Lesezeichen
 

Wie viel kostet das Mandat?

Wahlkämpfe werden oft als Geldvernichtungsmaschinen charakterisiert. Dabei sind die Budgets der deutschen Parteien sowohl im Vergleich zu Werbeetats der Privatwirtschaft als auch im internationalen Vergleich keinesfalls maßlos. Aber es wird in der Tat für ein Ereignis sehr viel Geld ausgegeben. Mitunter tragen Wahlkampfreserven (wie 2005 bei der SPD) zu Wahlerfolgen bei bzw. kosten auf der Zielgerade Stimmen (wie möglicherweise 2005 bei der CDU). Insbesondere mit Blick in die USA kann der Eindruck entstehen, dass die Höhe des Wahlkampfbudgets über Sieg oder Niederlage entscheidet.

Eine kleine Forschergruppe an der Universität Mannheim war und ist weniger an den Budgets der Parteien interessiert, sondern an den Ausgaben der einzelnen Bundestagskandidaten. Für viele von ihnen geht es um das berufliche Überleben, und das hängt primär vom Erfolg der eigenen Partei ab, zu einem gewissen Grad aber auch vom eigenen Einsatz. Deshalb erwarteten wir geringere Budgets bei reinen Listenkandidatinnen und -kandidaten, höhere bei Wahlkreis- und schließlich die höchsten bei Wahlkreiskandidatinnen und -kandidaten der Volksparteien, die eine reale Chance haben, das Mandat auch tatsächlich zu gewinnen. Gespannt waren wir aber auch darauf, wie hoch das Budgets eines durchschnittlichen Kandidaten ist, und darauf, wie viel Geld er oder sie selbst in den eigenen Wahlerfolg investiert.

Für die gut 1.000 Kandidatinnen und Kandidaten der im Bundestag vertretenen Parteien, die sich an unserer Befragung beteiligt haben, können wir sagen, dass sie im Durchschnitt 10.600 € im letzten Bundestagswahlkampf ausgegeben haben. Die Extremwerte waren 0 € und 150.000 €. Von ihren Parteien bekamen sie im Schnitt 46% dieser Ausgaben finanziert, doch im Durchschnitt 5.700 € Euro (54%) trugen sie entweder selbst bei oder es gelang ihnen, einen Teil davon über Wahlkampfspenden zu finanzieren. Die Parteianteile variierten dabei sehr stark, denn die CSU-Kandidatinnen und -Kandidaten finanzierten gerade einmal 4% über die Parteikasse, die der Grünen immerhin 70%.

Unsere anreizspezifischen Annahmen spiegelten sich ebenfalls gut in den Umfrageergebnissen wider. Wer nur auf einer Parteiliste kandidierte, gab im Durchschnitt lediglich 2.600 € für den Wahlkampf aus, wobei die Spannbreite von durchschnittlich 1.000 € bei den Grünen bis 9.700 € bei der CSU vergleichsweise moderat war. Die Wahlkreiskandidaten von CDU, CSU und SPD gaben im Durchschnitt über 22.000 € für den Wahlkampf aus, wobei die reinen Wahlkreiskandidaten der CDU mit durchschnittlich 39.700 € am meisten investierten. Während bei den SPD-Kandidatinnen und -Kandidaten die Partei mehr als die Hälfte der Ausgaben übernahm, waren es bei CDU und CSU je nach Kandidaturform (nur Wahlkreis oder beides) nur zwischen 0% und 16%. Die Budgets der Wahlkreiskandidaten von FDP, Grünen und Linke waren übrigens erheblich niedriger (2.300€ bis 9.200 €) mit Parteianteilen der Finanzierung zwischen 40% (FDP, Liste und Wahlkreis) und 80% (Grüne, nur Wahlkreis).

Nicht nur die Parteien lassen sich demnach den Wahlkampf einiges kosten. Die Budgets der Wahlkreiskandidaten der Volksparteien sind beträchtlich, und der eigene Beitrag für die Wahlkampfkasse ist ebenfalls erwähnenswert. Wer nur „Listenfüller“, vor allem einer kleineren Partei ist, gibt auch erheblich weniger für den Wahlkampf aus. Die eigene Partei schießt fast immer Geld hinzu, denn die lokale, personifizierte Sichtbarkeit der Kandidatinnen und Kandidaten ist keine unwichtige Komponente im Werben um Erst- und Zweitstimmen.

Literatur: Wüst/Schmitt/Gschwend/Zittel in German Politics 15 (4), 2006.

 

Schwarz-gelb, schwarz-rot, Jamaika oder die Ampel?

Das Scheitern des Regierungsbildungsprozesses nach den Landtagswahlen in Hessen vom Februar 2008 hing maßgeblich mit den von den Parteien a priori getätigten Koalitionsaussagen ab. So schloss die hessische SPD eine Koalition mit der CDU unter der Führung Roland Kochs aus, während die FDP die Bildung einer „Ampelkoalition“ aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen vorab verwarf. Eine Zusammenarbeit mit CDU und FDP wurde durch Bündnis 90/Die Grünen ausgeschlossen. Nachdem durch den Einzug der Linken in den Wiesbadener Landtag kein „traditioneller“ Koalitionsblock (schwarz-gelb oder rot-grün) eine Mehrheit erreichte und die Bildung einer Minderheitsregierung aus SPD und Grünen unter der Tolerierung der Linken am Widerstand innerhalb der Sozialdemokraten scheiterte, waren Neuwahlen der einzige Ausweg aus der festgefahrenen Situation.

Auf Bundesebene sah es zunächst so aus, als ob die Parteien aus der Gefahr zu starker Statements im Hinblick auf definitive Ausschlüsse diverser Koalitionsoptionen gelernt hätten und nur noch positiv formulierte Koalitionsaussagen und damit keine Koalitionsabsagen tätigen würden. Jedoch folgte dem Ausschluss einer Zusammenarbeit mit der Linken durch die SPD die Ablehnung der Grünen, sich an einem Bündnis mit CDU/CSU und FDP zu beteiligen. Auch die Liberalen haben schließlich mehrfach bekräftigt, keine Koalition mit Sozialdemokraten und Grünen eingehen zu wollen.

Nun sind Koalitionsaussagen – egal ob positiv oder negativ formuliert – bei weitem nicht der einzige Faktor, der einen Einfluss auf die parteipolitische Zusammensetzung einer Regierung ausübt. Auf der Grundlage gängiger Koalitionstheorien ist bekannt, dass Parteien auch an der Besetzung politischer Ämter sowie an der Durchsetzung ihrer in Wahlprogrammen festgehaltenen inhaltlichen Positionen interessiert sind. Daraus lässt sich kurz gefasst ableiten, dass Koalitionen umso wahrscheinlicher sind, wenn sie (1) über eine sie stützende Mehrheit im Parlament verfügen, diese Mehrheit jedoch nicht übergroß ist und von so wenigen Parteien wie möglich getragen wird, und (2) aus solchen Parteien zusammengesetzt ist, die möglichst ähnliche programmatische Positionen vertreten. Zusätzlich gibt es theoretische Ansätze, die der stärksten Parlamentspartei einen besonderen Vorteil zusprechen und der amtierenden Koalition einen Startvorteil im Regierungsbildungsprozess zugestehen.

In Deutschland ist ein weiterer Faktor von Bedeutung, der sich aus der Rolle des Bundesrates in der Gesetzgebung ergibt: die Parteien auf Bundesebene sind daran interessiert, in den Ländern solche Koalitionen zu „installieren“, die mit der parteipolitischen Zusammensetzung von Regierung und Opposition auf Bundesebene übereinstimmen. Wenn solche Landesregierungen die Mehrheit der Sitze im Bundesrat stellen, die aus den selben Parteien wie die Bundesregierung gebildet sind, dann sollte es für die Bundesregierung einfacher sein, ihre Gesetzesinitiativen durch die Länderkammer zu bringen als in Situationen, wo die Bundestagsopposition eine Mehrheit im Bundesrat kontrolliert. Umgekehrt sollten die Bundesparteien bei der Koalitionsbildung die aktuelle Mehrheit in der Länderkammer in Betracht ziehen: wenn sich eine Koalition von Beginn an auf eine Mehrheit in der Länderkammer stützen kann, dann sollte dies deren Bildung begünstigen.

Auf der Grundlage eines Datensatzes, der alle 79 Regierungsbildungsprozesse in Bund und Ländern seit Januar 1990 beinhaltet und davon in 66 Fällen (83,5%) die Regierungsbildung korrekt voraussagt, können wir mit Hilfe multivariater statistischer Analysetechniken die Wahrscheinlichkeiten ermitteln, die jede theoretisch denkbare Koalition (hierzu zählen etwa auch Einparteien-Minderheitsregierungen) nach der Bundestagswahl aufweist. Wir unterscheiden zwei Szenarien: in Szenario 1 wird Union und FDP eine Mehrheit der Bundestagsmandate zugewiesen, während in Szenario 2 ein christlich-liberales Bündnis keine Mandatsmehrheit erreicht. Um die Auswirkungen verschiedener Koalitionsaussagen und der Regierungsbildung in Thüringen und im Saarland auf die Koalitionsbildung auf Bundesebene abzuschätzen, ändern wir die Daten so ab, dass

(1) der amtierenden großen Koalition Merkel/Steinmeier kein Amtsinhaberbonus zugewiesen wird,

(2) der Ausschluss einer Zusammenarbeit mit der Linken durch die SPD nicht berücksichtigt wird und

(3) das noch offene Ergebnis der Koalitionsverhandlungen in Thüringen und dem Saarland vorweggenommen werden. In Thüringen gehen wir von der Bildung einer Koalition aus CDU und SPD aus, während wir im Saarland die Bildung einer Jamaika-Koalition erwarten.

Die folgende Tabelle 1 zeigt die Wahrscheinlichkeitsverteilung ausgewählter Koalitionen unter der Annahme, dass CDU/CSU und FDP eine Mehrheit im zu wählenden 17. Deutschen Bundestag erreichen. Sowohl im Ausgangsmodell als auch nach Durchführung der drei oben genannten Änderungen dominiert ein Bündnis aus Union und Liberalen klar die Wahrscheinlichkeitsverteilung mit Werten zwischen 83 und 95%. Die Chancen zur Wiederauflage einer großen Koalition Merkel/Steinmeier sind bei einer solchen Mehrheitsverteilung im Parlament äußerst gering.

Tabelle 1: Wahrscheinlichkeiten ausgewählter Koalitionen bei CDU/CSU-FDP-Bundestagsmehrheit

  Ausgangs-
modell
Kein Amtsinhaber-
vorteil für die große Koalition
SPD schließt Zusammen-
arbeit mit der Linken nicht aus
Thüringen: CDU/SPD; Saarland: Jamaika
CDU und SPD 16,9% 5,0% 5,0% 4,1%
CDU/CSU und FDP 83,0% 94,8% 94,3% 95,4%
CDU/CSU und Grüne 0,0% 0,0% 0,0% 0,0%
CDU/CSU, FDP und Grüne 0,0% 0,0% 0,0% 0,0%
SPD und Grüne 0,1% 0,1% 0,1% 0,0%
SPD, FDP und Grüne 0,0% 0,0% 0,0% 0,0%
SPD, Grüne und Linke 0,0% 0,0% 0,0% 0,0%

Deutlich anders sieht das Bild aus, wenn Christ- und Freidemokraten eine Mehrheit im Bundestag verfehlen würden. Tabelle 2 macht deutlich, dass unter diesen Umständen die wahrscheinlichste Koalition eine schwarz-rote Neuauflage ist. Dies gilt sogar dann, wenn man der großen Koalition keinen Amtsinhabervorteil zuweist und der SPD nicht abnimmt, keine Zusammenarbeit mit der Linken in Erwägung zu ziehen. Die Wahrscheinlichkeit für die Fortsetzung der großen Koalition liegt bei über 75%, während ein Linksbündnis auf Chancen von etwas mehr als 9% kommt.

Tabelle 2: Wahrscheinlichkeiten ausgewählter Koalitionen bei Verfehlen einer CDU/CSU-FDP-Bundestagsmehrheit

  Ausgangs-
modell
Kein Amtsinhaber-
vorteil für die große Koalition
SPD schließt Zusammen-
arbeit mit der Linken nicht aus
Thüringen: CDU/SPD; Saarland: Jamaika
CDU und SPD 97,8% 92,1% 76,5% 78,2%
CDU/CSU und FDP 1,4% 4,9% 4,1% 3,9%
CDU/CSU und Grüne 0,1% 0,4% 0,4% 0,2%
CDU/CSU, FDP und Grüne 0,0% 0,0% 0,0% 0,0%
SPD und Grüne 0,3% 1,1% 0,9% 0,6%
SPD, FDP und Grüne 0,0% 0,0% 0,0% 0,0%
SPD, Grüne und Linke 0,0% 0,0% 9,5% 9,1%

In den letzten Tagen war mit Hinblick auf die Koalitionsaussagen der Parteien besonders auffällig, dass sich die Grünen offenbar einen kleinen Türspalt zur Bildung einer Jamaika-Koalition offen halten, indem ihr Spitzenkandidat Jürgen Trittin explizit betonte, dass mit allen demokratischen Parteien nach der Wahl Gespräche geführt werden. Berücksichtigt man in den Regressionsmodellen nicht den Parteitagsbeschluss der Grünen, der eine Jamaika-Koalition von vornherein ausschliesst, dann ergibt sich eine deutlich andere Wahrscheinlichkeitsverteilung auf die verschiedenen Koalitionsoptionen, wie Tabelle 3 deutlich macht. Wenn man von keinem Amtsinhabervorteil für die große Koalition ausgeht, dann ist eine schwarz-rote Koalition noch immer mit knapp 58% das wahrscheinlichste Ergebnis, aber ein Jamaika-Bündnis würde mit einer Chance von rund 37% nicht allzu viel unwahrscheinlicher sein. Geht man noch einen Schritt weiter und nimmt an, dass sich im Saarland eine schwarz-gelb-grüne Koalition bilden wurde, dann stünden die Chancen für „Jamaika“ auf Bundesebene sogar besser als für eine große Koalition. Der Hauptgrund dafür liegt in den Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat, in dem momentan weder eine schwarz-gelbe noch eine schwarz-rote Koalition, jedoch aber ein potentielles Bündnis aus Union, FDP und Grünen über eine Mehrheit verfügen. Die Grünen haben sich diesen Ergebnissen zufolge aufgrund ihrer Koalitionsaussage eine große Chance auf eine Regierungsbeteiligung verbaut, da die von ihnen wie auch der SPD präferierte Ampel aufgrund der Weigerung der Liberalen, ein solches Bündnis einzugehen, als ausgeschlossen gelten kann.

Tabelle 3: Wahrscheinlichkeiten ausgewählter Koalitionen bei Verfehlen einer CDU/CSU- FDP-Bundestagsmehrheit / Grüne schließen „Jamaika“ nicht aus

  Ausgangs-
modell
Kein Amtsinhaber-
vorteil für die große Koalition
SPD schließt Zusammen-
arbeit mit der Linken nicht aus
Thüringen: CDU/SPD; Saarland: Jamaika
CDU und SPD 97,8% 57,8% 51,2% 36,4%
CDU/CSU und FDP 1,4% 3,1% 2,7% 1,8%
CDU/CSU und Grüne 0,1% 0,3% 0,2% 0,1%
CDU/CSU, FDP und Grüne 0,0% 37,2% 33,0% 53,5%
SPD und Grüne 0,3% 0,7% 0,6% 0,3%
SPD, FDP und Grüne 0,0% 4,1% 0,0% 0,0%
SPD, Grüne und Linke 0,0% 0,0% 6,4% 4,2%
 

Piratenwähler

Die Struktur der Wählerschaft kleiner Parteien mittels Umfragen zu erforschen, ist schwierig. Angenommen, eine Partei hat einen Stimmenanteil von einem Prozent und man befragt bundesweit 1.000 Wähler, dann wären in etwa 10 befragte Personen Wähler dieser Partei. Das ist zu wenig, um sinnvolle Aussagen treffen zu können.

Internetumfragen mit potenziell vielen Befragten können in solchen Fällen eine Alternative darstellen. Eine solche Umfrage, nämlich die Wahlumfrage2009.de, hat sich mein Kollege Ansgar Wolsing zunutze gemacht, um der Struktur der Wählerschaft der Piraten auf den Grund zu gehen. Die Ergebnisse seiner Analyse finden sich hier. (1)

Bemerkenswertes tritt dabei zu Tage, wenn man einige Gruppenvergleiche anstellt: In der Gruppe der Befragten über 60 Jahren ist die Partei kaum existent; in der Gruppe der jungen, männlichen Wähler, die sich vor allem und eifrig über das Internet über Politik informieren, liegt sie dagegen bei rund 40 Prozent. Dass die Piraten (durchaus in der Tradition echter Piraten stehend) eine „männliche“ Partei sind, zeigt Ansgar Wolsing auch anhand der Kandidaten der Partei: Von 98 Listenkandidaten sind demnach nur vier weiblich.

Man darf jetzt schon gespannt sein, was die repräsentative Wahlstatistik des Bundeswahlleiters, die das tatsächliche Wahlverhalten der Menschen nach Alter und Geschlecht aufschlüsselt, aufzeigen wird. Aufgrund der Ergebnisse auf der Basis der wahlumfrage2009.de darf man einiges an Unterschieden erwarten, wenn es um die Piratenwähler geht.

(1) Die Ergebnisse dieser Umfragen sind – da es sich um eine offene Online-Umfrage handelt – nicht repräsentativ. Wir wissen allerdings aus der Online-Forschung, dass solche Strukturanalysen für solche Verzerrungen der Stichprobe nicht sehr anfällig sind.

 

Koalitionskarrussell – eine bisher noch kaum beachtete Option

Andrea RömmeleAuf einer politikwissenschaftlichen Tagung letzte Woche in Potsdam wurde eine in der Öffentlichkeit bisher kaum beachtete Koalitionsoption hinterfragt: die Minderheitsregierung. Der Blick auf unsere europäischen Nachbarn und andere OECD-Staaten zeigt, dass eine solche Konstellation nicht so exotisch ist, wie man vermuten könnte: In Spanien beispielsweise kommen die Sozialdemokraten von José Zapatero auf 164 von 350 Sitzen und sind auf die Stimmen kleinerer Parteien angewiesen; die kanadischen Konservativen um Premier Stephen Harper regieren, obwohl sie mit 124 von 308 Mandaten ebenfalls keine Mehrheit im Parlament stellen; und in Dänemark verfügen Lars Rasmussens „Venstre“ und die Konservativen aktuell zusammen über 64 von 179 Sitzen. Auch in Schweden, den Niederlanden, der Tschechischen Republik, Österreich und einigen anderen Ländern hat man bereits – teilweise langjährige – Erfahrungen mit Minderheitsregierungen gesammelt.

Somit stellt sich angesichts einer möglicherweise sehr schwierigen Koalitionsbildung nach der Bundestagswahl die Frage, ob eine Minderheitsregierung nicht auch ein probates Mittel sein könnte, mit dem man der drohenden Politikblockade nach der Wahl entgehen könnte. Die Erfahrungen der Bundesrepublik Deutschland mit diesem Regierungstyp sind gering. Nachdem Minderheitsregierungen zu Zeiten der Weimarer Republik in engem Zusammenhang mit der Instabilität des gesamten Regierungssystems standen, waren sie nach dem zweiten Weltkrieg nur in Übergangsphasen gegeben – etwa nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition 1982.

Es scheint also, als ob das Potenzial dieses Regierungstyps in Deutschland noch nicht ausgereizt wäre. Allerdings gibt es sehr gute Gegenargumente, die sich nicht nur aus der Geschichte der Weimarer Republik, sondern auch aus strategischen Überlegungen der heutigen Zeit speisen: Es ist auffällig, dass Minderheitsregierungen in Ländern beliebt sind, in denen es keine starke zweite Parlamentskammer gibt. In Deutschland jedoch ist der Bundesrat ein wichtiger politischer Akteur, gegen den man kaum regieren kann. Ohne seine Zustimmung könnte nahezu jedes Gesetz gekippt werden und die Regierung wäre somit handlungsunfähig.

Nach aktuellem Stand und unter Berücksichtigung der anstehenden Regierungsbildungen in Thüringen, Schleswig-Holstein, Brandenburg und dem Saarland scheint einzig eine Bundesratsmehrheit für Schwarz-Gelb realistisch zu sein. Sie könnte auf 37 von 69 Stimmen kommen, falls Schleswig-Holstein nach der Landtagswahl von CDU und FDP regiert werden sollte. Die Große Koalition hingegen hat schon nach der Hessenwahl ihre Mehrheit verloren, da die CDU dort nun nicht mehr alleine, sondern mit der FDP regiert. Durch den anzunehmenden Wegfall zweier weiterer CDU-Alleinregierungen in Thüringen und dem Saarland könnte eine Mehrheitsperspektive im Bundesrat für Länder, die Unions-, SPD- oder von einer Großen Koalition geführt sind, noch ferner rücken. Und Rot-Grün, das in dieser Konstellation nur noch in Bremen regiert, kann gerade mal auf 7 Stimmen (Bremen plus das von der SPD alleine regierte Rheinland-Pfalz) zählen.

Man könnte also schlussfolgern: Schwarz-Gelb sollte die Bundesregierung stellen – egal, ob als Mehrheits- oder als Minderheitsregierung. Aber wäre eine solche Koalition, wenn sie im Bundestag über keine Mehrheit verfügt, politisch tragfähig? Würde der Bundestag unter diesen Umständen eine CDU-Kanzlerin wählen? Einiges scheint dagegen zu sprechen, insbesondere das gemeinsame Credo von SPD, Grünen und Linken, dass Schwarz-Gelb verhindert werden müsse. Der Blick ins Ausland zeigt aber auch, dass Vieles möglich ist: Minderheitsregierungen können sowohl aus einer Partei als auch aus Koalitionen bestehen und sowohl von der politischen Mitte als auch von einem klar definierten Lager aus organisiert werden. Vielleicht ist es angesichts der aktuellen Experimentierfreudigkeit der deutschen Politik (schwarz-grün, Jamaika, rot-rot-grün) für alle Parteien an der Zeit, auch die Option einer Minderheitsregierung neu zu diskutieren.

 

Piratenpartei: Klar zum Entern des Parteiensystems?

Für eine Partei, die bislang in keinem deutschen Parlament sitzt, sind die Piraten im Vorfeld dieser Bundestagswahl extrem sichtbar. Doch sind sie auch klar zum Entern des Parteiensystems? Marc Debus hat mit seinem Beitrag bereits zeigen können, dass sich die Partei inhaltlich auf dicht besiedeltem Terrain bewegt. Gesellschaftspolitisch äußerst progressiv konkurrieren sie dort vor allem mit Grünen, Linken und auch der FDP. Gute Landemöglichkeiten sehen eigentlich anders aus.

Untermauert wird dies auch durch einen Blick auf den Wahl-o-mat. In ähnlicher Logik, wie an anderer Stelle schon die Kompatibilität von Koalitionen mit seiner Hilfe geprüft wurde, lässt sich auch untersuchen, wie es um die inhaltliche Nähe der Piraten zu den anderen Parteien bestellt ist. Die Ergebnisse zeigt die folgende Abbildung:

piraten

Ähnlich der Analyse von Marc Debus zeigt sich auch hier, dass einzig zur Union eine wirklich große inhaltliche Distanz besteht. Ansonsten zeigt sich auch hier eine beachtliche Nähe der Piraten zu den übrigen vier Parteien. Ein wirklicher USP lässt sich kaum ausmachen – was noch zusätzlich dadurch verstärkt wird, dass die Piraten sich bei immerhin 8 von 38 Wahl-o-mat-Thesen nur mit „neutral“ äußern. Selbst auf ihrem vermeintlich ureigensten Gebiet haben sie harte Konkurrenz: Der Aussage „Die verdeckte Online-Durchsuchung privater Computer durch Sicherheitsbehörden soll verboten werden“ stimmen neben den Piraten auch Grüne, Linke und die FDP zu. Nur bei einer Aussage heben sich die Piraten von den anderen fünf Parteien ab: „In allen Bundesländern: Einführung verbindlicher Sprachtests für alle Kinder im Vorschulalter“. Das lehnen die Piraten ab, im Gegensatz zu allen anderen Parteien. Nur verbindet man sie kaum mit diesem Thema.

Klar zum Entern scheinen die Piraten daher eher nicht zu sein. Als Single-Issue-Partei, die noch dazu bei diesem einen Issue harte Konkurrenz hat, geht es weniger um Entern als um das Verhindern des Kenterns.

 

Die Piratenpartei in der ideologischen Parteienkonstellation Deutschlands

Analysen von Parteiensystemen, Parteienwettbewerb und insbesondere der Regierungsbildung konzentrieren sich in der Regel auf solche Parteien, die im Parlament vertreten sind. Solche Parteien hingegen, die es aufgrund ihres niedrigen Stimmenanteils nicht schaffen, ins Parlament einzuziehen, wird in politikwissenschaftlichen Analysen deutlich weniger Beachtung geschenkt, obwohl es mitunter Parteineugründungen gibt, die zumindest das Potential haben, in naher Zukunft aus ihrem Schattendasein zu entkommen.

Die Piratenpartei, die bei der letzten Europawahl in Deutschland auf 0,9 Prozent und in Schweden sogar auf 7,1 Prozent, ist eine solche Partei. Die „Piraten“, die bei den drei Landtagswahlen vom 30. August nur in Sachsen antraten, dort aber immerhin 1,9 % der Stimmen erreichten, konzentrieren sich in ihrer Programmatik vor allem auf die Sicherung individueller Freiheitsrechte, wozu sie insbesondere die uneingeschränkte Nutzung des Internets zählen. Wo aber ist die Piratenpartei programmatisch insgesamt und im Verhältnis zu den anderen Bundestagsparteien verortet?

Eine Analyse des Bundestagswahlprogramms der „Piraten“ mit Hilfe des wordscore-Verfahrens kann hierüber Aufschluss geben. Es wird unterschieden zwischen einer wirtschaftspolitischen Links-Rechts-Dimension einerseits sowie einer Dimension, die zwischen progressiven und konservativen Positionen in der Gesellschaftspolitik differenziert. Diese Konfliktlinie spiegelt durchaus auch Gegensätze in der Innen- und Rechtspolitik wieder, so dass „progressiv“ mit einem Ausbau an individuellen Freiheitsrechten übersetzt werden kann, wohingegen „konservativ“ deren Eingrenzung meint. Für die Piratenpartei würden wir erwarten, dass sie in diesem Politikfeld eine explizit progressive Position einnimmt. Dies ist – wie die in der Abbildung abgetragenen Positionen der Parteien deutlich machen – in der Tat der Fall: die „Piraten“ nehmen in innen-, rechts- und gesellschaftspolitischen Fragen eine ähnlich progressive Position wie Bündnis 90/Die Grünen oder „Die Linke“ ein. Die FDP ist nur ein wenig moderater in diesen Sachfragen eingestellt als die Piratenpartei. Wirtschafts- und sozialpolitisch sind die „Piraten“ hingegen in Höhe der CDU/CSU-Position lokalisiert. Inwiefern diese Position in der deutschen ideologischen Parteienkonstellation den „Piraten“ jedoch hilft, ihren Stimmenanteil zu vergrößern, ist eher zweifelhaft: da Grüne, Linke und auch die Liberalen ähnliche innen-, rechts- und gesellschaftspolitische Grundausrichtungen haben, können Wähler auch auf die etablierten Parteien bei der Stimmabgabe zurückgreifen, es sei denn, dass für sie vor allem das Thema Internet wichtig ist, das von keiner anderen Partei als den „Piraten“ in der Form thematisiert wird.

piraten

 

Parteienlotto

Evelyn Bytzek„Ihr politischer Scharfsinn kann Sie reich machen“, damit wirbt die BILD-Zeitung für ihr Gewinnspiel zur Bundestagswahl 2009. Dem Gewinner winken bis zu 1 Million Euro, wenn er die Anteile der fünf jetzt im Bundestag vertretenen Parteien bis auf die erste Kommastelle genau vorhersagt. Neben der Frage, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für einen solchen Treffer ist, interessiert Wahlforscher an einem solchen Gewinnspiel vor allen Dingen, wie präzise die Erwartungen der Wähler in Hinblick auf den Wahlausgang eigentlich sind. Dies spielt nicht nur für so profane Dinge wie die Menge Geld eine Rolle, die man gewinnen kann. Auch dafür, welchen möglichen Koalitionen man eine Mehrheit nach der Wahl zutraut, sind solche Einschätzungen wichtig. Hierfür müssen die Schätzungen nicht so genau sein wie für das BILD-Gewinnspiel, daher werden die Wähler in Umfragen meist nicht mit dieser Frage gequält.

In einer, zugegebenermaßen nicht repräsentativen, Online-Befragung haben wir dieses Experiment nun aber doch einmal gewagt und folgende Ergebnisse erhalten: Vergleicht man die Mittelwerte für die Parteien aus dieser Befragung mit zeitnahen Ergebnissen zweier Umfrageinstitute, könnte man den Eindruck gewinnen, dass sich demnächst viele Wähler über einen Geldgewinn freuen dürften.

GLES-Schätzfrage

* Online-Erhebung im Rahmen der German Longitudinal Election Study, Feldzeit: 31. Juli bis 10. August 2009.
** Telefonische Erhebung der Forschungsgruppe Wahlen e.V. Mannheim, Feldzeit: 4. bis 6. August 2009.
*** Telefonische Erhebung von Infratest dimap, Feldzeit: 3. bis 5. August 2009.

Diese erstaunlich gute Einschätzung der Befragten zum Abschneiden der Parteien dürfte aber der „Weisheit der Vielen“ geschuldet sein. Demnach ist der Mittelwert aus den Schätzungen vieler Menschen erstaunlich präzise und häufig besser als der beste Einzelwert. Betrachtet man sich die Genauigkeit individueller Schätzungen, muss zunächst gesagt werden, dass man bei unserer Umfrage keine Million Euro gewinnen konnte. Daher ist der Anreiz für die Befragten gering, eine möglichst genaue Schätzung abzuliefern. Zudem wurden keine Dezimalzahlen angegeben. Da bei diesem Experiment nicht festzustellen ist, wie das korrekte Ergebnis aussieht, lassen wir sowohl die Politbarometer- als auch die DeutschlandTREND-Zahlen gelten. Durch die Hilfestellung, zwei „Wahlergebnisse“ zuzulassen, und der geringeren Zahl an Möglichkeiten durch das Fehlen von Dezimalzahlen, hätten zwei Befragte mit fünf Richtigen den Jackpot geknackt. Gerade mal 0,4% haben präzise Schätzungen für mehr als vier Parteien geliefert, 1,7% haben mehr als drei Richtige und 12,6% mehr als zwei Richtige. Aber immerhin die Hälfte der Befragten schätzt den Anteil einer Partei korrekt ein. Wenn dies die Partei ist, die für den Wähler zählt, ist das Einiges wert, wenn auch damit keine Million Euro zu gewinnen ist.

 

Wem hilft das TV-Duell?

Vom TV-Duell zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und Vize-Kanzler Frank-Walter Steinmeier konnte vor allem der SPD-Kandidat profitieren. Dies zeigt eine Experimentalstudie der Universitäten Koblenz-Landau, Hohenheim und Mannheim. An fünf Standorten – Landau, Stuttgart, Mannheim, Kaiserslautern und Jena – verfolgten rund 450 Personen das TV-Duell und bewerteten die Politiker live. Direkt vor und direkt nach der Debatte wurden sie unter anderem zu ihren Einstellungen gegenüber den beiden Kanzlerkandidaten befragt.

Unter den etwa 380 westdeutschen Untersuchungsteilnehmern konnte Steinmeier erhebliche Sympathiegewinne verbuchen. Es gelang ihm, sich auf einem elf Skalenpunkte umfassenden Sympathieskalometer um 0,7 Skalenpunkte zu verbessern. Besonders deutlich legte Steinmeier unter parteipolitisch unabhängigen Wähler zu (+0,9), aber auch in den eigenen Reihen und im schwarz-gelben Lager stieg sein Ansehen durch seinen Debattenauftritt signifikant (+0,6 bzw. +0,7). Der Sympathiewert von Angela Merkel veränderte sich hingegen nicht. Der Imagegewinn Steinmeiers strahlte auch auf die die Bewertung der SPD aus. Sie legte um 0,4 Skalenpunkte zu, während die Union einen Zehntelskalenpunkt hinzugewann.

Das TV-Duell verursachte auch Verschiebungen bei der Kanzlerpräferenz. Rund 15 Prozent der Versuchspersonen änderten ihre Kanzlerpräferenz aufgrund der Eindrücke, die sie aus der 90-minütigen Diskussion gewonnen hatten. Das bessere Ende hatte auch hier Steinmeier, dem es zwar genauso wenig wie Merkel gelang, Anhänger aus dem gegnerischen Lager für sich zu gewinnen, der aber etwa doppelt so viele Unentschiedene wie die Kanzlerin von sich überzeugen konnte.

Das TV-Duell hat also eine direkte Wirkung gezeigt. Dies deckt sich mit den Befunden für die Fernsehdebatten 2002 und 2005, für die auch deutliche unmittelbare Effekte auf politische Einstellungen nachgewiesen werden konnten. Nun gilt es für Frank-Walter Steinmeier und die SPD, diesen Rückenwind zu nutzen, um „zählbare“ Erfolge zu verbuchen – also sich vor allem in den Umfragen hinsichtlich der Sonntagsfrage zu verbessern. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht, da die Einstellung zu Kandidaten und Parteien der Wahlabsicht direkt vorgelagert ist. Vieles wird aber davon abhängen, wie sich das Medienecho auf das TV-Duell in den nächsten Tagen gestaltet.

 

Finanzmärkte und soziale Gerechtigkeit: Die Fieberkurve des Duells

2002 und 2005 war es vor allem das Thema „Irak“, das die Zuschauer der TV-Duelle bewegte. Und dieses Mal? Echtzeitmessungen der 90 Debattenminuten zeigen, dass den Menschen dieses Mal vor allem die Wirtschafts- und Finanzkrise sowie das Thema der sozialen Gerechtigkeit unter den Nägeln brannten.

Die mit Abstand stärkste Zustimmung erhielt SPD-Kanzlerkandidat Steinmeier in der 24. Minute mit seiner Aussage zu den Mindestlöhnen: „Ich sage, wir müssen diese Lohnspirale nach unten aus mehreren Gründen aufhalten: Erstens, weil hier auch der Aspekt von Würde von Arbeit bedroht ist. Wer den ganzen Tag arbeiten geht, muss von seinem Einkommen aus Arbeit auch leben können. Wirklich leben können.“ Zustimmung fand er damit nicht nur im eigenen Lager, sondern auch bei den Unabhängigen und sogar bei den Unions-Anhängern. Auch seine Verknüpfung der Entlassung einer Kassiererin wegen eines eingelösten Pfandbons mit den Entschädigungen für Spitzenmanager fand die Zustimmung der Teilnehmer der Studie.

Die Kanzlerin brachte die Zuschauer – sowohl des SPD-, als auch des Unions-Lagers und die Unabhängigen – mit folgender Aussage in der 12. Minute auf ihre Seite: „Und jetzt sage ich: Wir brauchen Regeln für die internationalen Finanzmärkte und wir brauchen auch einen Export der Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. Davon bin ich zutiefst überzeugt.“ Auch für Angela Merkel zahlte sich ein Rekurs auf Themen sozialer Gerechtigkeit aus. Ihre Aussage: „Ich finde: Leistung und Bezahlung müssen in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen. Deshalb habe ich mich am Beispiel von Arcandor darüber aufgeregt: 6 Monate Arbeit und 5 Jahre Gehalt, das halte ich für nicht vertretbar. Ja, das halte ich für unanständig“ stieß ebenfalls auf Zustimmung.

Die Fieberkurve des TV-Duells 2009

kurve

Auseinandersetzung fand selten statt. Am stärksten polarisierte Steinmeier mit der Aussage zur Atompolitik in seinem Schluss-Statement: „Schwarz-Gelb wird bedeuten, dass eine Rückkehr zur Atomkraft stattfindet. Das ist nicht mein Weg.“ Hiermit fand er Zustimmung bei den SPD-Anhängern und bei den Unabhängigen. Die CDU- und die FDP-Anhänger lehnten diese Position ab.

Nur selten fanden sich Unterschiede zwischen den Zuschauern in den alten und in den neuen Bundesländern. Während Angela Merkels Warnung vor einem Bündnis der SPD mit der Links-Partei von den Stuttgarter Zuschauern befürwortet wurde, stieß sie bei den Zuschauern in Jena auf wenig Gegenliebe. Gleiches gilt für die Kritik Frank-Walter Steinmeiers an der Position der Links-Partei zur Afghanistan-Politik: Seine Kritik wurde in den alten Bundesländern geteilt, in den neuen Bundsländern hingegen nicht.

Zur Methode
480 Bürgerinnen und Bürger waren eingeladen, das Fernsehduell an den Universitäten Koblenz-Landau, Stuttgart, Mannheim, Kaiserslautern und Jena live zu verfolgen. Während der Debatte konnten sie Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier permanent bewerten oder mit Hilfe von Fragebögen ihre Bewertung abgeben; die obigen Auswertungen basieren auf den Angaben aus Stuttgart, Landau und Jena. Die Untersuchung wird in Kooperation von den Universitäten Koblenz-Landau (Prof. Dr. Michaela Maier, Prof. Dr. Jürgen Maier), Hohenheim (Prof. Dr. Frank Brettschneider) und Mannheim (Prof. Thorsten Faas) durchgeführt. Sie ist Teil des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes „German Longitudinal Election Study“.

 

Die gemeinsame Pressekonferenz

Peter SchrottEs ist überstanden. Das große „TV-Duell“ zwischen Merkel und Steinmeier fand statt und führte nach ersten Eindrücken und Blitzumfragen zu einer Art Unentschieden. Zumindest suggerieren das die repräsentativen Umfragen von ZDF, ARD und RTL, wie folgende Übersicht zeigt:

Umfragen zum TV-Duell

Doch war es wirklich ein großes Duell oder doch nur eine Art gemeinsame Pressekonferenz, wie wir die (amerikanischen) Debatten schon vor langer Zeit nannten? Auf jeden Fall ergingen sich die beiden Teilnehmer – inklusive der Journalisten – in netten Gesprächen, sehr sachlich und oft übereinstimmend. Nun ja, sie regieren ja auch gemeinsam.

Der Zuschauer vermisste dabei jedoch die Unterhaltungskomponente, die auch zu Provokationen und somit zu überraschenden Entgegnungen führen kann – etwa einen leicht zynischen Gerhard Schröder oder einen aufbrausenden Franz Josef Strauss, der seine Gegner des Terrorismus verdächtigen konnte und in den Fernsehdebatten der 70er und 80er Jahre regelmäßig den Buhmann mimte. Aber damals debattierten auch nicht zwei Regierungsmitglieder, sondern es prallten Weltanschauungen aufeinander.

Dennoch wird die Debatte ihren Zweck erfüllen. Sie wird den Kandidaten in ihren eigenen Lagern Vertrauen schenken und die Medien sind bereits dabei, die Debatte so zu deuten, dass sie den Wahlkampf beleben wird. Unter der Überschrift „Gespräch munterer als erwartet“ schreibt die dpa: „Der Kandidat setzt auf Angriff. Beim TV-Duell mit Bundeskanzlerin Angela Merkel versucht Außenminister Frank-Walter Steinmeier an diesem Sonntagabend zwei Wochen vor der Bundestagswahl seine letzte Chance zu nutzen“. Angriff ist in der Tat die bevorzugte Strategie eines Herausforderers um die Kanzlerschaft, während die Amtsinhaber im Normalfall auf den Verkauf ihrer Erfolge setzen. Allerdings zeigt eine Langzeitstudie der deutschen Fernsehdebatten von 1972 bis 1987, dass gerade diese Angriffsstrategie gefährlich sein mag, weil sie zu einem „Oppositionsmalus“ führen kann und dies überwiegend auch tat. Denn im Gegensatz zu den amerikanischen Debatten haben bei deutschen Debatten die Amtsinhaber oft besser ausgesehen, zumindest in den Augen der Wähler, und die Herausforderer verloren an Boden. Allerdings war diese Debatte anders, da Steinmeier ja ebenfalls in der Regierung ist und äußerst präsent in den Medien. Hier ging es wohl eher darum, zu demonstrieren, dass er auch „mehr kann“, als nur Außenminister.

Die nächsten Tage werden nun von Medien und Politikern genutzt werden, die Debatte zu analysieren und die Vorteile der bevorzugten Kandidaten herauszustellen. Man wird schreiben, dass Steinmeier seine Chancen nutzte und dass Merkel ihre Kompetenz und Führungsstärke bewiesen hat. Und hier setzt ein Prozess ein, der vermutlich noch mehr als die Fernsehdebatte selbst die Einschätzung und Einstellung der Wähler beeinflussen wird.

Und damit der politische Diskurs von den Medien auch demokratisch vertreten wird, haben die kleineren Parteien die Möglichkeit, am Tage danach eine Debatte unter sich zu führen. Man kann gespannt sein, ob der „Unterhaltungswert“ höher sein wird als bei der gemeinsamen Pressekonferenz von Merkel und Steinmeier.

Literatur:

Lanoue, D.J. and Schrott, P. (1991). The Joint Press Conference. – The History, Impact and Prospects of American Presidential Debates. Greenwood Press, Westport.

Schrott, P. (1990). Wahlkampfdebatten im Fernsehen von 1972 bis 1987: Politikerstrategien und Wählerreaktion. In M. Kaase and H. D. Klingemann (Eds.). Wahlen und Wähler. Opladen: Westdeutscher Verlag.