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Eine Bildungsbefragung, die mehr Fragen aufwirft als beantwortet

Seit einiger Zeit diskutiert die deutsche Öffentlichkeit über das Bildungssystem. Nun sind Bürger zu Wort gekommen: in einer „großen Bürgerbefragung“ unter dem Titel „Zukunft durch Bildung – Deutschland will’s wissen“, die auf Initiative von Roland Berger Strategy Consultants, der Bertelsmann Stiftung, der BILD-Zeitung und von Hürriyet durchgeführt wurde. Nach den Ergebnissen scheinen die Befragten bereit zu einem Paradigmenwechsel in der Bildung, zugleich trauen die Bürger der Politik mehrheitlich nicht genügend Reformfähigkeit zu. Die Reformvorstellungen der Befragten umfassen unter anderem die Forderung nach mehr Vergleichbarkeit im Bildungswesen. Auch zeigten die Befragten, so die Studie, den Weg zu einem konsequenten Ausbau des Ganztagsschulsystems auf. Zudem seien sie bereit, für ein besseres Bildungssystem mehr Steuern zu zahlen. Nur gut, so denkt man, dass diese Untersuchung große öffentliche Aufmerksamkeit fand. So berichteten diverse Onlinemedien wie etwa Spiegel-Online und Süddeutsche-Online ausführlich darüber. Die Bundesbildungsministerin wurde über die Befunde offenbar vorab informiert, und der Berliner Bildungssenator Zöllner sah sich von den Ergebnissen der Befragung in seiner Politik bestätigt.

Als empirischer Sozialforscher kann man die Lektüre freilich nicht abschließen, ohne einen Blick auf die Erhebungsmethoden geworfen zu haben. Und hier wartet eine Überraschung, ist doch zu lesen: „Die Umfrage ist nicht repräsentativ, da die Befragten nicht zufällig ausgewählt wurden: Alle konnten sich beteiligen. […] Im rund dreiwöchigen Befragungszeitraum vom 14. Februar bis zum 9. März haben sich 480.000 Menschen beteiligt, von denen rund 130.000 den kompletten Fragebogen beantwortet haben. ‚Zukunft durch Bildung – Deutschland will’s wissen‘ ist somit nach der Teilnehmerzahl die größte Umfrage zum Thema Bildung, die es je in Deutschland gab.“ Es konnte also jeder online oder per Post an dieser offenen Befragung teilnehmen, der von dieser Umfrage erfahren sowie gerade Zeit und Lust hatte, einen Fragebogen auszufüllen. Wer aber überhaupt davon erfuhr und daher eine Chance hatte, an der Befragung teilzunehmen, bleibt vollkommen unklar. Waren es die BILD- und Hürriyet-Leser? Welche Personen entschlossen sich zur Teilnahme? Haben sie Freunde und Bekannte zur Teilnahme bewegt? Wie oft haben sie teilgenommen? Und welche Schlussfolgerungen kann man aus einer solchen Befragung ableiten? Welche Bedeutung würde man einer nach diesen Prinzipien gestalteten Befragung auf einer beliebigen Internetseite zumessen?

Die methodischen Probleme dieser Befragung lassen den Leser mit mehreren Fragen zurück: Wie kann eine Befragung mit so zweifelhafter Aussagekraft so große öffentliche Aufmerksamkeit finden? Ist es die Magie der großen Teilnehmerzahl? Sind es die Prominenten von Josef Ackermann und Franz Beckenbauer über Eckhart von Hirschhausen bis hin zu Dieter Zetsche, deren Konterfeis die Ergebniszusammenfassung zieren? Wurden die Befragungsergebnisse ungeachtet ihrer Aussagekraft nach der Devise „der Zwecke heiligt die Mittel“ zitiert, um den eigenen Vorstellungen in der politischen Auseinandersetzung zusätzliche Legitimation zu verschaffen? Fragen, die darauf hindeuten, dass die öffentliche Aufmerksamkeit für diese Befragung mehr über das Bildungswesen und die Diskussion darüber aussagen könnte als die Ergebnisse der Befragung selbst.

 

Ein Plakat sagt mehr als 1000 Worte? Wahlplakate 2011

Wenn am kommenden Sonntag feststeht, wer zu den Verlierern der Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz gehört, dann wird mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder eine beliebte Erklärung hierfür zu hören sein: „Wir konnten den Wählern unsere Konzepte nicht gut genug vermitteln.“ Zwar steckt hinter dieser These zumeist der durchschaubare Versuch, die Verantwortlichkeit für die Wahlniederlage auf die (begriffsstutzigen) Wähler zu verschieben. Doch: Das bedeutet im Umkehrschluss nicht zwangsläufig, dass Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Parteien und Wählern als Erklärung für das Wahlergebnis ausscheiden.

Betrachtet man die Kommunikation zwischen Parteien und Wählern im Vorfeld einer Wahl, so dominiert nach wie vor ein sehr traditioneller Kommunikationskanal: das Wahlplakat. Denn Wahlplakate sind noch immer die einzige Möglichkeit für die Parteien, mit ihren Botschaften fast die gesamte Wählerschaft zu erreichen. Alle anderen Werbemittel wie Fernseh- und Radiospots, Anzeigen, Flugblätter, Wahlkampfstände, Kundgebungen oder Webseiten werden jeweils nur von einem deutlich kleineren Teil der Wahlbevölkerung wahrgenommen bzw. genutzt (vgl. z.B. Schmitt-Beck/Wolsing 2010). Nicht ohne Grund wird den Wahlplakaten von den Wahlkampfmanagern also nach wie vor eine enorme Bedeutung zugemessen; was sich auch an der Tatsache ablesen lässt, dass etwa ein Drittel des Wahlkampfbudgets der Parteien auf den Plakat-Wahlkampf entfällt (vgl. z.B. Müller 2002, Lessinger/Holtz-Bacha 2010).

Doch zurück zu den aktuellen Landtagswahlkämpfen: Eine aktuelle Studie der Universität Hohenheim zu den Plakat-Kampagnen in Baden-Württemberg lässt darauf schließen, dass es den Parteien tatsächlich vielfach nicht gelingt, ihre Botschaften erfolgreich zu vermitteln – zumindest, was die Plakat-Werbung betrifft. So zeigte sich etwa, dass bei einem Multiple-Choice-Test nur ein Drittel der über 400 für die Studie befragten Testpersonen in der Lage war, einem Plakat der FDP zur Haushaltspolitik die korrekte Aussage zuzuordnen. Ein Plakat der SPD zur Integrationspolitik schnitt nicht viel besser ab, hier konnte knapp die Hälfte der Befragten die Aussage des Plakats richtig deuten. Auch die Grünen überforderten immerhin noch etwa 30 Prozent der Befragten mit ihrem Plakat „Die neue Ellenbogen-Gesellschaft“.

Am verständlichsten bewerteten die Befragten hingegen ein Plakat der Linkspartei mit dem Slogan „Aktiv gegen Kinderarmut und Hartz IV!“. Ähnlich gut schnitt ein CDU-Plakat zur Bildungspolitik („Viele Chancen auf gute Bildung“) und ein SPD-Plakat zum Thema Arbeit („Wir brauchen Arbeit, von der man gut leben kann.“) ab. Diese beiden Plakate wurden zugleich auch als besonders glaubwürdig wahrgenommen.

Betrachtet man die Plakat-Kampagnen der Parteien in Baden-Württemberg im Vergleich, so lässt sich in der Tat feststellen, dass insbesondere die SPD mit Fug und Recht behaupten könnte, ihre Konzepte den Wählern nicht gut genug vermittelt zu haben. Denn ihr Plakat-Design arbeitet großenteils mit Fragen, die sich keineswegs selbst beantworten, versteckt die Antworten darauf aber trotzdem im kaum lesbaren „Kleingedruckten“ der Plakate. Auch die äußerst kleinteiligen Foto-Motive können dabei leider kaum zur Aufklärung beitragen. Dass die SPD das besser kann, hat sie in zahlreichen früheren Wahlkämpfen bewiesen. Und nicht nur das: Auch ein Blick in die aktuelle Plakat-Kampagne der SPD in Rheinland-Pfalz genügt, um zu zeigen, wie verständliche Wahlplakate aussehen.

Quellen:

Lessinger, Eva-Maria / Holtz-Bacha, Christina (2010): “Wir haben mehr zu bieten”: Die Plakatkampagnen zu Europa- und Bundestagswahl. In: Holtz-Bacha, Christina (Hrsg.) (2010): Die Massenmedien im Wahlkampf: Das Wahljahr 2009. Wiesbaden: VS Verlag, S. 67-116.
Müller, Marion G. (2002): Parteienwerbung im Bundestagswahlkampf 2002. In: MediaPerspektiven 12/2002, S. 629-638.
Schmitt-Beck, Rüdiger / Wolsing, Ansgar (2010): Der Wähler begegnet den Parteien. Direkte Kontakte mit der Kampagnenkommunikation der Parteien und ihr Einfluss auf das Wählerverhalten bei der Bundestagswahl 2009. In: Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.): Die Bundestagswahl 2009: Analysen der Wahl-, Parteien-, Kommunikations- und Regierungsforschung. Wiesbaden: VS Verlag, S. 48-68.

 

Halten Politiker Ihre Versprechen? Eine Antwort der Wissenschaft aus dem Wahlkampf-Dickicht

Man war anfangs gewillt, Frau Merkel die ehrliche Betroffenheit über die Katastrophe in Japan abzunehmen und das sofortige dreimonatige Abschalten der deutschen Atomkraftwerke eben nicht als Wahlkampfmaßnahme zu verstehen. Mittlerweile jedoch ist die deutsche Debatte um den „Ausstieg vom Ausstieg vom Ausstieg“ in vollem Gange und alle Parteien versuchen, sich innenpolitisch zu positionieren. Dabei dominiert ein aggressiver Umgangston, den Regierung und Opposition gleichermaßen schüren, und die Bürger zweifeln zunehmend, ob es hier wirklich um die Sache geht oder eben doch um die anstehenden Wahlen.
Dies wirft natürlich die Frage auf: Kann man Politikern im Wahlkampf eigentlich glauben? Halten sie Ihre Versprechen? Die Sozialwissenschaften haben hierauf eine recht klare empirische Antwort, die verblüfft und unserem momentanen Empfinden entgegen steht. In einer international und historisch vergleichenden Studie haben drei renommierte Sozialwissenschaftler, Hans-Dieter Klingemann, Richard Hofferbert und Ian Budge, Wahlprogramme aus 10 Ländern (Australien, Österreich, Belgien, USA, Deutschland, Schweden, Kanada, Großbritannien, Niederlande und Frankreich) über vierzig Jahre inhaltsanalytisch untersucht und mit den tatsächlichen politischen Maßnahmen der dann gewählten Regierungen verglichen. Ihr Indikator waren die Staatsausgaben, es wurde also betrachtet, welchem Politikfeld wie viel finanzielle Unterstützung zugekommen ist. Daraus ergab sich eine Rangliste von sehr wichtigen bis eher unwichtigeren Politikfeldern. Diese Rangliste wurde dann mit den jeweiligen Prioritäten in den Wahlprogrammen verglichen. Eine hohe Übereinstimmung würde somit besagen, dass Parteien sich sehr an ihre Wahlversprechen halten, eine geringe Kongruenz eben das Gegenteil.
Unter den momentanen Eindrücken würden wir alle intuitiv von einer recht geringen Kongruenz ausgehen. Politiker richten ihre Fahne nach dem Wahlkampfwind und der hat sich eben in den letzten Tagen mächtig gedreht. Aber die Ergebnisse der Kollegen sind deutlich: Zusammenfassend lässt sich eine recht hohe Kongruenz ermitteln zwischen dem, was Parteien versprechen, und dem, was sie dann – wenn in die Regierung gewählt – auch tun.
Einen mächtigen Haken gibt es jedoch an der Sache: Die Studie untersucht die Jahre 1949-1990! Ob das heute immer noch so ist, sollte eine längst überfällige Nachfolgestudie untersuchen. Gleichwohl sollten wir die Ergebnisse ernst nehmen, da sie wichtige Hinweise auf die Logik politischen Handelns geben: So sehr Politiker vor den Wahlen auf Stimmungen in der Bevölkerung reagieren, so konsequent sind sie dann jedoch auch darin, diese Forderungen umzusetzen. Alles in allem also kein schlechter Befund für die Demokratie. Er gibt Grund zu der Hoffnung, dass die Willensbekundungen der Bevölkerung nicht ganz so wirkungslos sind, wie sie gerne dargestellt werden.

Literatur: Klingemann, Hans-Dieter/Hofferberg, Richard/Budge, Ian (1994): Parties, Policies, and Democracy. Westview Press, Boulder, Colorado.

 

Der unbekannte Wähler? Mythen und Fakten über das Wahlverhalten der Deutschen

Es ist schon erstaunlich, was so alles über die deutsche Wählerin und den deutschen Wähler im Umfeld von Wahlen gesagt wird. Anhand einer Vielzahl von Instrumenten wird ihm oder ihr „auf den Zahn gefühlt“, so dass eigentlich jedem interessierten Journalisten, Politiker und Bürger klar ist, warum wer wen aus welchen Gründen gewählt hat. Dass diese Einschätzung oft auf zweifelhaften Quellen ruht, wie z.B. O-Ton-Aufnahmen in Fußgängerzonen, bleibt dabei häufig unbeachtet. So entstehen moderne Mythen über den deutschen Wähler, die sich trotz nicht unerheblicher Veränderungen bei den Wählern und in der politischen Landschaft hartnäckig halten. Ein politisches „Aufklärungsbuch“ hat sich solchen Mythen angenommen und stellt ihnen wissenschaftlich fundierte Aussagen entgegen. Im Einzelnen wird folgenden Fragen nachgegangen, auf die die Medien oft vorschnell eine Antwort finden:

Spielt Ideologie für Parteien und Wähler keine Rolle mehr? Gefährden Wechselwähler die Demokratie? Verliert die Demokratie ihren Nachwuchs? Entscheiden Spitzenkandidaten Wahlen? Sind TV-Duelle nur Show und damit nutzlos? Sind die Volksparteien am Ende? Ist die sinkende Wahlbeteiligung eine Gefahr für die Demokratie? Ist Ostdeutschland politisch ganz anders? Beeinflussen (getwitterte) Umfrageergebnisse Wahlentscheidungen? Verändern Große Koalitionen die Parteienlandschaft? Wie gehen die Wähler mit dem Bundestags-Wahlsystem um? Entscheidet die Wirtschaftslage Wahlen? Verhalten sich Frauen in der Politik anders? In erstaunlich vielen Fällen kommen die Autoren zu anderen Antworten als die Medien. Beispielsweise ist die Jugend von heute nicht weder interessiert oder desinteressiert an Politik als vor 30 Jahren und TV-Duelle helfen entgegen ihres Images, eine reine Show-Veranstaltung zu sein, gerade weniger interessierten Wählern bei ihrer Wahlentscheidung. Erstaunlich ist hierbei, dass in den Medien häufig ein negativeres Bild vom deutschen Wähler entworfen wird, als dies tatsächlich der Fall ist. Naheliegend ist daher, den Unkenrufen über den deutschen Wähler häufiger ein „Stimmt das denn?“ entgegenzusetzen.

Die Ergebnisse zu allen untersuchten Mythen sind hier zu finden: Evelyn Bytzek und Sigrid Roßteutscher (Hg.) 2011: Der unbekannte Wähler? Mythen und Fakten über das Wahlverhalten der Deutschen, Frankfurt am Main: Campus.

 

Agenda Setting und Soziale Medien – Der Fall Guttenberg(s)

von Stefan Collet

Die politische Bühne Berlins hat einen Politikstar weniger, nachdem Freiherr Karl-Theodor zu Guttenberg gestürzt ist. Gestürzt ist er dabei zunächst über das Heer der Wissenschaftler und Intellektuellen, am Ende jedoch über seine eigenen Ansprüche, über vermeintlich adelige Tugenden wie Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit – und über das Internet. Denn ohne den Dauerbeschuss über Facebook, Twitter und Guttenplag Wiki wäre es nicht in der Schnelligkeit zum Absturz des ehemaligen Verteidigungsministers gekommen. Unterschätzt hat Guttenberg aber nicht nur die Schwarmintelligenz aus der Online-Welt, sondern auch die geballte Kraft der „klassischen“ Medien, die die Kritik an die oberste Stelle ihrer Medienagenda transportiert haben.

Der Fall Guttenberg wirft wieder einmal die Frage auf, welches Potenzial die Sozialen Medien als Agenda Setter besitzen. Ein Blick auf Parallelen zu den Affären um Wikileaks oder den stark netzwerkbasierten Initiativen bei der Online-Petition gegen die Sperrung von Internetseiten mit kinderpornografischem Inhalt in Deutschland 2009 sowie der Studentenproteste „Unibrennt“ in Österreich 2009 scheint die Frage von selbst zu beantworten. Und auch bei den revolutionären Umstürzen in Nordafrika Anfang 2011 hatten Youtube und Twitter die zentrale Funktion, zusätzliche Aufmerksamkeit in der Weltöffentlichkeit zu erregen und den Protest aus der Offline-Welt auf die Straße zu tragen. All diese Fälle zeichnen sich mehr oder weniger durch einen Dreiklang aus, der notwendige Bedingung für das Agenda Setting von sozialen Netzwerken ist: eine hohe Vernetzungsdichte, hohe Spontanaktivität und die Erregung von kreisender Aufmerksamkeit (siehe dazu die Ausführungen von Peter Kruse im Deutschlandradio). Dieser Dreiklang führt zusammen genommen zu einem großen Resonanzboden in der Netzwelt.

Entscheidend ist jedoch, ob die klassischen Medien diesen Resonanzboden aufgreifen (müssen), ihn auf ihrer Medienagenda nach oben setzen und dadurch wiederum stark die Publikumsagenda (Relevanzliste politischer Themen der Bevölkerung) beeinflussen. Diese kausalen Zusammenhänge lassen sich am Awareness-Salience-Priorities-Modell von Shaw und McCombs (1977; vgl. auch Maurer 2010) veranschaulichen: Zunächst werden Rezipienten durch die Medienberichterstattung auf ein Thema aufmerksam (Awareness). Mit zunehmender Intensität der Berichterstattung steigt das Thema auch auf der Prioritätenliste in der Publikumsagenda auf und konkurriert vorerst mit anderen Themen (Salience), bis es sich von ihnen abhebt und exakt die Rangfolge der Medienagenda widerspiegelt (Priorities). Aus diesem Zusammenspiel von Medienagenda und Publikumsagenda resultiert dann ein Agenda-Setting-Effekt.

Abbildung 1: Awareness-Salience-Priorities-Modell nach Shaw und McCombs 1977 (eigene Darstellung)

Im Fall Guttenberg – und auch mehr oder weniger in den anderen oben genannten Fällen – ist genau das geschehen: Guttenplag Wiki und der offene Brief der ca. 30.000 Doktoranden an Frau Dr. Angela Merkel hätten nicht diese öffentliche Aufmerksamkeit erzielt, wenn die klassischen Medien diese beiden online-basierten Bewegungen nicht aufgesogen, nicht kanalisiert und sie dadurch nicht nach und nach auf der Publikumsagenda nach oben getrieben hätten. Hinzu kam ein Gelegenheitsfenster, das sich öffnete, da Guttenberg einerseits durch die Bundeswehraffären angezählt war und andererseits durch seinen unbedachten Umgang mit der Hauptstadtpresse diese zusätzlich gegen sich aufbrachte. Um erfolgreiches Agenda Setting aus den Sozialen Medien heraus betreiben zu können, genügt es also nicht, nur auf die Masse der User zu setzen (vgl. Schmidt 2009). Deutlich wird dies an dem Online-Hype, der unmittelbar nach dem Rücktritt Guttenbergs zu beobachten war: Innerhalb kürzester Zeit schossen die Unterstützerzahlen der Facebook-Gruppe „Wir wollen Guttenberg zurück“ in die Atmosphäre – am Tag des Rücktritts kamen im Minutentakt 1000 neue hinzu. Mittlerweile vereint die Gruppe über 580.000 Guttenberg-Anhänger und kann damit eine ungleich größere Vernetzungsdichte als die mittlerweile ca. 65.000 Doktoranden für sich reklamieren. Und auch an hoher Spontanaktivität mangelt es nicht, schaut man sich bspw. den Versuch der Guttenberg-Fangemeinde an, den Tagesschau-Server lahmzulegen oder in der realen Welt in 20 Städten Deutschlands für den Baron zu demonstrieren.

Was ihr aber fehlt: Das Gelegenheitsfenster und die zusätzliche Erregung von Aufmerksamkeit beim Publikum und den klassischen Medien, die nur den Rücktritt und seine Folgen analysierten und mittlerweile eher neutral und vereinzelt über die Vorgänge in der Netzwelt berichten. Außerdem bietet die große Pro-Guttenberg-Community kein issue mehr an, das vom Mediensystem stark nachgefragt wird. Und letztlich wird nach dem Rücktritt Guttenbergs aufgrund von fehlender Awareness auch in den Köpfen der Bevölkerung Platz für neues geschaffen und so verschwindet das Thema auch wieder rasch von der Publikumsagenda – und es wird wieder über die Aufstände in Libyen, das Biosprit-Debakel und Germany’s Next Topmodell berichtet.

Literatur:

Maurer, Marcus (2010): Agenda Setting, Nomos, Baden-Baden.

Schmidt, Jan (2009): Das neue Netz. Merkmale, Praktiken und Folgen des Web 2.0. UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz.

Shaw, D. L. and McCombs, M.E. (1977): The Emergence of American Political Issues: The Agenda-Setting Function of the Press. St. Paul: West.

Der Autor:

Stefan Collet arbeitet als Research Associate an der Hertie School of Governance zum Thema Politikberatung. Sein Studium der Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre absolvierte er an der Philipps-Universität Marburg und der Stellenbosch University South Africa. Er ist Mitinitiator des Politjournals 360°.

 

Nichts dazu gelernt? Zur Verständlichkeit der Wahlprogramme in Baden-Württemberg

Am 27. März wird in Baden-Württemberg gewählt und mittlerweile haben alle Parteien mit einer realistischen Chance auf den Einzug in den neuen Landtag ihre Wahlprogramme vorgelegt. Wie schon bei früheren Wahlen stellen die Parteien hierbei äußerst unterschiedliche Ansprüche an ihre potenzielle Wählerschaft. Dies lässt sich schon allein anhand der unterschiedlichen Programmlängen belegen: Während z.B. die SPD mit 65 Seiten (etwa 20.000 Wörter) das kürzeste Programm vorlegt, präsentieren die Grünen zum wiederholten Mal das mit Abstand längste Programm (241 Seiten bzw. ca. 48.000 Wörter).

Ob die Öko-Partei tatsächlich glaubt, dass sich ihre Wähler vor der Wahl durch dieses Kompendium kämpfen werden, darf bezweifelt werden. Auch die FDP dürfte mit ihrem 136 Seiten umfassenden Werk kaum auf die breite Masse der Wähler hoffen. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, dass die Parteien die Langfassungen ihrer Programme – auch wenn die Bezeichnung und der Inhalt anderes vermuten lassen – nicht für den „normalen“ Wähler und Politiklaien schreiben. Vielmehr richten sie sich an parteiinterne und -externe Experten, quasi als Leitlinie für die eigenen Mitglieder und als Grundlage für die Berichterstattung der Massenmedien. Das hat zwangsläufig auch Folgen für die Verständlichkeit, wie der gerade wieder veröffentlichte „Wahlprogramm-Check“ der Uni Hohenheim belegt.

Demnach lässt sich die Verständlichkeit des FDP-Wahlprogramms mit der von politikwissenschaftlicher Fachliteratur vergleichen (4,6 von maximal 20 Punkten auf dem Hohenheimer Verständlichkeitsindex). Die anderen Programme schneiden zwar deutlich besser ab, für die breite Masse der Wähler dürfte jedoch – wenn überhaupt – nur das CDU-Programm verständlich sein (Index-Wert: 11,2). Doch auch in diesem finden sich sprachliche Ungetüme wie „Hochwasserrisikomanagementpläne“ oder „Landschaftserhaltungsverbände“. Und nicht nur die schiere Wortlänge lässt bei fast allen Wahlprogrammen zu wünschen übrig: So mancher Wähler dürfte auch mit vergleichsweise kurzen Begriffen wie „novellieren“, „konsekutiv“, „partizipativ“ oder „proporzgerecht“ seine liebe Mühe haben.

Abbildung 1: Länge der Wahlprogramme

Dass es auch anders geht, beweisen die Parteien mit den Kurzfassungen ihrer Programme, allen voran die Grünen, die auch das mit Abstand kürzeste Kurzprogramm vorlegen (ca. 700 Wörter). Offensichtlich ist die verständliche Formulierung der Wahlziele für diese Fassungen der Wahlprogramme reserviert: So erzielen die Grünen hier einen Index-Wert von 16,1 Punkten, was nahe an die Verständlichkeit des politischen Teils der Bild-Zeitung heranreicht. Und auch das am schlechtesten verständliche Kurzprogramm der Linken (11,7 Punkte) ist noch immer verständlicher formuliert als die verständlichste Langfassung der Wahlprogramme.

Abbildung 2: Verständlichkeit der Wahlprogramme

Insgesamt ergibt sich auf diese Weise ein sehr ähnliches Bild wie bei der letzten großen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen: Mit Ausnahme der CDU legen die Parteien Programme vor, die für den Großteil der Wähler nicht verständlich sein dürften. Nichts dazu gelernt also? Nicht unbedingt: Denn mit Ausnahme der SPD fallen die Kurzprogramme bei allen Parteien deutlich verständlicher aus als in Nordrhein-Westfalen. Anders als die Langfassungen, die ausnahmslos unverständlicher ausfallen. Ein Ergebnis, das möglicherweise für eine gezielte Fokussierung der politischen Verständlichkeitsbemühungen seit der Wahl in Nordrhein-Westfalen spricht.

P.S.: Eines sollte nicht unerwähnt bleiben: Alle fünf untersuchten Parteien haben neben den Lang- und Kurzfassungen ihrer Programme auch Programme in „leichter Sprache“ vorgelegt, die sich an geistig behinderte Menschen richten und allesamt den Maximalwert von 20 Punkten auf der Hohenheimer Verständlichkeitsskala erreichen. In dieser Hinsicht können die Bemühungen der Parteien also durchaus als vorbildlich bezeichnet werden.

 

Alle Twitterer sind gleich, aber manche sind gleicher: Neue Gatekeeper und ihre Bedeutung für die Verbreitung von Nachrichten auf Twitter

von Andreas Jungherr, Pascal Jürgens und Harald Schoen

In den Monaten vor der Bundestagswahl 2009 war die politische Nutzung des Microblogging-Dienstes Twitter ein viel diskutiertes Element des Onlinewahlkampfs. Die Twitter-Nutzung durch Politiker und Parteien gab seitdem Anlass für viele Spekulationen in Presse und Wissenschaft, nicht zuletzt darüber, was „gutes politisches Twittern“ charakterisiere. Interessanter als das teils mehr, teils weniger geglückte Twittern einiger Volksvertreter erscheint uns jedoch die Gesamtheit der Twitter-Nachrichten aller politisch interessierten deutschen Nutzer. Ein Blick darauf erlaubt es zum einen, die Fieberkurve der Kampagne nachzuvollziehen. Zum anderen, und darauf wollen wir uns in diesem Beitrag konzentrieren, kann man an den Twitter-Nachrichten, welche die politisch interessierten Nutzer öffentlich untereinander austauschten, die Struktur politischer Kommunikationsnetzwerke studieren.

Als ein großer Vorzug der politischen Twitter-Nutzung wird gerne ins Feld geführt, auf dieser Plattform sei es jedem Nutzer möglich, mit seinen Nachrichten Gehör zu finden. Jeder Nutzer könne durch die Veröffentlichung informativer oder unterhaltsamer Tweets die Aufmerksamkeit anderer Nutzer und der klassischen Medien gewinnen. In dieser Twitter-Meritokratie werde Aufmerksamkeit nicht durch die Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Eliten bestimmt, entscheidend sei vielmehr die Fähigkeit, sich in 140 Zeichen auszudrücken. Für Vertreter dieser Interpretation sind alle Twitter-Nutzer gleich und haben die gleichen Chancen, mit ihren Nachrichten ein Publikum zu finden. Unsere Analyse zeigt jedoch, dass diese Vorstellung wenig mit der Realität gemein hat.

Während des Bundestagswahlkampfs 2009 sammelten wir alle Nachrichten von Twitter-Nutzern, die zwischen Juni und Oktober 2009 mindestens einmal eine Nachricht mit einem politischen Stichwort veröffentlichten. Dieses Auswahlkriterium erfüllten etwas über 33.000 politisch interessierte Twitter-Nutzer, die in diesem Zeitraum rund 10 Millionen Nachrichten veröffentlichten. Auf Twitter markieren Nutzer Nachrichten, die sich gezielt an einen oder mehrere andere Nutzer richten, durch ein @-Zeichen, gefolgt von den Nutzernamen der betreffenden Personen. Um Nachrichten zu markieren, die sie wörtlich von anderen Twitter-Nutzern zitieren, auch Retweet genannt, verwenden Nutzer die Zeichenkombination RT @Nutzername.

Die so mit @Nutzernamen oder  RT @Nutzername markierten Nachrichten nutzen wir, um Konversationsnetzwerke zwischen Twitter-Nutzern abzubilden. In diesen Netzwerken sind die einzelnen Twitter-Nutzer als Knotenpunkte dargestellt. Die unter den Nutzern ausgetauschten Botschaften werden als Verbindungslinien zwischen den Knoten repräsentiert. Mit den Mitteln der quantitativen Netzwerkanalyse lassen sich diese Konversationsnetzwerke genauer beschreiben und analysieren.

Hätten auf Twitter tatsächlich alle Nutzer die gleichen Chancen, mit ihren Nachrichten auf ein breites Publikum zu stoßen, so wäre zu erwarten, dass jeder Nutzer mit ähnlich vielen anderen Nutzern kommuniziert. Alle Nutzer sollten also ähnlich viele Verbindungen aufweisen. Wollte man ein solches Netzwerk von Gleichen unter Gleichen graphisch darstellen, so sähe es in etwa so aus wie Abbildung 1. Sie zeigt ein Netzwerk von Nutzern, die etwa gleich viele Kommunikations-Verbindungen zu anderen Nutzern unterhalten. Jeder Nutzer hat die Möglichkeit, andere Nutzer über viele unterschiedliche Verbindungen zu erreichen. Keine Person besitzt ein Monopol auf die Weiterverbreitung von Nachrichten zwischen zwei oder mehreren Nutzern, da es immer noch andere Nutzer gibt, die Nachrichten übermitteln können. Soweit die Modellvorstellung.

Abbildung 1: Ideales Kommunikationsnetzwerk von Gleichen unter Gleichen

Wie läuft politische Kommunikation auf Twitter aber tatsächlich ab? Abbildung 2 zeigt das Netzwerk der Konversationen von politisch interessierten Twitter-Nutzern, die am 1. September 2009 stattfanden. Um den tatsächlichen Nachrichtenfluss zwischen politischen Twitter-Nutzern abzubilden, analysierten wir die mit @Botschaften und RTs gekennzeichneten Konversationen zwischen Nutzern. Die Knotenpunkte, die die Nutzer darstellen, sind unterschiedlich groß. Die Größe der Punkte gibt wieder, wie häufig ein Nutzer angeschrieben wurde: Je größer der Punkt, desto häufiger wurde der Nutzer erwähnt. Die Stärke der Linien, die die Kommunikation über @Botschaften oder RTs erfassen, steht für die Häufigkeit des Austauschs: Je dicker die Linie zwischen zwei Nutzern, desto häufiger kommunizierten diese an dem von uns untersuchten Tag. Konversationen zwischen Nutzern messen wir hier als Nachrichten, die entweder mindestens einmal geretweetet wurden oder auf die mit mindestens einer @Botschaft reagiert wurde. Es genügt also nicht eine einseitige Kontaktaufnahme. Wir setzen vielmehr auch eine Reaktion in Form einer Antwort oder Weiterleitung voraus.

Wir erhalten so ein Netzwerk aus 405 politisch interessierten Twitter-Nutzern, die durch 662 Konversationen miteinander verbunden sind. Dieses Netzwerk in der linken Hälfte von Abbildung 2 erscheint bereits auf den ersten Blick weniger dicht und „verstreuter“ als das idealtypische Netzwerk der Gleichen. Offenbar gibt es im empirischen Netzwerk einige wenige Nutzer mit äußerst vielen Verbindungen zu anderen Nutzern. Zugleich findet sich eine Vielzahl von Nutzern mit nur wenigen Verbindungen. Wollen diese Nutzer große Aufmerksamkeit auf sich und ihre Botschaften ziehen, sind sie daher darauf angewiesen, dass Nutzer mit vielen Verbindungen ihre Nachrichten aufgreifen und zum Beispiel durch Retweets wiederveröffentlichen.

Abbildung 2: Kommunikationsnetzwerk politisch interessierter Twitter-Nutzer am 1.9.2009 [Für eine größere Version bitte das Schaubild anklicken]

Welche Bedeutung diese wenigen stark verknüpften Nutzer für das Konversationsnetzwerk haben, zeigt das im rechten Teil von Abbildung 2 dargestellte Netzwerk. Hier ist noch einmal das Konversationsnetzwerk vom 1. September 2009 dargestellt, diesmal allerdings ohne die zehn am stärksten vernetzten Nutzer. Es fällt sofort ins Auge: das vorher geschlossene Netzwerk zerbricht in 81 von einander isolierte Einzelteile. Auf den Informationsfluss im Netzwerk gemünzt, bedeutet diese Erkenntnis: Konnte im vollständigen Netzwerk (links) eine Nachricht oder Information ihren Weg über Konversationsverbindungen zu allen Nutzern des Netzwerkes finden, so führt die Entfernung der zehn am stärksten vernetzten Nutzer zur Isolation kleiner Nutzercliquen. Informationen überspringen Gruppengrenzen nun nicht mehr. Was bedeutet dies nun für die Verbreitung politischer Informationen?

Ähnliche Muster untereinander stark vernetzter Nutzer-Gruppen, die über wenige Nutzer mit anderen, weiter entfernten Gruppen im Netzwerk verbunden sind, werden häufig als Small-World-Netze bezeichnet. In solchen Netzen ist es möglich, jeden Teilnehmer über nur wenige Verbindungen zu erreichen, obwohl der größte Teil der Nutzer nicht direkt miteinander verbunden ist. Die überwiegende Zahl der Nutzer steht nur mit relativ wenigen Nutzern in Kontakt. Trotzdem können sich Informationen schnell verbreiten – weil, bildlich gesprochen, Brücken die kleinen Kommunikationsinseln miteinander verbinden.

Diese Brücken zwischen einzelnen Gruppen haben wir in unserem Beispiel entfernt, um ihre Bedeutung für den Informationsfluss darzustellen. In der Praxis verschwinden diese Nutzer natürlich nicht. Vielmehr entscheiden sie darüber, welche Informationen oder Nachrichten sie weiterleiten – und welche sie ignorieren. Von ihnen hängt der Kommunikationsfluss im Netzwerk ab. Stark verknüpfte Nutzer werden daher zu einer Art Gatekeeper, die den politischen Informationsfluss auf Twitter filtern. Sie erfüllen damit eine Filterfunktion, die sonst traditionelle Medien übernehmen. Auf Twitter sind also nicht alle Nutzer gleich, die neuen Gatekeeper sind gleicher.

Literatur:

Pascal Jürgens und Andreas Jungherr (2011) „Wahlkampf vom Sofa aus: Twitter im Bundestagswahlkampf 2009“, in: Eva Johanna Schweitzer und Steffen Albrecht (Hrgs.), Das Internet im Wahlkampf: Analysen zur Bundestagswahl 2009, Wiesbaden: VS Verlag (i.E.).

Duncan J. Watts (1999), Small Worlds. Princeton: Princeton University Press.

Die Autoren:

Andreas Jungherr arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Soziologie an der Universität Bamberg. Dort promoviert er zur Dynamik politischer Twitternutzung. Er twittert unter dem Namen @ajungherr.

Pascal Jürgens ist Kommunikationswissenschaftler und promoviert demnächst im Bereich der Online-Kommunikation. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in empirischen Methoden, insbesondere bei Sozialen Netzwerken und Modellierung.

Harald Schoen ist Politikwissenschaftler und Professor für Politische Soziologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Zu seinen Forschungsgebieten gehören Wahlverhalten, Wahlkämpfe und ihre Wirkungen, Einstellungen zu außen- und sicherheitspolitischen Themen sowie Fragen der politischen Psychologie und der Politischen Kommunikation.

 

Drei Links, zwei Rechts: Der Wahl-o-mat in Baden-Württemberg

Nachdem der Wahl-o-mat kürzlich für Hamburg mit Blick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Parteien noch ein recht buntes (bis übersichtliches) Bild produziert hat, ist in Baden-Württemberg die politische Welt noch in Ordnung – fein und säuberlich. „Drei links, zwei rechts“, so könnte man das Ergebnis zusammenfassen.

Will heißen: 38 Thesen wurden den Parteien in Baden-Württemberg vorgelegt, zu denen sie sich positionieren sollten. Untersucht man die Antworten der Parteien auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin (*), ergibt sich ein übersichtliches, an politischen Lagern orientiertes Bild: Die Übereinstimmung zwischen Grünen und SPD ist mit 82 Prozent am höchsten, gefolgt von SPD und Linkspartei (75%), Grünen und Linken (72%) sowie CDU und FDP/DVP (70%). Die guten, alten Lager – sortiert auf einer einfachen Links-Rechts-Skala – zeigen sich. Danach dagegen tut sich eine deutlich sichtbare Lücke auf – im Mittelfeld tummeln sich die Paarungen SPD/FDP, CDU/SPD sowie Grüne/FDP. Dann folgt wieder eine Lücke und es beginnt der Bereich, in dem die Unterschiede gegenüber den Gemeinsamkeiten dominieren. Das gilt also auch für CDU und Grüne, denen ja immer wieder wechselseitige Avancen unterstellt werden.

Bemerkenswert ist dabei, dass sich dieses Muster über viele Politikbereiche hinweg zeigt – Wirtschaft, Soziales, Bildung, überall ähnliche Muster. Auch dies stützt die Interpretation im Lichte einer einzigen Links-Rechts-Skala. Zumindest aus dieser (Koalitions-)Warte betrachtet sind also nach dem 27. März kaum Überraschungen zu erwarten.

(*) Der Index berechnet sich wie folgt: Für jedes Paar von Parteien wird über alle 38 Thesen hinweg gezählt, wie oft die Parteien übereinstimmen. Jede Übereinstimmung gibt einen Punkt, jede Kombination von “stimme zu” oder “stimme nicht zu” mit “neutral” einen halben Punkt. Addiert man diese Punkte zusammen und teilt die Summe durch 38 (die Zahl der Thesen), erhält man den Index. Die Annahme ist dabei natürlich, dass alle Thesen gleich wichtig sind.

 

Geschichte der Umfrageforschung

Wahlkampf 1936, USA. Das Magazin „The Literary Digest“ befragt seine Leser, welchen Kandidaten sie denn bei der bevorstehenden Wahl wählen werden – den Demokraten Franklin D. Roosevelt oder den Republikaner Alf Landon. 10 Millionen Fragebögen werden versandt, 2,3 Millionen kommen zurück – eine Zahl von wahrhaft großer „Massivität“. Auch die „Eindeutigkeit“ des Ergebnisses ist offenkundig: Landon wird die Wahl gewinnen, so die Zeitschrift. Ungünstig nur, dass wenige Woche später Roosevelt die Wahl gewann – noch dazu mit einem „Landslide“.

 

Eine schädliche Unglaubwürdigkeit

von Johannes Staemmler

Johannes Staemmler

Der Plagiatsfall zu Guttenberg zeigt nicht nur die beschleunigte Wahrheitsfindung mit Hilfe des Internets sondern auch, wie fragil Vertrauen im demokratischen System ist. Eine missratene wissenschaftliche Qualifizierungsarbeit aus dem Füller eines Ministers schadet der Demokratie.

Der Vorwurf der unlauteren Verwendung fremden geistigen Eigentums durch den Promovenden zu Guttenberg ist seit dem 16. Februar 2011 öffentlich. Innerhalb von wenigen Tagen haben Hunderte mit Hilfe des Internets unzählige nicht zitierte Textteile gefunden und im Guttenplag Wiki zusammengetragen. Ein punktuelles Versehen beim Verfassen der Dissertation kann ausgeschlossen werden. Die Offenlegung der Wahrheit ist weitestgehend durch Bürger geschehen und das Internet war das probate Mittel (siehe dazu ausführlich Shirky 2009).

Eine ähnliche Kraft entwickelten die aktiven Netznutzer durch das vielfache und vehemente Kommentieren des Radiobeitrags von Bundespräsident Köhler 2010, der sich zum Einsatz deutscher Soldaten auf Handelsrouten geäußert hatte. Die Herstellung von Öffentlichkeit nahm auch hier ihren Ursprung in der dezentral organisierten aber wachen Netzwelt. Sie war der Anlass eines unvorhersehbaren Rücktritts.

Innerhalb weniger Tage musste nun der Bundesminister seine Aussage korrigieren, ihm sei ein einzelner Irrtum beim Verfassen seiner Dissertation unterlaufen. Er ist bereit, seinen Titel zurückzugeben. Profis aller Couleur machen diesen strategisch-kommunikativen Fehler, Verfehlungen erst dann zugeben, wenn sie längst öffentlich sind. Die Universität Bayreuth, die selbst einen erheblichen Reputationsschaden erlitten hat, wird über die rechtlichen Konsequenzen befinden müssen. Über die politischen wird weiter debattiert.

In den ersten Affairentagen wurde angenommen, dass die Fehler des Ministers ausgiebig ausgebreitet werden würden in der Hoffnung, den adligen Hoffnungsträger auf mediales und moralisches Normalmaß einzudampfen. Dies ist aber nur im Rahmen von Pressebeiträgen und Debatten unter Wissenschaftlern der Fall gewesen, deren Glaubwürdigkeit auch zur Debatte steht. Der per Umfrage ermittelte Zuspruch zum Minister durch die Bürger ist ungebrochen hoch.

Vielmehr scheint ein anti-elitärer Reflex Minister zu Guttenbergs politisches Leben zu verlängern. Wie Max Steinbeis auf carta.info richtig analysiert, reagiert eine nicht unerhebliche Anzahl von Bürgern mit Sympathiebekundungen für den Minister, die seinen Kritikern vorwerfen aus niederen (also rein akademischen und publizistischen) Beweggründen gegen ihn zu hetzen. Einem athenischen Marktplatz ähnelnd wird bei Facebook das Stimmwirrwarr strukturiert und die breite Unterstützerscharr sichtbar. Die sozialen Medien dienen auch denen, die um die politische Zukunft des Bundesministers bangen.

Der medial und kommunikativ erfahrene Bundesminister zu Guttenberg läuft Gefahr, auf einer populären Welle über eine persönliche Krise zu reiten, die in Wirklichkeit das gesamte politische System betrifft. Das Vertrauen in die demokratischen Institutionen steht zur Debatte. Charismatische Führung kann und darf Integrität nicht aufwiegen. Auch wenn die öffentliche Meinung es anders bewertet, schadet Herr zu Guttenberg dem gesamten demokratischen System durch seine weitere Anwesenheit als Minister. Das Vertrauen in die politischen Institutionen samt ihrem Personal ist ein prekäres Gut, auf welches die Demokratie nicht verzichten kann. Nur dem politischen Personal zu vertrauen und die Institutionen zu vernachlässigen wäre fatal. Demokratie zehrt von institutionellem Vertrauen und der Aufrichtigkeit der Mehrzahl ihrer Bürger, die sie aber selbst nicht erzwingen kann (vgl. Böckenförde 1976). Dafür kann sie ein Minister leicht zerstören, der zwar charismatisch aber nicht integer ist.

Quellen:

Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1976) Staat, Gesellschaft, Freiheit. Frankfurt.

Shirky, Clay (2009) Here Comes Everbody. Penguin Books.

Der Autor:

Johannes Staemmler, MPP, promoviert im Rahmen eines Fellowships der Hertie School of Governance und IFOK zum Thema „Zivilgesellschaft in strukturschwachen Regionen“. Er studierte Internationale Beziehungen an der Technischen Universität Dresden und Public Policy an der Hertie School of Governance. Seine Schwerpunkte sind bürgerschaftliches Engagement, politische Theorie, Regionalentwicklung sowie politische Kommunikation.