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Parteien, Mitglieder, Wähler: Saarland

Fast ist der Punkt erreicht, an dem zur Landtagswahl im Saarland vom vergangenen Sonntag alles gesagt ist, nur noch nicht von jedem. Aber eine kleine Anmerkung zu dieser Wahl sei mir hier doch noch erlaubt, weil sie meines Erachtens sehr deutlich macht, was dort mit Blick auf die Parteien – und inbesondere die Piraten einerseits, die FDP andererseits – passiert ist.

Die Abbildung setzt die Zahl der Stimmen, die die einzelnen Parteien am Sonntag erhalten haben, ins Verhältnis zur jeweiligen Mitgliederzahl dieser Parteien. (*) Angenommen wird dabei, dass alle Mitglieder einer Partei diese Partei auch tatsächlich gewählt haben – was nicht allzu kühn erscheint.

Besonders die Extreme stechen dabei in bemerkenswerter Weise hervor: Auf der einen Seite stehen die Piraten, die trotz geringer (wenn auch stark wachsender) Mitgliederzahl und damit einhergehend geringer Verankerung in der Gesellschaft eine unglaublich hohe Stimmenanzahl erreicht haben: Rund 400 Mitgliedern stehen 35.000 Stimmen gegenüber, der Anteil der Mitglieder an den Stimmen liegt demnach bei gerade einmal etwas über einem Prozent. Das zeigt deutlich: Die Piraten treffen derzeit eine gesellschaftliche Stimmung, die sie von einem Erfolg zum nächsten zu führen scheint.

Dem steht am anderen Ende die FDP gegenüber. Hier gilt: Auf ein Mitglied kommen nur noch zwei zusätzliche Wähler – über ihre Mitglieder hinaus ist es der Partei offenkundig kaum noch gelungen, Stimmen anzuziehen. Wenn die Wählerschaft einer Partei zu rund einem Drittel aus gebundenen Mitgliedern besteht, kann jedenfalls von einem gesellschaftlichen Rückhalt jenseits der eigenen Partei kaum noch die Rede sein…

(*) Die Mitgliederzahlen wurden aus verschiedenen Quellen zusammengestellt, u.a. den einschlägigen Wikipedia-Seiten zu den Parteien im Saarland, der aktuellen Medienberichterstattung (im Falle der Piraten) sowie der Zusammenstellung von Oskar Niedermayer zu Parteimitgliedern in Deutschland.

 

Wie (schnell) werde ich Landesvater? Ein Jahr nach der Wahl in Baden-Württemberg

von Thorsten Faas und Johannes Blumenberg

Die Zeiten von „Wir können alles – außer politische Veränderung“ sind in Baden-Württemberg längst Geschichte. Stuttgart21, Eskalation im Schlossgarten, Schlichtung, Stresstest, Fukushima, Moratorium, Landtagswahl, Volksabstimmung. Wer hätte gedacht, dass das „Ländle“ überhaupt in solch politisch-turbulentes und dynamisches Fahrwasser geraten kann. Heute vor einem Jahr jedenfalls, am 27. März 2011, fand die Landtagswahl statt. Am Ende des Wahlabends standen 71 Sitze für Grün-Rot im Stuttgarter Landtag, 67 für Schwarz-Gelb. Und kurz darauf hat eben dieser Landtag Winfried Kretschmann zum ersten grünen Ministerpäsident der bundesdeutschen Geschichte gewählt.

Seit November 2010 begleiten wir an der Universität Mannheim mit (Online-)Umfragen die politischen Entwicklungen im Südwesten Deutschlands. Inzwischen haben wir einen identischen Kreis von rund 1.000 Personen insgesamt neun Mal befragt. So können wir nachzeichnen, was in den letzten rund 18 Monaten politisch passiert ist. Und wie folgende Abbildung zeigt, ist Einiges passiert – gerade mit Blick auf die Grünen und ihren exponiertesten Vertreter, Ministerpräsident Winfried Kretschmann.

Entwicklung der Beliebtheitswerte (*)

Wir haben unsere erste Befragung, die wir Ende 2010 durchgeführt haben, als Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung genommen. Wie haben sich die Beliebtheitswerte von Kretschmann und den Grünen relativ dazu entwickelt? Zunächst praktisch gar nicht: Zum Zeitpunkt unserer zweiten und dritten Befragung, rund fünf bzw. drei Wochen vor der Wahl vom 27. März 2011 haben sich beide Kurven kaum verändert. Doch schon in der letzten Woche vor der Wahl deutet sich an: Die Grünen sind „ready for take-off“ – und allen voran ihr Spitzenmann.

Nach dem Wahlsieg vom 27. März 2011 beschleunigen sich dann die beiden Prozesse, die sich auf der Zielgerade des Wahlkampfs schon angedeutet haben:
1) Die Kurven für Kretschmann und die Grünen steigen deutlich an.
2) Die Kurven entkoppeln sich.

Schon in der fünften Befragungsrunde, durchgeführt unmittelbar nach dem Wahltag, setzt ein, was Wahlforscher prosaisch den „Honeymoon“-Effekt nennen: Im Lichte des Wahlerfolgs sonnen sich die Sieger und gewinnen an Zuspruch. Die Grünen können einen halben Sympathiepunkt hinzugewinnen – Kretschmann einen ganzen. (*) Und sein Aufstieg geht in der Folge sogar noch weiter: Befragungsrunde 6, unmittelbar nach der Vereidigung der neuen Regierung, weist nochmals einen deutlichen Sympathiegewinn für den MP aus. Auch das Ansehen der Grünen steigt weiter – wenn auch deutlich bescheidener.

„Honeymoon is größtenteils over“ heißt es danach für die Grünen: In unseren Befragungswellen 7 und 8 – durchgeführt in den Wochen vor der Volksabstimmung zu Stuttgart21 – sinken ihre Beliebtheitswerte wieder und pendeln sich auf einem Niveau ein, das insgesamt etwas über dem Ausgangsniveau vom November 2010 liegt. Anders im Falle des Ministerpräsidenten: Seine Werte bleiben oben – knapp 1.5 Sympathiepunkte über dem Wert, mit dem er 2010 in den Wahlkampf gestartet ist.

Der Aufstieg Kretschmanns ist in Rasanz und Persistenz bemerkenswert. Nur zur Erinnerung: Wir haben immer den gleichen Personenkreis befragt! Es handelt sich folglich um realen Wandel – der wohl nur dadurch zu erklären ist, dass Kretschmann in kürzester Zeit die Rolle des Landesvaters erfolgreich eingenommen hat. Selbst das schwierige Umfeld rund um die Volksabstimmung und deren Umsetzung haben seiner gewachsenen Beliebtheit offenkundig nichts anhaben können. Er ist im Amt angekommen. Viele Kommentare, die dieser Tage aus Anlass des „Einjährigen“ geschrieben und gelesen werden, argumentieren ähnlich. Unsere Zahlen zeigen: Sie haben wohl recht.

Thorsten Faas (@thorstenfaas) ist Juniorprofessor für Politikwissenschaft, insbes. Wählerverhalten an der Universität Mannheim.

Johannes Blumenberg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung der Universität Mannheim.

(*) Basis der Abbildung sind so genannte Symapthieskalometer. Die Politikerfrage lautet dabei: „Kommen wir nun zu einigen führenden Politikern in Baden-Württemberg. Einmal ganz allgemein gesprochen, was halten Sie von diesen Politikern? Benutzen Sie dafür bitte eine Skala von +5 bis -5. +5 bedeutet, dass Sie sehr viel von der Person halten; -5 bedeutet, dass Sie überhaupt nichts von ihr halten“; die Parteienfrage lautet analog. Wir haben die mittleren Bewertungen, die für die erste Befragung resultierten, dabei als Ankerpunkt verwendet und in der Grafik auf den Wert 0 gesetzt.

 

Piraten und Nichtwähler

Die Wahlbeteiligung im Saarland war mit 61,6 % nicht hoch – dies war aber auch nicht anders zu erwarten. Polarisierung mobilisiert, die Menschen wählen lieber Schwarz oder Weiß statt Hellgrau oder Mittelgrau. Und die Auseinandersetzung zwischen „AKK“ und Heiko Maas war genau das Gegenteil eines polarisierten Wahlkampfes. Die beiden großen Parteien hatten im Vorfeld schon angekündigt, ihre große Koalition fortsetzen zu wollen; inhaltliche Alternativen hatten die Wähler kaum.

Diese Alternativlosigkeit wird von Nichtwählern am häufigsten als Grund für ihre Wahlabstinenz genannt – und so lässt sich auch der vorläufige Erfolg der Piraten erklären. Der Blick in das Wahlprogramm der Piraten lässt kein klares inhaltliches Profil erkennen. Aber: Sie grenzen sich zwar nicht inhaltlich ab, jedoch schlagen sie neue Prozesse vor. Sie setzen auf „liquid democracy“, mehr Bürgerbeteiligung und offene Gestaltungsmöglichkeiten in der Politik. Daraus beziehen sie den Reiz des Neuen, des Anderen, der dazu führt, dass enttäuschte, mit den etablierten Parteien unzufriedene Menschen in der Piratenpartei eine Alternative sehen. Natürlich haben die Piraten auch bei den anderen Parteien Wähler abwerben können. Aber den größten Anteil am überraschend guten Wahlergebnis der Piraten machen nicht diejenigen aus, die zuvor FDP oder Grüne gewählt haben, sondern eben jene, die zuvor nicht zur Wahl gegangen sind.

Wie nachhaltig die Piraten damit aufgestellt sind, wird sich spätestens im Mai bei der vorgezogenen Landtagswahl in NRW zeigen. Hier werden wir einen polarisierten Wahlkampf erleben, in dem der Wähler klare inhaltliche Alternativen zwischen SPD und Grünen auf der einen und der CDU und FDP auf der anderen Seite hat. Dazu kämpft die FDP ums blanke Überleben und bietet dafür einen profilierten Spitzenkandidaten auf – ebenso wie die CDU. Sprich: Es wird wieder um Themen gehen und auch die zur Wahl stehenden Persönlichkeiten bieten Alternativen.

Wie wird es in einer solchen Konstellation mit Piraten und Nichtwählern aussehen? Die Wahl in NRW wird nicht zuletzt in dieser Frage einigen Aufschluss geben, auch über die Chancen der Piraten bei der Bundestagswahl 2013. Meine Prognose: Es ist eine günstige Fügung für die Piraten, dass sie nach dem Erfolg im Saarland große mediale Aufmerksamkeit erfahren, ohne jedoch inhaltlich Stellung beziehen zu müssen. Diese Welle könnte sie in den Mai mit Wahlen in Schleswig-Holstein und NRW tragen. Allerdings werden in diesen Bundesländern weniger Wähler z.B. von der FDP zu den Piraten wandern, weswegen man sich noch stärker darauf konzentrieren muss, Nichtwähler zu mobilisieren. Einen ganz so hohen Wert wie im Saarland werden die Piraten in NRW und Schleswig-Holstein daher nicht erreichen. Aber wenn sie die Fünf-Prozent-Hürde überspringen könnten, wäre dies ein umso wichtigeres Signal – auch nach Berlin.

Weiterführende Literatur zu den Nichtwählern:

Jan Eric Blumenstil/Hans Rattinger: Warum haben Sie das getan? Subjektive Gründe der Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl 2009, in PVS Sonderheft 45/2011, S. 257-283

Armin Schäfer (2011): Der Nichtwähler als Durchschnittsbürger: Ist die sinkende Wahlbeteiligung eine Gefahr für die Demokratie? In: Evelyn Bytzek/Sigrid Roßteutscher (Hrsg.): Der Unbekannte Wähler? Mythen und Fakten über das Wahlverhalten der Deutschen: Frankfurt: Campus, S. 133-156.

 

Saarland: Koalitionspolitik = Programm + Personen

Morgen sind Millionen Hunderttausende von Saarländern aufgerufen, die Zusammensetzung des Landtags in Saarbrücken neu zu bestimmen. Spannende Fragen stehen im Raum: Wie hoch wird die Wahlbeteiligung sein? Im Superwahljahr 2009 lag sie bei immerhin 67,6 Prozent – morgen dürfte sie wohl deutlich niedriger liegen. Kommen die Grünen in den Landtag? Letzte Umfragen sehen sie zwischen 4 und 5 Prozent. Schaffen es die Piraten, in einem Binnenland in ein Landesparlament einzuziehen? Umfragen sehen sie zwischen fünf und sechs Prozent. Welche Zahl wird bei der FDP vor dem Komma stehen? 1, 2 oder 3? Wie stark wird die Linke werden? 2009 waren es über 21 Prozent, Oskar sei Dank. Und: Wer wird stärkste Kraft im Land werden? CDU oder SPD? Letzte Umfragen sehen ein Kopf-an-Kopf-Rennen.

Und trotzdem ist die Wahl zugleich unglaublich langweilig. Denn klar ist: Es wird eine Koalition aus Union und SPD geben, das betonen beide Seiten seit Beginn des Wahlkampfs und haben daran auch keinerlei Zweifel aufkommen lassen. Einzig die Frage, wer diese Koalition führen wird, ist offen. Nach den Koalitionsturbulenzen nach der Wahl 2009, an deren Ende die Jamaika-Koalition stand und zu Beginn des Jahres unterging, wirkt dies geradezu trotzig.

Gleichwohl ist diese Festlegung auch sehr bemerkenswert – und zwar aus inhaltlicher Sicht. Schaut man nämlich auf die Antworten, die die saarländischen Parteien auf die 38 Thesen des Saarland-Wahlomaten gegeben haben, so drängt sich diese große Koalition erheblich weniger stark auf, wie die folgende Abbildung zeigt:

Grad der Übereinstimmung der saarländischen Parteien gemäß Wahlomat

Wie schon bei früheren Wahlen kann man die Partei-Antworten auf die Wahlomat-Thesen nutzen, um daraus einen Indexwert (*) abzuleiten, der anzeigt, wer wem wie nahesteht. Und dabei zeigt sich eben: Die größte inhaltliche Überstimmung gibt es zwischen SPD und Linken, gefolgt von SPD und Piraten. Da beide Parteien – wenn die Umfragen stimmen – zukünftig an der Saar im Landtag sitzen werden, ergäben sich daraus durchaus inhaltlich fundierte Koalitionsoptionen. Zumindest aus Sicht der SPD ist die felsenfeste Festlegung auf die Große Koalition (potenziell sogar als Juniorpartner) durchaus überraschend. Weniger gilt dies für die Union: Zwar herrscht die größte Übereinstimmung mit der FDP, aber das ist eher von theoretischem Interesse. Die Schnittmenge mit der SPD – wenn auch insgesamt nur mäßig stark ausgeprägt – ist immer noch ihre beste (realistische) Koalitionsoption. Übrigens zeigt der Wahlomat auch das Problem der alten Jamaika-Koalition – zwischen FDP und Grünen gibt es nur sehr geringe Übereinstimmungen.

Wieder einmal zeigt sich: Politik ist eben mehr als Programmatik. Gerade in einem überschaubar großen Land wie dem Saarland mit seinen engen Netzwerken und den darin enthaltenen positiven wie negativen Verbindungen müssen die Leute auch „können“ – und das scheint bei CDU und SPD noch am ehesten der Fall zu sein. Und deswegen wird’s morgen nur mäßig spannend werden.

(*) Der Index berechnet sich wie folgt: Für jedes Paar von Parteien wird über alle 38 Thesen hinweg gezählt, wie oft die Parteien übereinstimmen. Jede Übereinstimmung gibt einen Punkt, jede Kombination von “stimme zu” oder “stimme nicht zu” mit “neutral” einen halben Punkt. Addiert man diese Punkte zusammen und teilt die Summe durch 38 (die Zahl der Thesen), erhält man den Index. Die Annahme ist dabei natürlich, dass alle Thesen gleich wichtig sind.

Thorsten Faas (@thorstenfaas) ist Juniorprofessor für Politikwissenschaft, insbes. Wählerverhalten an der Universität Mannheim.

 

Einer für alle: Die erste Rede des neuen Bundespräsidenten

Von Thorsten Faas, Marc Debus und Jochen Müller

991 Stimmen, knapp 80 Prozent konnte der neue Bundespräsident Joachim Gauck am vergangenen Sonntag in der Bundesversammlung auf sich vereinen. Über 100 Delegierte hatten sich aber bei der Abstimmung auch enthalten. Diese doch überraschend hohe Zahl – wohl aus den Reihen der ihn unterstützenden Parteien CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen – könnte ein Hinweis darauf sein, dass einige Mitglieder der Bundesversammlung nicht mit den inhaltlichen Positionen, für die Gauck eintritt, einverstanden waren – oder sind.

Heute hat der neue Bundespräsident nun seine mit Spannung erwartete erste Rede gehalten. Wie lässt sich die Rede Gaucks in dem für Deutschland prägenden zweidimensionalen Konfliktraum einordnen? Die bundesdeutschen Parteien lassen sich danach kategorisieren, ob sie einerseits für einen eher „starken“ oder eher „schwachen“ Staat“ in der Wirtschafts- und Sozialpolitik eintreten und ob sie andererseits für eher „progressiv-libertäre“ oder eher „konservative Einstellungen“ in gesellschaftspolitischen Fragen eintreten.

Vor dem Hintergrund, dass Parteien wie Politiker in ihren Programmen wie auch in ihren Reden bestimmte Signalwörter verwenden, die Ausschläge auf der einen oder anderen Dimension begründen, haben wir die heutige Rede Gaucks in Bezug zu den Wahlprogrammen aus dem Jahr 2009 der im Bundestag vertretenen Parteien gesetzt. Die Ergebnisse sind in der folgenden Abbildung dargestellt.

Es zeigt sich, dass durchaus alle zufrieden sein können. Joachim Gauck scheint mit seinen Worten die Mitte der Gesellschaft und der Politik gut getroffen zu haben. Dies schließt auch die Parteien ein. So lag die Position, die Gauck in seiner Rede zu wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen bezogen hat, nahe an der inhaltlichen Ausrichtung der Sozialdemokraten wie auch der Grünen. Gesellschaftspolitisch ist er zwischen SPD und CDU/CSU positioniert.

Insgesamt dürfte er – zieht man als „Programm“ seiner Präsidentschaft die heute von ihm gehaltene Rede heran – je nach Politikfeld programmatische Schnittmengen mit nahezu allen Parteien aufweisen können, die ihn gewählt haben. Aber er kann in diesem zweidimensionalen Raum auch offenkundig Positionen finden, die für jede einzelne Partei herausfordernd bis unangenehm sein werden. Keine schlechten Voraussetzungen für einen neuen Bundespräsidenten.

 

Quotierte Urwahlen

Beteiligungsverfahren sind ja derzeit in aller Munde – auch bei den Grünen: Auf den Seiten der Grünen kann man lesen,

„dass die Partei mit einer „quotierten Doppelspitze“ zur Bundestagswahl 2013 antritt. Dies bedeutet, dass mindestens eine Person dieser Doppelspitze eine Frau sein muss. … Das Verfahren zur Benennung der beiden SpitzenkandidatInnen wird in den nächsten Wochen weiter beraten. Für den Fall, dass sich mehr als zwei Personen für das Spitzenduo bewerben, ist auch eine Urabstimmung der Parteimitglieder im Gespräch.“

Man darf sicherlich auch annehmen, dass eine Lagerquotierung zwischen „Parteilinken“ und „Reformern“ (formerly known as „Fundis“ bzw. „Realos“) in der Partei als durchaus wünschenswert angesehen wird.

Wie aber lassen sich Quotierung und Urwahl sinnvoll vereinen? Was würde etwa in einer Situation passieren, in der Trittin, Roth, Künast und Özdemir kandidierten? Natürlich ist die Situation hypothetisch, da Cem Özdemir ja bereits seinen Verzicht angedeutet hat. Aber gleichwohl: Gäbe es dann zwei getrennte Urwahlen, eine für Männlein, eine für Weiblein? Was passierte in einer Situation, in der Trittin, Roth und Özdemir kandidierten? Wäre Claudia Roth dann gesetzt, während die beiden Herren sich einer Urwahl um den freien Platz stellen? Oder wäre in dieser Situation nicht eigentlich klar, dass das Spitzenduo Roth/Özdemir lauten muss, um beiden Quotenvorgaben – nach Lager und Geschlecht – überhaupt gerecht werden zu können? Statistiker würden nämlich davon sprechen, dass bei der (Aus-)Wahl und den gegebenen Vorgaben schlicht keine „Freiheitsgrade“ mehr bleiben, es gibt nur eine Lösung in diesem Fall.

Letztlich könnte die Möglichkeit einer Urwahl zur Folge haben, dass schon im Vorfeld intern ein Tableau abgestimmt wird, dass eine Urwahl überflüssig macht. Denn nur so ließ sich mitunter das Einhalten beider Quoten garantieren. Die Möglichkeit einer Urwahl macht sie selbst überflüssig quasi.

Direkt- und repräsentativdemokratische Verfahren folgen nun einmal unterschiedlichen Logiken, die mitunter in Konflikt zueinander stehen. Das heißt nicht, dass eine Form zwingend der anderen überlegen ist. Aber sie sind anders. Dessen sollte man sich bewusst sein, bei der Auswahl von Spitzenpersonal, bei der Auswahl von Bundespräsidenten, aber auch bei direkter Beteiligung der Bürger an Gesetzgebungsverfahren. Wer glaubt, man könne mal eben ein bißchen direkte Demokratie einbauen, zugleich aber alles Althergebrachte (und mitunter Geschätzte) behalten, der irrt.

 

Mehr Fragmentierung denn je – trotz maximaler Mehrheit: Das deutsche Parteiensystem im Lichte der Bundesversammlung

Dass das Parteiensystem der Bundesrepublik in Bewegung ist, sieht man derzeit allerorten: Das Jamaika-Experiment im Saarland ist gescheitert, die rot-grüne Minderheitsregierung stand vergangene Woche plöztlich ohne Mehrheit und Haushalt da. Klare Mehrheitsverhältnisse sind keine Selbstverständlichkeit mehr. Letztlich spiegelt das auch die heutige Bundesversammlung wider, denn auch die übergroße („überparteiliche“) Koalition kann als Reaktion auf zunehmend knappe Merheiten verstanden werden.

Ein häufig verwendetes Maß zur Beschreibung des Parteiensystems (aus der Perspektive der Fragmentierung) ist die effektive Zahl der Parteien, die neben der Zahl der Parteien auch deren relatives Gewicht berücksichtigt. Wie die folgende Grafik zeigt, ist die heutige Bundesversammlung auch aus dieser Warte betrachtet eine sehr besondere: Mit 3,8 war die effektive Parteienzahl in der Bundesversammlung noch nie höher als heute. Noch nie also war die Fragmentierung höher als heute! Seine Ursache hat dies vor allem in der Schwäche der beiden großen Parteien: Der relative Anteil der SPD in der Versammlung stagniert auf niedrigem Niveau; der Anteil der Union an den Wahlpersonen der Versammlung war nur 1949 niedriger als heute. Umgekehrt muss logischerweise der Anteil anderer Parteien wachsen – und damit auch die Zahl effektiver Parteien.

Man mag darüber streiten, welche „Signale“ von einer Bundesversammlung und ihrer einzigen Funktion – der Wahl des Staatsoberhaupts – ausgehen. Aber klar ist doch. Die Entwicklungen des Parteiensystems spiegelt die Versammlung wider. Und dass damit Herausforderungen für die Parteien verbunden sind, wissen nicht nur all jene, die gerade in Wahlkämpfen aktiv sind.

 

Schwarz-rote Signale bereits in den Wahlprogrammen? Die programmatische Positionierung der Parteien im Saarland vor der Landtagswahl am 25. März 2012

Neben Schleswig-Holstein und – seit gestern – Nordrhein-Westfalen stehen in diesem Jahr auch im Saarland vorgezogene Wahlen zum Landesparlament an. Nachdem Christ- und Sozialdemokraten an der Saar bereits im Vorfeld der Wahl sehr deutlich signalisiert haben, eine gemeinsame Regierungskoalition zu bilden, ist die Debatte über die künftige parteipolitische Zusammensetzung der Landesregierung wenig spannend. Neben der Frage, wie viele der bislang im Saarbrücker Landtag vertretenen Parteien noch den Sprung über die 5%-Hürde schaffen, ist von Interesse, wie die Parteien auf das Ende der ersten „Jamaika“-Koalition aus CDU, FDP und Grünen in einem Bundesland programmatisch reagiert haben. Zeichnet sich die Bildung einer schwarz-roten Koalition in Saarbrücken auch anhand der in den Wahlprogrammen der Landesparteien formulierten inhaltlichen Positionen ab?

Eine Inhaltsanalyse der Wahlprogramme aus den Jahren 2009 und 2012 kann hier erste Erkenntnisse liefern (siehe Bräuninger und Debus 2012 für eine genauere Beschreibung der Daten und des angewandten Verfahrens). Die folgende Abbildung zeigt die programmatischen Positionen der fünf momentan im Saarbrücker Landtag vertretenen Parteien sowie der Piratenpartei, die gute Chancen hat, in den Landtag des kleinsten deutschen Flächenstaates einzuziehen. Berücksichtigt werden dabei eine wirtschafts- und sozialpolitische Dimension, die zwischen staatsinterventionistischen und marktliberalen Positionen unterscheidet, sowie eine innen-, rechts- und gesellschaftspolitische Dimension, die zwischen progressiv-libertären und konservativ-autoritären Standpunkten differenziert. Es fällt auf, dass SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen ihre Positionen auf diesen beiden „Makropolitikfeldern“ kaum bis gar nicht verändert haben. Da das Wahlprogramm der Linken 2012 recht kurz ausfällt, ist der Schwankungsbereich der ermittelten Parteiposition recht groß, so dass nicht mit statistischer Sicherheit von einer Positionsverschiebung der Linken gesprochen werden kann. Die Piratenpartei ist gesellschaftspolitisch explizit progressiv-libertär ausgerichtet, in sozioökonomischen Fragen steht sie jedoch Union und FDP nahe.

Diese Positionierung überrascht vor dem Hintergrund der Forderung der Piratenpartei nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, spiegelt aber auch andere, eher wirtschaftsliberale Forderungen wie die nach deutlichen Ausgabenkürzungen zur Schuldentilgung, einer effizienten, auf dem Leistungsprinzip basierenden Verwaltung oder die zustimmende Haltung zur Leiharbeit wider. Zudem dominiert im Gegensatz zu FDP oder CDU weniger das Politikfeld Wirtschaft und Soziales, sondern vielmehr Fragen der Innen- und Gesellschaftspolitik die Programmatik der Piraten. Daher darf die hier ermittelte wirtschaftsliberale Position der Piraten nicht überbewertet werden. Aus inhaltlichen Gründen könnten die Piraten daher – zumindest zu einem gewissen Grad – eine Alternative für frustrierte Anhänger der zerstrittenen Saar-Liberalen sein, denen – wie zu sozialliberalen Zeiten – Reformen des politischen Systems am Herz liegen.

Die CDU als die momentan die Regierung und die Ministerpräsidentin stellende Partei im Saarland hat hingegen eine deutliche Veränderung ihrer Position in gesellschaftspolitischen Fragen vorgenommen: Sie nimmt nun ähnlich moderat progressive Positionen in diesem Politikfeld an und hat sich damit ihrem gewünschten Koalitionspartner SPD klar angenähert. In Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik müssen jedoch in anstehenden Verhandlungen nach der Wahl noch ein paar Unterschiede zwischen beiden Parteien überwunden werden. Ob diese Distanzen zwischen Union und SPD in dem zentralen Politikbereich Wirtschaft und Soziales eine Koalition zwischen Sozialdemokraten und CDU so erschwert, dass ein rot-rotes Bündnis möglich wird? Wohl kaum, wenn man den Bekundungen der Saar-SPD hinsichtlich der Präferenz für eine gemeinsame Regierung mit der Union folgt.

Literaturverweis:

Bräuninger, Thomas und Marc Debus (2012): Parteienwettbewerb in den deutschen Bundesländern. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

 

Merkel spielte gestern auf Größe, nicht auf Sieg!

Christian Wulff hat am Wochenende nicht nur sein Amt verloren, sondern nachträglich auch die Bundespräsidentenwahl 2010. Er ist der doppelte Verlierer des gestrigen Abends – und Angela Merkel? Auf den ersten Blick scheint auch sie verloren zu haben, musste sie doch ihre Position aufgeben, einen anderen Kandidaten als Joachim Gauck zu nominieren. Allerdings hat sie sich dabei zugleich auch als die präsidiale, überparteiliche Kanzlerin präsentiert. Sie hat gezeigt, dass sie lernfähig ist, und nicht nur das: Durch ihre Entscheidung, direkt nach Wulffs Rücktritt zu verkünden, dass man den nächsten Kandidaten in Absprache mit SPD und Grünen suchen werde, hat sie Gaucks zweite Kandidatur überhaupt erst ermöglicht. Die FDP mag gestern einen großen Moment gehabt haben; einen, der der Partei Selbstbewusstsein geben kann. Aber überbewerten sollte man die überraschende Initiative der Liberalen nicht – die Entscheidung lag bei der Kanzlerin.

Natürlich stellt sich die Frage, warum Angela Merkel nicht schon vor knapp zwei Jahren der Nominierung von Joachim Gauck zugestimmt hat. Wr erinnern uns: Merkel war im Sommer 2010 in einem beachtlichen Stimmungstief, die Bevölkerung war mit der Arbeit der Bundesregierung unzufrieden. In diesem Moment war Angela Merkel mehr Partei- als Regierungschefin – und musste somit in der Bundespräsidentenfrage eine parteipolitische Entscheidung treffen.

Heute liegen die Dinge anders: Merkel ist durch ihr Krisenmanagement dem Parteienstreit ein wenig entrückt. Sie wird als Staatsfrau wahrgenommen, die auf internationaler Ebene für die Interessen aller Deutschen eintritt. Der daraus resultierende Effekt ist nicht neu: In Krisenzeiten vertraut die Bevölkerung den Amtsinhabern, sofern diese keine offensichtlichen Fehlentscheidungen treffen. Daher reicht derzeit in Umfragen niemand an die Kanzlerin heran.

Ist dies bereits ein Vorbote für die Strategie im Jahr 2013? Bundestagswahlen müssen immer auf ein klares Ziel ausgerichtet sein und natürlich müssen auch alle Koalitionsoptionen durchgespielt werden, um einen geeigneten Wahlkampf anzulegen. Allerdings wird 2013 einmal mehr die Amtsinhaberin im Mittelpunkt stehen. Sie kann mit dem Thema Wirtschaft und Finanzkrise punkten – gerade auf Grund ihrer Rolle im europäischen Krisenmanagement kann sie über dieses Thema viele Wähler erreichen, die keine Unionsanhänger sind.

Der Reiz ist daher groß, auf dieses Thema zu setzen und einen weiteren Wahlsieg einzufahren. Die Einschränkung dabei: Wenn die Krise künftig noch stärker als bisher die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland und damit den Geldbeutel der Bürger betreffen sollte, könnte sich auch die Meinung zur Regierung um Angela Merkel massiv ändern – und die Kanzlerin hätte kein Gewinnerthema mehr. Die Strategie wäre also nicht ohne Risiko. Die Alternative wäre ein Befreiungsschlag wie im Falle der Bundespräsidentenwahl: Angela Merkel muss gar nicht auf Sieg spielen; wenn sie ihrer Linie treu bleibt, eröffnen sich damit neue Möglichkeiten.

Aber das ist Zukunftsmusik. Bevor wir 2013 ein neues Parlament wählen und damit über die Zukunft der Regierung Merkel abstimmen, geht es am 18. März erst einmal zur Bundespräsidentenwahl. Deren Ausgang wird – so viel ist seit gestern klar – kaum Raum für Strategien oder politische Überraschungen bieten.

 

Der Takt der Bundesversammlung wird hektisch

Manchmal helfen einfache Visualisierungen, um zu erkennen, wie sich die Dinge verändert haben… 60 Jahre lang war das Amt des Bundespräsidenten ein Ort absoluter Stabilität – erkennbar am nahezu konstanten Abstand zwischen den Bundesversammlungen I bis XIII. Und dann? Erst wirft Horst Köhler nach knapp einem Jahr seiner zweiten Amtszeit das Amt hin und weg, jetzt Christian Wulff nach gut eineinhalb Jahren… Würde man die Dauer dieser beiden Amtszeiten hochrechnen, würden die nächsten Bundesversammlungen im März 2012, August 2013 und Januar 2015 stattfinden.

Abstand zur vorhergehenden Bundesversammlung in Tagen