hat sich die SPD als die Partei erwiesen, der es gelingt, ihre Anhänger auf den Punkt hin zu mobilisieren.

Das Wahlprogramm hat – kurz gefasst – zwei wichtige strategische Botschaften: klare Abgrenzung nach links und Koalitionsoptionen nach allen Seiten. Die Themenfelder sind klar abgegrenzt und eher nüchtern. Spannend wird sein, auf welche zwei bis drei Themen die SPD im Wahlkampf setzen und mit welchen Personen sie diese besetzen wird. Die Themenhoheit über die Familienpolitik wird der CDU mit Ursula von der Leyen nicht zu nehmen sein; in der Außenpolitik und im Krisenmanagement wird (trotz eines SPD-Außenministers) Angela Merkel sichtbar werden – was bleibt dann noch?

Warum positioniert sich die SPD in Zeiten großer wirtschaftlicher Verwerfungen und dem Ruf nach mehr Politik, nach der starken Hand des Staates, nicht klarer links? Scheut sie hier die Auseinandersetzung oder die Nähe gar mit Oskar Lafontaine? Und die zentrale Frage lautet: Warum ist so wenig Inhaltliches von Frank-Walter Steinmeier erkennbar? Natürlich: Wahlkämpfe streiten sich um „Brot-und-Butter“-Themen. Innenpolitische Themen stehen bei den Wählern ganz oben auf der Agenda. Aber als Vizekanzler kann er auch diese für sich beanspruchen. Es geht nicht um den Außenminister sondern um den Vizekanzler. Und der muss sichtbarer werden – nur so hat die SPD eine reale Chance auf ein respektables Ergebnis im September.

Frank-Walter Steinmeier muss dabei nicht mit Gerhard Schröder brechen, um sich zu positionieren. Er hat die Agenda 2010 mitgeschrieben und verantwortet, als Kanzlerkandidat wäre daher auch die Weiterentwicklung seine Aufgabe. Mehr Steinmeier hätte dem Programm gutgetan – im Sinne des Wahlerfolges.

 

Europawahlen paradox

Am 7. Juni sind Europawahlen. Aber wie viele Menschen werden sich dafür extra auf den Weg ins Wahllokal machen? Noch vor wenigen Monaten hatten laut der letzten Herbstbefragung des Eurobarometer 57 Prozent der Deutschen gar keine Ahnung davon, dass 2009 ein neues Europaparlament gewählt wird. Und 54 Prozent der Befragten meinten, dass sie das sowieso nicht interessiert. Kein Wunder also, dass auch nur 36 Prozent von ihnen versicherten, am 7. Juni das Europaparlament definitiv mitwählen zu wollen. 36 Prozent! Vorausgesetzt, es käme so, wäre das für Deutschland noch einmal ein Rückgang der Wahlbeteiligung auf Europaebene um 7 Prozentpunkte.

Diese Ergebnisse erscheinen paradox. Denn im Herbst 2007 waren laut Eurobarometer 47 Prozent der Deutschen der Meinung, dass in der EU das Europaparlament die meisten Entscheidungsbefugnisse haben sollte, und 48 Prozent wollten ihm eine größere Rolle zugestehen. Wenn das so ist, warum unterstützen die Menschen das Europäische Parlament dann nicht mit der Abgabe ihrer Stimme?

Eine Standardantwort der Europaforscher darauf ist, dass die Menschen wohl nicht den Eindruck hätten, dass bei den Europawahlen viel auf dem Spiel stehe. Schließlich wird ja nicht einmal eine richtige Regierung gewählt. Wozu dann der Stress? Ganz ähnlich hat es auch Jens Tenscher kürzlich in einem Beitrag zu diesem Blog gesehen. Da gibt es nur ein Problem: An der ersten Europawahl 1979 haben sich noch zwei Drittel der Deutschen beteiligt und an den darauf folgenden drei Europawahlen bis einschließlich 1994 eine klare Mehrheit. Vor dreißig Jahren gab es auch keine europäische Regierung zu wählen. Außerdem hat das Europaparlament seither seine Kompetenzen und Einflussmöglichkeiten im europäischen Entscheidungssystem systematisch ausgebaut. Gemessen an diesem Bedeutungszuwachs für das europäische Repräsentationsorgan steht bei den Europawahlen heutzutage recht viel und eigentlich immer mehr auf dem Spiel. Das gilt umso stärker, je mehr Politikbereiche der nationalen Alleinverantwortung entzogen und an die europäische Ebene delegiert werden.

Das Europäische Parlament wird also immer mächtiger – aber für wen eigentlich? Und woran liegt es denn nun, dass es so vielen Menschen vollkommen egal ist, wann Europawahlen sind und welche Abgeordnete sie „nach Europa“ schicken?

 

Von den Großen lernen: Die kleinen Parteien rüsten sich für den „ground war“

Was die beiden großen Parteien im letzten Bundestagswahlkampf 2005 vorgemacht haben, hält in diesem Superwahljahr auch bei den kleinen Parteien in vollem Umfang Einzug: grassroots campaigning. Das heißt zu Deutsch so viel wie „Wahlkampf an der Wurzel“ und bedeutet, die Parteibasis und freiwillige Unterstützer zu aktivieren, die der Partei beim Wahlkampf unter die Arme greifen. Die Wahlkampfaktivitäten sind dabei ganz verschieden und erstrecken sich von der Verteilung von Werbematerial, der Veranstaltung von Hauspartys und der Unterstützung bei Großveranstaltungen bis hin zu Aktionen im Internet oder per Handy. Die Wahlkampfkommunikationsforschung bezeichnet diese Art von Kampagnenaktivität als „ground war“ und meint damit den Kampf um Wählerstimmen am „Boden“ mit Hilfe von dialogorientierter lokaler Wahlkreiskommunikation. Hiervon wird der „air war“ unterschieden, d.h. der Kampf um Wählerstimmen von „oben“ mit Hilfe der klassischen Massenmedien Fernsehen, Radio und Tageszeitungen. Die Koordination der Wahlkampfhelfer findet im „ground war“ primär über das Internet statt, vor allem mittels eigens eingerichteter Plattformen auf den Parteiwebsites. SPD und CDU haben dieses Wahlkampftool nach amerikanischem Vorbild in Form des „teAM Zukunft“ (CDU) und der „roten Wahlmannschaften“ (SPD) für ihre letzten Kampagnen systematisch genutzt und auf ein Kommunikationsmittel gesetzt, das seine Anfänge bereits in den Kinderschuhen der Wahlkampfkommunikation hatte: Die dialogorientierte lokale Wahlkreiskommunikation war schon in der vormodernen Phase der Wahlkampfkommunikation (ca. 1920-1945) das Mittel der Wahl, mit dem kleinen Unterschied, dass hier die direkte Kommunikation mit dem Wähler ausschließlich mittels interpersonaler Kommunikation stattfand. Heute wird diese direkte „Face-to-face“-Kommunikation mit dem Wähler durch neue Informations- und Kommunikationstechnologien wie das Internet ergänzt, die zusätzlich eine gezielte und effiziente Koordination des Helferpools möglich machen.

Schaut man sich die Websites der kleinen Parteien in diesem Wahlkampf an, so scheint es, dass sie von den Großen gelernt haben. Die FDP hat mit ihrem Kampagnenportal „mit mach arena“ in Sachen Professionalität dabei die Nase vorn: Interessierte können sich auf einem ansprechend designten multimedial gestalteten Portal anmelden und haben die wichtigsten Unterstützerbereiche sofort im Blick: Online-Foren und communities wie facebook und youtube, Handy-Newsletter und Aktionen sowie weblogs – die FDP steht den beiden großen Parteien in diesem Jahr in nichts nach. Dabei präsentiert sich die FDP so, wie es auch empirische Studien zur Professionalisierung der Wahlkampfkommunikation in Deutschland belegen: Als fast gleichauf mit den großen Volksparteien, trotz geringeren Budgets und geringerer Mitgliederzahl (auf dem CAMPROF Professionalisierungsindex von Rachel Gibson und Andrea Römmele erzielten die FDP 21, die SPD 27 und die CDU 24 von insgesamt 30 Punkten im Rahmen des Bundestagswahlkampfes 2005). Die Grünen und die Linke legen dabei einen bei weitem nicht so professionellen Auftritt an den Tag. Das Kampagnenportal der Grünen „meine Kampagne“ ist zwar auch ansprechend gestaltet, deutlich weniger interaktive und multimediale Angebote bestätigen jedoch den empirisch bewiesenen abgeschlagenen vierten Platz der Grünen in Sachen Professionalität (13 von 30 Punkten im Rahmen des Bundestagswahlkampfes 2005 auf dem CAMPROF Professionalisierungsindex). Bedenkt man, dass die Grünen im Bundestagswahlkampf 2005 noch kein eigenes Mitgliedernetzwerk hatten, ist diese Kampagnenwebsite jedoch ein großer Schritt. Die Linke präsentiert sich im Trio der kleinen Parteien in Sachen grassroots campaigning als Schlusslicht, ihr Wahlkampfportal ist kaum elaboriert. Auf der Parteiwebsite erst auf den zweiten Blick zu sehen, finden sich kaum ansprechende und interaktive Elemente auf dem Kampagnenportal. Interessierte haben lediglich die Möglichkeit, sich für bestimmte Wahlkampfaktivitäten registrieren zu lassen, und erhalten dann von der Partei die entsprechenden Informationen. Doch von den Großen lernen lohnt sich, denn grassroots campaigning bietet gerade für kleine Parteien große Chancen. Durch den gezielten Einsatz des Internets ist kein großer Wahlkampfetat nötig, um effizienten Wahlkampf zu betreiben, kurzum: Das Internet bietet den kleinen Parteien die Möglichkeit, mit den beiden großen Parteien bei dieser Wahlkampfstrategie gleichzuziehen!

 

Ein verfassungswidriges Zünglein an der Waage?

Wahlsystemfragen gelingt es nur selten, über einen eng umgrenzten Spezialistenzirkel hinaus öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Die Überhangmandatsklausel bildet dazu keine Ausnahme. Vermutlich hat mancher Beobachter sogar den Eindruck gewonnen, sie diene vor allem dazu, Institutionen der politischen Bildung eine Legitimationsgrundlage zu schaffen und Examenskandidaten verschiedener Studienfächer in Verlegenheit zu bringen. Im Juli 2008 jedoch bündelte diese Regelung das Interesse der Öffentlichkeit. Denn das Bundesverfassungsgericht verwarf das gültige Bundestagswahlsystem wegen des mit den Überhangmandaten zusammenhängenden Problems des so genannten „negativen Stimmgewichts“. Allerdings forderte es nicht eine umgehende Änderung des Wahlsystems, sondern gab dem Gesetzgeber dafür bis Ende 2011 Zeit. Diese Entscheidung begründete es vor allem mit der Komplexität der zu regelnden Materie.

Diese Entscheidung dürfte den Verfassungsrichtern umso leichter gefallen sein, als Überhangmandate bisher die Machtverteilung zwischen parlamentarischer Mehrheit und Minderheit, also die zentrale Machtfrage in der parlamentarischen Demokratie, im Kern unberührt ließen. Aus der Tatsache, dass bislang noch keine Regierung ihre Mehrheit Überhangmandaten zu verdanken hatte, folgt freilich nicht, dass dies im Jahr 2009 ebenfalls so sein wird. Die Zukunft ist nicht notwendigerweise eine Fortschreibung der Vergangenheit. Dies gilt nicht nur für Aktien, die nach jahrzehntelang aufsteigender Tendenz binnen kurzer Zeit dramatisch an Wert verlieren, sondern auch in der Politik können sich die Verhältnisse grundlegend verändern.

Nimmt man – bei aller methodenbedingter Vorsicht – etwa momentane Umfrageergebnisse zum Maßstab, erscheint es beispielsweise nicht ausgeschlossen, dass bei der Bundestagswahl 2009 Union und FDP zwar auf der Grundlage ihrer Zweitstimmenergebnisse keine parlamentarische Mehrheit erhalten, aber Überhangmandate für die Union eine christlich-liberale Mehrheit im Bundestag ermöglichen. Die neue Bundesregierung könnte somit ihre parlamentarische Mehrheit einer vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Regel verdanken. Es ist eine offene Frage, ob eine solche Regierung – getreu dem in verschiedenen parteipolitischen Konstellationen bewährten Grundsatz „Mehrheit ist Mehrheit“ – gebildet würde, wie es um ihr Ansehen und ihre Durchsetzungsfähigkeit bestellt wäre und ob auf juristischem Wege gegen sie vorgegangen würde. In jedem Fall hat das Bundesverfassungsgericht eine politisch delikate Konstellation geschaffen, die Anlass für manche Diskussion bieten dürfte.

 

Warum haben wir keinen Obama?

Sind wir doch mal ehrlich: So einen schicken, charismatischen Präsidenten hätten wir auch gerne. Einen, der uns begeistert, der die Welt begeistert und zu dem jeder (auf)schaut. Über den jeder spricht und sendet und schreibt. Die Reaktionen auf Barack Obamas Besuch in Europa haben wieder einmal unseren Wunsch nach charismatischer Führung gezeigt. Unser politisches System macht es aber schwer, uns diesen Wunsch selbst zu erfüllen – und vielleicht ist das auch gut so. Doch der Reihe nach:

In den USA wird der Präsident offen rekrutiert und selektiert. Er muss sich in der Rekrutierungsphase schon sehr früh die Unterstützung der Bevölkerung sichern. In Primaries (Vorwahlen) geht es darum, sich gegen Kandidaten aus dem eigenen Lager durchzusetzen. Mediale Qualitäten sind bereits sehr früh in der Bewerbung gefragt. In manchen Primaries sind es „nur“ die eigenen Parteimitglieder, manche amerikanischen Staaten haben aber auch offene Primaries, wo sich der Kandidat allen Bürgern stellen muss. Ohne Leidenschaft für das Amt und die Sache, ohne die Skills, auch in den Medien gut rüberzukommen, schafft es hier kaum jemand. Und dann ist da noch der große Show-down, die Presidential Election. Hier werden die Kandidaten direkt vom Volk gewählt (die Wahlmänner sind an das Votum der Wähler gebunden). Anders bei uns: Der Rekrutierungsprozess ist oft ein mühsamer, die Ochsentour durch die Parteien ist nach wie vor der zentrale Rekrutierungskanal des politischen Personals. Hier spielen nicht etwa mediale Qualitäten und Führungsstärke eine Rolle, sondern Sachkenntnis, Integrations- (und wohl auch Leidens-)fähigkeit, Verhandlungsgeschick und nicht zuletzt auch die Tatsache, den richtigen Moment abwarten zu können. Dies schließt zwar Charisma nicht aus, fördert es aber auch nicht gerade. Auf den ersten Blick sicherlich kein allzu attraktiver Weg für Politiker, die an großen Rädern drehen und klar abgezeichnete Karrierepfade und -optionen aufgezeigt bekommen möchten. Und auch die Kür unserer Spitzenkandidaten für das Kanzleramt ist nicht klar: „Der Parteivorsitzende hat das erste Zugriffsrecht“ heißt es so schön. Fest steht nur, wer keine guten Umfrageergebnisse hat, hat wenig Aussicht auf eine Kandidatur – wir alle erinnern uns noch an Kurt Beck.

Dennoch: In parlamentarischen Demokratien geht zum Glück kein Weg an den Parteien vorbei. Sie sind die zentralen Ausbildungsstätten der Politiker, das „training on and for the job“ findet hier statt. In Zeiten, in denen Politik immer vielschichtiger und komplexer wird, braucht es diese solide Basis. Hier werden weniger charismatische Führungsqualitäten gefragt, sondern Sachkenntnis, eine hohe Problemlösungskompetenz und Schnittstellenmanagement – also im Sinne Max Webers „rationale“ Qualitäten.

Das heißt nicht, dass das System nicht offener werden sollte: Wenn wir uns eines aus den USA abschauen sollten, dann ist es die Offenheit für Quereinsteiger – hier wird für politische Spitzenämter fachliches Spitzenpersonal aus Wirtschaft, Verwaltung, Medien und der Gesellschaft rekrutiert. Vielleicht wird die Personaldecke in der deutschen Politik bald so dünn werden, dass die Parteien quasi aus der Not heraus diesen Weg beschreiten. Schöner wäre es allerdings, die Positionen der Quereinsteiger würden überzeugen.