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21.11.2005 – 08:42 Uhr

Stehe wie Reinhold und Helge gekleidet (25 Schals, 3 Mützen, Teewurstjacke, 8 Paar Socken, Kasten Cola, Kasten Fanta (zum Mischen)) an der Bushaltestelle und kucke so rum.

Neben mir ein Mittdreißiger in Jeans, Sneakers und darüberhinaus mit Harry Potter-Baseballkappe. Er hat einen Alu-Tretroller dabei. Schaut ins Nichts, schüttelt den Kopf und macht mit rechtem Arm und rechter Hand in der Luft Bewegungen, die (es tut mir wirklich leid, aber es sieht genau so aus) an verzweifelte Versuche gemahnen, eine Frau manuell zu befriedigen.

Ein weiterer öffnet einen riesengroßen, braunen Umschlag und betrachtet dann großformatige Aufnahmen (MRT) seines Knies. Leise brabbelnd.

Auch an der Bushaltestelle, vorm Eingang zur Sparkasse, Filiale Kaisereiche, steht ein dicker Mann um die Fünfzig. Er grüßt ganz freundlich jeden, der in die Sparkassenfiliale reingeht. Als Antwort bekommt er ein Schweigen, ein doofes Gesicht, ja einmal sogar ein „Schnauze“.

Berlin oder Winter oder beides bekommt den Menschen schlecht.

Busfahrt.

Gemächliches Frühstück in der Espressostube. Ein LKW mit Anhänger versucht von der Leipziger aus nördlich in die Friedrichstraße einzubiegen. Übersieht dabei eine Laterne. Knacks. Rangiert zurück, Anhänger verkeilt sich. Nochmal Knacks. Armer Mann. Der LKW hat Magdeburger Kennzeichen. Sieht nach Überstunden aus. Zigarette aus. Mütze auf. Ins Büro. Frischluft.

 

Das InterCity Restaurant „Berlin Zool. Garten“ – ein Ausflug mit der Zeitmaschine

Wer eine Zeitreise in das Berlin der 80-er Jahre unternehmen will, der sollte auf jeden Fall einen Abstecher in das „InterCity Restaurant“ des Berliner Bahnhofs Zoologischer Garten wagen. Das Restaurant befindet sich in der ersten Etage des Bahnhofs und strahlt eine vollständig in sich geschlossene 1982-Atmosphäre ab. Der Boden bedeckt mit braunen Fliesen, die Wände vollgepackt mit grünstichig-verblichenen Photographien von Elektro- und Diesellokomotiven, hier und da kippelige Garderobenständer aus braunem Holz, schwankende Lampen aus dunkelblauem Glas, das aussieht wie diese geschmolzenen Granulat-Gebilde, die man früher unter erheblicher Rauchgasentwicklung zu Kunstgewerbezwecken im Backofen buk.

Müde schlurfen Füße in aufgeplatzen Tennissocken über den Fußboden. Sie gehören einer original ISO 9000 – zertifizierten Kaltmamsell, die einen großen Servierwagen quer durch den Raum schiebt. Auf dem Wagen trohnt ein 10 kg – Gastro-Eimer Salatmayonnaise von Develey. Auf den Tischen Tischdecken, Überdecke, Zucker, Salz, Maggi, Fondor und künstliche Blumen. In diese allgemein trostlose Deko nahtlos hereingewuchert sitzen Männer mit Raucherhusten, die mittags schon am Radeberger nuckeln, Salmonellentorte essende Rentnerinnen und strunzgesunde Australier mit farbenfrohen Rucksäcken

Die Speisekarte enthält Heterogenes. Zum Beispiel: Blaubeerkaltschale, Gorgonzolagnocchi und Kasselerlachsbraten. Die Kellner sehen aus wie Schaffner Zugbegleiter und benehmen sich auch so deutlich schlechter: „Kann ich gleich abkassieren? Ich mach Feierabend“. Ja, natürlich, klar, man ist zu müde für Protest. Die dumpf-säuerliche Atmosphäre des ICE RESTAURANTs macht schwach und schwunglos.

Sitzt man am Fenster, kann man direkt runter auf den Bahnhofsvorplatz kucken. Dort wird geschimpft, gesoffen, erbrochen, geklaut, manchmal alles gleichzeitig. Dumpf, mit Klirrfaktor 60% poltern Bahnsteigansagen per Lautsprecher ins Arrangement. Man erfährt, ohne es zu wollen, dass der Eurocity nach Prag Verspätung hat. Oder dass der ICE Cilly Aussem aus Köln pünktlich an Gleis eins ankommt.

Mürb blättert man in der Eiskarte, weint ob Nahrungsmittelbezeichnungen wie „Nussgenuss“ oder „Fresh und Fun“, fast erwartete man noch ein „Wellness“ oder „Fit und crazy“, doch dann sinkt der Kopf auf die Tischplatte und man nickt ein, der Espresso der Kaffeeverbrecher „Segafredo“ wirkt nicht. Zumindest nicht hier.

 

Neue Bewirtschaftung – Wirtschaft auf Abwegen

Es gibt in Berlin Straßen, Kreuzungen, Häuser, an denen die Seuche klebt. Was man dort auch unternimmt, es geht schief. Wohnt man in der Nähe so eines unguten Orts, dann möchte man schon gelegentlich verzweifeln. Nehmen wir im ereignislosen Berlin-Friedenau doch einfach mal die Saarstraße Ecke Dickhardtstraße. An dieser Ecke versucht ein strubbeliges Frührentnerpaar nach dem anderen aufs Hartnäckigste, eine Gastwirtschaft zu etablieren. Und es läuft immer ganz genau gleich ab.

Erst werden von innen die Fensterscheiben mit Zeitungen ausgeklebt. Drinnen wird eifrig renoviert. Menschen im Gründertaumel sitzen da und weißen Wände, schrauben an Zapfanlagen, ein Mann von der Firma Merkur kommt vorbei und hängt Spielautomaten auf. Brauereigestühl wird in die Schankstube geladen. Draußen ein A4-Zettel: „Hier eröffnet am 1. Januar Harry’s Pilsstube“. Dieser Zettel hängt bis Mitte Januar da, dann wird er abgerissen. Zu guter Letzt wird ein blaugelbes beleuchtetes Emblem „Harry’s Pilsstube“ draußen aufgehängt. Es wurde von der Brauerei „Engelhard Charlottenburger Pilsener“ gesponsort.

Dann geht es los. Jeden Samstag und jeden Sonntag watschele ich an jener Straßenecke vorbei. Hinter dem Tresen steht mit unsicherem Gesicht ein Frührentnerehepaar. Am Tresen sitzen zwei bis drei Freunde des Ehepaars. „Kommt doch die ersten Tage mal öfter vorbei, damit es nicht so leer aussieht“, wird das Ehepaar zu seinen Freunden gesagt haben. Eine Woche später sitzen die Freunde nicht mehr da. Das Ehepaar wird angespannt. Das Bier wird unten in den Fässern schal. Ein Teufelskreis. Die Brauerei fängt an zu mucken. Das Biersoll muss abgenommen werden.

Erste Verzweiflungstaten werden begangen. Rechtschreibfehlerplakate werden mit Farbtintenstrahldruckern gedruckt und ins Fenster gehängt: „Sonntags Frühstücksbuffett von 6-11 Uhr. Frühstück und Kaffee satt für 6 €“. Es nützt nichts. Denn Sonntags schiebe ich an Harrys Pilsstube vorbei und niemand sitzt drin. Unter einer kleinen Vitrine biegen sich Salami- und Käsescheiben verzweifelt nach oben, als würden sie die Schultern zucken und sagen „Ich kann doch auch nichts dafür“.

Nächste Verzweiflungstat: Anschaffung eines sehr teuren Dartspielautomaten. Bekleben der Eingangstür mit einem mitgelieferten bunten Plakat: „Neu! LÖWEN-TURNIER-DART“. Niemand will Dart spielen. Nicht mal in Friedenau. Die Gesichter des Pärchens werden verbittert.

Nächste Verzweiflungstat: Sonderaktionen. Eisbeinessen, Gänsekeulenessen, Martinsgansessen. Niemand kommt. Wenn einer kommt, dann nur zum Zigaretten ziehen oder Geld wechseln. Oder fragen, ob man ein Plakat aufhängen dürfe.

Nächste Verzweiflungstat: Anschaffung eines Großbildfernsehers und Premiere-Decoders. Aufstellen einer Tafel vor der Gaststätte: „Alle Bundesligaspiele, bei gemütlichem Bier“. Niemand will alleine in einer leeren Kneipe Bundesliga kucken. Es nützt nichts. Es ist traurig. Sie machen alles falsch.

Sie halten drei Monate durch. Drei harte Monate. Dann ein letztes Aufbäumen, nämlich Lügen: Schräg werden Aufkleber auf die Scheiben gepappt. „NEUE BEWIRTSCHAFTUNG!“

Hilft auch nichts.
Nach Harry’s Pilsstube kommt die „Florya-Bar“ kommt das „Frühstückscafé Geheimtip“ kommt das „Warsteiner Treff“. Sie werden es nie verstehen.

 

Restaurant Mesa

Hier stelle ich in loser Folge Restaurants vor, die mir gefallen. Ich betone ausdrücklich, dass die genannten Restaurants für diese Rezensionen kein Geld bezahlen und ich auch ansonsten weder privat noch dienstlich mit den Besitzern jener Restaurant verbandelt bin. Ich geh einfach gerne da hin. Punkt.

Es gibt Abende, spontane Situationen, an denen braucht man ein verlässliches Restaurant. Ein Restaurant, in welchem auf wundersame Weise immer ein Tisch für zwei frei ist, ein Restaurant in dem das Essen stets frisch, liebevoll zubereitet und schmackhaft ist. Ein Restaurant ohne böse Überraschungen. Das Mesa ist so ein Fall. Hier wird libanesisch gekocht, und zwar vom Allerfeinsten. Schwerpunkt und Namensgeber dieses Restaurants sind die in anderen Restaurants lieblos als „Vorspeisen“ abgekanzelten Kleingerichte, die man beliebig miteinander kombinieren kann. Darunter finden sich natürlich libanesische und persische Klassiker wie das Hommos oder Tabouleh, aber auch aromatische Lammhackbällchen (Kibeh boule), marinierte Hähnchenspieße (Shikh tawouk) u.v.a.

Wer eher reaktionär unterwegs ist und eine klassische Menüfolge braucht, kann auch dies haben; es gibt eine wunderbar frische, mit Zitrone abgeschmeckte Linsensuppe, einen Lammrücken mit grünen Bohnen, dessen Zartheit die Tränen in die Augen treibt; auch der mit Zwiebeln und Mandeln versehene Seelachs schmeckt vorzüglich. Vegetarier können sich an einer Seltenheit erfreuen: Einem Couscous, das NICHT langweilig vor sich hindümpelt, sondern mit erlesenen Gewürzen und in bestem Olivenöl geschwenkt ganz neue Geschmackswelten auftut. Die Weinkarte ist klein und fein, besonders empfehlenswert die zu Unrecht kaum bekannten Weine des Weinguts „Ksara“ aus dem Bekaa-Tal. Die „Réserve du Couvent“ duftet nach Schokolade und Beeren und bekommt durch den Syrah-Anteil einen nachgerade feuerwerksartigen Nachgeschmack. Der ebenfalls einwandfreie Château Ksara Rouge wird sogar als offener Wein serviert und ist dank der guten Nachfrage bedenkenlos trinkbar. Der mit Kardamom gewürzte Mokka gibt gemeinsam mit einem Arrak, der geschmacklich genau zwischen Pernod und Raki liegt, beste Gefühle im ganzen Körper. Hervorzuheben auch der Kellner, der scheinbare Schlafmützigkeit und Charme aufs Hervorragendste vereint.

Im Mesa isst man stilvoll, aber nicht etepetete. Kinder sind willkommen und kriegen auch bizarre Sonderwünsche erfüllt, z.B. handgeschnitzte Pommes Frites.

Restaurant Mesa
Paretzer Str. 3
10713 Berlin
(030) 822 53 64

tgl. außer SO 16-24 Uhr
EC-Karte
www.mesaberlin.de

 

Schlau geradelt

Fahren Sie gerne Fahrrad? Angenommen, Sie wollen von der Markgrafenstraße in Berlin-Mitte so schnell wie möglich zur Albrechtstraße in Steglitz. Und zwar mit dem Fahrrad. Könnten Sie auf Anhieb sagen, welche Route die beste wäre? Mit www.bbbike.de geht das!

Geben Sie Start- und Zielstraße ein und klicken Sie auf „weiter“. Im nächsten Menü können Sie die jeweilige Straßenecke genauer einkreisen. Sodann wählen Sie den bevorzugten Straßentyp (Haupt- oder Nebenstraßen), Straßenbelag (!) und die Option „Ampeln vermeiden?“. Ein letzter Klick auf „Route zeigen“ – und schon tüftelt Ihnen bbbike.de den idealen Weg aus. Sie erfahren außerdem, wie lange Sie voraussichtlich unterwegs sind. Ein Handout des Wegs können Sie sich ausdrucken und mitnehmen. Funktioniert perfekt und hat mir schon einige hübsche Abkürzungen beschert.

 

Aberglauben, revisited

Nachts, halb zwei, man stolpert die Treppen der hässlichsten U-Bahn-Station Berlins (Nauener Platz) herunter. Weicht in letzter Sekunde einem volltrunkenen Mittfünfziger aus, der sich erbrechend einen Weg zum Mülleimer bahnt. Betritt endlich die rettende U-Bahn der Linie U-9. Am Bahnhof Zoo steigt ein Mann zu, der offensichtlich von einer Kostümfeier kommt. Er ist voll und ganz als Cowboy verkleidet, inklusive Fransenwildlederjacke, Sporenstiefel und breitestkrempigem Hut. Er setzt sich mir gegenüber. Die U-Bahn fährt an.

Mit einem Mal ertönt es: „Guten Morgen, die Fahrscheine bitte“. Mir wird übel. Ich habe es wirklich vergessen, mir einen Fahrschein zu kaufen. Ich fahre oft und viel mit Bus und U-Bahn, ich zahle stets für mein Ticket, aber dieses Mal – tja. Der Cowboy schaut auch unruhig. Die Kontrolleure gehen durch den Wagen, kontrollieren alle Fahrgäste – nur den Doppelsitz mit dem Cowboy und mir lassen sie aus. An der Spichernstraße verlassen sie den Wagen. Der Cowboy grinst mich an. Breit. Einmal rum um den Kopf. Und langt in die Innentasche seiner Fransenjacke. Zieht – und ich schwöre, dass es wahr ist – ein Hufeisen hervor. Zwinkert mir einmal zu. Und steckt es wieder in die Tasche.

 

Typologie der Berliner Busfahrer

Mit diesem Eintrag möchte ich mich als mehr oder weniger regelmäßiger Autor vorstellen.

Wer in Berlin lebt und aus finanziellen, ideologischen, gesundheitlichen oder sonstigen Gründen kein Auto fährt, wird früher oder später mit der BVG Bekanntschaft machen. Nun ist es mit U- und S-Bahnen so, dass üblicherweise kein Kontakt zum Fahrer besteht. Ganz anders hingegen beim Bus; nicht selten entwickelt sich zwischen Fahrgast und Fahrer eine Art Hassliebe, denn der eine kann ohne den anderen nicht. Womöglich hilft bei der Einschätzung, wie sich zu verhalten sey, eine kleine Typologie der Busfahrer. Et voilà!

1. Der Neuling
Sagt alle Haltestellen klar und deutlich per Mikrofon an. Begrüßt alle Fahrgäste mündlich der Tageszeit entsprechend. Fährt ängstlich und hält übermäßigen Abstand nach allen Seiten. Überholt nie, weil er Angst hat nicht rechtzeitig vor der nächsten Haltestelle wieder auf die rechte Spur zu kommen. Ehefrau fährt inkognito mit.

2. Der Penible
Bleibt an Haltestellen länger stehen, wenn er merkt, dass er dem Fahrplan voraus ist. Fährt erst weiter, wenn Uhrzeit und Abfahrtszeit der Haltestelle sekundengenau übereinstimmen. Wird äußerst unruhig wenn er merkt, dass er dem Fahrplan hinterher ist, begeht aber trotzdem keine Geschwindigkeitsüberschreitung. Versucht so wenig als möglich zu bremsen und drosselt das Tempo bereits einen Kilometer vor eine roten Ampel. Bekommt geräuschlosen Orgasmus, wenn die Ampel dann kurz vor seinem Eintreffen auf Rot/Gelb schaltet und er durchstarten kann. Verbraucht sehr wenig Material (Diesel, Reifenabrieb). Gewerkschaftsmitglied.

3. Die zynische Drecksau
War im vorherigen Leben Unteroffizier, nikotinsüchtig, optisch der Typ „Otto Sander“. Hager, helle Haut, rote kurze und doch strähnige Haare. Fährt los, auch bzw. erst recht wenn er sieht, dass noch Menschen auf den Bus zulaufen. Fährt abwechselnd Vollgas oder Vollbremsung. Versucht mutwillig durch Fahrstil Fahrgäste zu Fall zu bringen. Hält gerne an Haltestellen genau so an, dass die Fahrplanhalterung der Haltestelle den geometrischen Mittelpunkt der Vordertüren des Busses bildet und man sich am Fahrplan vorbeiquetschen muss, um in das Innere des Busses zu gelangen. Grüßt nie. Weigert sich anderes Geld als abgezählt zurechtgelegtes zu nehmen, obwohl er in der rechten Hemdentasche zahlreiche 5-Euro-Scheine privat sammelt. Raucht, wenn keine Fahrgäste im Bus sind. Erteilt keine Auskünfte.

4. Der Schelm
Launige Ansage. Launige Kommentare bei der Fahrscheinaus- und Wechselgeldrückgabe. Motivkrawatte. Trinkt mittags auch schon mal ein Bierchen. Geliebte fährt mit und unterhält sich mit ihm während der Fahrt.

5. Der Lockere
War mal LKW-Fahrer. Hat alles im Griff. Haut mit voller Wucht gegen das Geldrückgabedingsbums, wenn es klemmt. Schwimmt mit dem Verkehr. Überholt, wechselt häufig die Spur, bleibt dabei aber stets effizient. Fährt im Sommer mit offener Tür, um Frischluft reinzulassen. Lässt Leute ein- und aussteigen, wo sie möchten. Fährt geschickt. Steigt auch mal bei einer längerfristig roten Ampel aus und kauft beim Gemüsetürken eine schnelle Melone. Frau UND Geliebte fahren mit, beide wissen nicht voneinander, verständigt sich mit beiden per unterschiedlichen Handzeichen. Verschickt zusätzlich während der Fahrt SMS an Zweitgeliebte. Hat entweder Glatze oder Vollmatte mit Schnurrbart. Flucht nie.

6. Der Verkehrs-Erzieher
Leptosom. Macht bellend laute Ansagen, dass die Menschen nach hinten durchrücken sollen. Bleibt hinter Autos, die die Busspur blockieren, rigoros stehen und drischt mit beiden Händen mindestens 20 Sekunden lang auf die Hupe. Öffnet auch mal an roter Ampel Tür oder Fenster, um Autofahrer oder Radfahrer, die im Unrecht sind, zu belehren bzw. verwarnen. Stets im Recht.

7. Der Stoiker
Vormals Reisebusfahrer. Pykniker. Hört Radio aus dem eigens mitgebrachten, batteriebetriebenen Kofferradio, lässt alle rein, dödelt gemütlich daher, Fahrplan scheißegal, et kütt wie et kütt und et hät noch ewwer joht jejange. Fährt im Schlaf. Hat manchmal auch kleine 12V-Kaffeemaschine an Bord. Lässt Leute auch schon mal umsonst mitfahren, wenn er deren 50-Euro-Scheine nicht wechseln kann und verteidigt sie vor Fahrscheinkontrolleuren. Würde sogar TKKG- oder 5 Freunde – Cassetten einlegen, wenn es ein Cassettendeck gäbe und man ihn darum bäte.

8. Der Demenzkranke
Seit 30 Jahren im Dienst der BVG, vorher vermutlich StaSi. Verpennt schon mal eine Haltestelle. Muss gelegentlich geweckt werden, Sekundenschlaf. Druckt falsche Fahrscheine, signifikant hohe Stornoquote, Kasse stimmt oft am Ende des Tages nicht. Führt leise Selbstgespräche oder schimpft halblaut. Macht regelmäßig kleine Blechschäden. Unkündbar.

9. Die Busfahrerin
Blondgefärbte, brilletragende Enddreißigerin. Einzige Mitarbeiterin, die die BVG-farbenen Blusen inklusive Halstuch trägt, hebt natürlich jovial bei entgegenkommenden Kollegen die Hand zu Gruß, weiß genau, dass alle wissen, mit wem sie wann auf welcher Linie. Ansonsten steigt sie bereitwillig aus, um Kinderwagen oder RentnerInnen ein- und auszuladen, tritt schon mal gewalttätig gegen eine klemmende Tür und hasst es, Schüler oder Touristen zu transportieren, bremst auch für Tiere. Benutzt niemals das Mikrophon, rechnet penibel ab, hat Plastikblumen am Rückspiegel und flirtet lautstark mit der Einsatzzentrale. Eigentlich gehörte die Stelle ihrem Ex-Mann.

 

Volkspark Blues

Der idale Ort für eine Distinktionsgewinnspazur ist der Berliner Volkspark. Er fläzt sich breit durch Schöneberg und die letzten Ausläufer von Wilmersdorf. Im Gegensatz zu dem vital-verkorksten Kreuzberger Viktoriapark reiht sich hier ein Bildungsbürgermittelschichtdramolett an das nächste. Hier schieben einzelne Herren oder Damen Kinderwagen die Wege entlag, hier sitzen ergraute Paare auf Bänken und diskutieren mit eisigen Gesichtern die verwichene Paartherapiesitzung, hier liegen sommers grotesk körperbehaarte Bibilothekarinnen auf dem Rasen und winters gefrorene Pudelköttel. Hier preschen grell kostümierte Neopren-Radler durchs Unterholz, um wahllos zu verletzen.

Die einzigen Verpflegungsmöglichkeiten sind eine ranzige Imbissbude und eine Döneria mit dem sozialrealistischen Namen „Neuanfang“. Etwas versteckt am Westrand befindet sich ein verwitterter Minigolfplatz, wo hornbrillentragende, aufgequollene Datenbankspezialisten mit ihren 8-jährigen Söhnen herumklickern, während die Partnerin, meist Erzieherin, in Sichtweite auf der Bank das Zweitkind säugt.

Auch gibt es mehrere deprimierende Spielplätze, am frequentiertesten ist der am RIAS-Hauptgebäude. Hier spielen Kinder, deren Rotz aus grindigen Nasenlöchern läuft, auf der öffentlichen Bezahl-„City-Toilette“ werden Windeln gewechselt, und wer hier richtig glammen und glitzen will, der holt sich beim „Toni am Rias“ (Bei RIAS-Mitarbeitern auch Seuchen-Toni genannt) einen nach Heizöl und Twix schmeckenden Cappucchino auf die Faust. Wagemutige bestellen eine Pizza Funghi è Cippolla, einen rotbeigefarbenen käsig-öligen Reigen aus Dosenchampignons (3. Wahl), vergorenen Zwiebelringen und zwei Handvoll 0,99 EUR-Emmentaler (gerieben) und verzehren dieses tomatenmarktropfende Arrangement, im Sand sitzend, während die Kinder sich an der Wasserpumpe die finale Erkältung holen.

Wer samstags hier promeniert, kann mit etwas Glück am Schöneberger Rathaus gratis den Entwürdigungen einer standesamtlichen Trauungs-Nachbereitung folgen (Dicke Menschen im Dreiteiler oder Abendkleid, die Fotos machen, Drehorgelspieler, Brautpaar, das gerade vor Zeugen gelogen hat).

Des Sonntags ist an gleicher Stelle der direkte Schwenk zum weltberühmten Flohmarkt am Schöneberger Rathaus möglich. Hier kann man seine Santana-Plattensammlung komplettieren, in altem Geschirr oder 2nd-Hand-Kinderkleidung herumwühlen, völlig überteuerte und überdies defekte Röhrenradios erstehen, oder einfach nur stumpf beim mobilen Imbiss eine sättigende Erbsensuppe einnehmen. In Gehweite eine Bouleanlage, von kugeligen Restaurantbetreibern nach dem ersten Herzinfarkt besetzt, die sich in der Frühmittagssonne langsam einen ersten Bordeauxrausch zusammentrinken.