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Was man in Deutschland alles sagen darf

 

Ich habe für die morgige Ausgabe der ZEIT (Nr.44) eine Seite 3 zu den Weiterungen im Fall Sarrazin geschrieben:

Aus einem Interview in einer wenig bekannten Intellektuellenzeitschrift ist binnen dreier Wochen ein „Fall Sarrazin“ geworden. Der Streit über die Äusserungen des Bundesbankvorstands in „Lettre International“ mutiert zur Debatte über die deutsche Debattenkultur. Es wird mittlerweile genauso leidenschaftlich darüber gestritten, was man hierzulande um welchen Preis sagen darf – wie über die ursprüngliche Frage: ob Sarrazin denn Recht hat mit seinen Behauptungen über Einwanderer in Berlin.
Auch die Leser dieser Zeitung und ihrer Online-Ausgabe sind seit Wochen hoch engagiert in der Analyse des Vorgangs. Seit dem Streit um die dänischen Karikaturen hat es eine solche Welle der Empörung nicht mehr gegeben. In vielen Hundert Beiträgen schält sich ein Deutungsmuster heraus, das sich immer weiter vom Ursprung der Debatte löst. Es lautet etwa so: Einer sagt, was schief läuft im Land mit den „Türken und Arabern“ – und wird dafür bestraft. Man kann einem Mythos beim Entstehen zuschauen: Thilo Sarrazin, einsamer Kämpfer gegen Rede- und Denkverbote.
Zwei Männer haben maßgeblichen Anteil daran: Stephan Kramer vom Zentralrat der Juden in Deutschland, der behauptete, dass „Sarrazin mit seinem Gedankengut Göring, Goebbels und Hitler große Ehre erweist“. Und Axel Weber, Vorstandschef der Bundesbank, der Sarrazin erst verschwiemelt den Rücktritt nahelegte und ihn dann hinter den Kulissen teilentmachtete – ohne je ein offenes Wort über die Aussagen seines Bank-Kollegen zu wagen, die den Anlass gegeben haben. Nun wird gar behauptet, die Pressestelle der Bundesbank hätte vorab Kenntnis von dem Interview gehabt und Weber hätte Sarrazin somit bewusst ins offene Messer laufen lassen. Wie dem auch sei –  Kramer und Weber lieferten Beispiele dafür, wie man die Diskussionskultur auf den Hund bringen kann: die fast schon bis zur Selbstkarikatur übertriebene Intervention des Zentralratssekretärs und das verdruckste Powerplay des Bankchefs haben mancherorts den Eindruck verfestigt, dass man in Deutschland über bestimmte Dinge nicht mehr reden kann, ohne erst in die rechte Ecke gedrängt und dann in den Senkel gestellt zu werden.

Mein Artikel auf Zeit Online, der Kramers Äusserung „einfach lachhaft“ nannte und befürchtete, er mache „kleine Münze aus dem NS-Vorwurf“, erhielt in kurzer Zeit 600 überwiegend zustimmende Kommentar. Und es ist immer noch kein Ende abzusehen, obwohl Kramer seine Äusserungen unterdessen zurückgenommen hat.
Da macht sich einerseits Empörung über den Umgang mit einem Unbequemen Luft. Aber es ist auch etwas anderes im Spiel, das man nicht so leicht als Beitrag zu einer freieren, konfliktfreudigeren Debattenkultur verbuchen kann. Da ist auffällig viel Freude dabei, dass man den Zentralrat der Juden bei einer törichten Intervention ertappt hat. Und es kommen in den Leserbriefen und den Online-Debatten Annahmen über den Stand der Integration, über die „wahren Ursachen“ der Probleme des Einwanderungslandes, über die deutsche Identität und über die Haltung der Migranten zutage, die noch weit über Sarrazins Zuspitzungen hinausgehen.
Eine unterdrückte Wut macht sich Luft.

Ein Gefühl der Befreiung trägt viele Beiträge.  Mit der alten völkisch-rechten Fremdenangst hat dieses Phänomen herzlich wenig zu tun. Der politisch-emotionale Druckausgleich findet diesmal eher auf der liberal-progressiven Seite der Gesellschaft statt. Nicht schon die Andersheit des Anderen ist das Anstössige, sondern sein Zurückbleiben (oder -fallen) im Modernisierungsprozess, wie es sich in religiösen Symbolen, traditionsverhafteten Familiensitten und Machismo äußert. Entsprechend geriert man sich wohlig als Bannerträger der Freiheit. Eine manchmal schwer erträgliche Aura biederer Selbstgerechtigkeit gegenüber den Modernisierungsversagern prägt viele Äusserungen, die zuweilen an einen fortschrittlichen Rassismus grenzen. Einen altkonservativen Provokateur  wie Peter Gauweiler verleitet dies, in die Debatte zu werfen, ihm seien »Kopftuchmädchen allemal lieber als Arschgeweihmädchen«.
Das Gefühl der Befreiung wird interessanter Weise dadurch befördert, dass hier nicht etwa ein Mann vom rechten Rand behauptet, dass die Mehrzahl der Türken und Araber „keine produktive Funktion“ hätten und die Türken Deutschland mit ihrer Geburtenrate erobern „genauso wie die Kosovaren das Kosovo“ (Sarrazin) – sondern ein SPD-Mann. Das macht die Sache nämlich weniger verdächtig. Mit besonderer Genugtuung wird denn auch darauf verwiesen, dass „Herr Sarrrazin keineswegs am rechten Rand poltert, er poltert mitten in der Gesellschaft. (…) Er vermittelt dem viel zitierten kleinen Mann, dass es da oben doch noch welche gibt, die um seine Ängste, Sorgen und auch ganz konkreten Erfahrungen im Umgang mit Einwanderern jedwelcher Generation wissen und ihn auch ernst nehmen.“ Mancher Leser hält schon den Begriff Integration selbst für „reichlich naiv“ und meint, die Mühe „erübrigt sich nicht nur aufgrund der zu unterschiedlichen Kulturen. Die wollen es einfach nicht, nehmt das endlich zur Kenntnis.“ Wieder andere zitieren genüßlich die Zustimmung zu Sarrazins Aussagen von so prominenten Köpfen wie Hans-Olaf Henkel und Ralph Giordano. Die beiden liessen sich  nicht dem „rechten Lager“ zuordnen und hätten festgestellt, dass Sarrazin „einfach Recht“ habe –  anders als die „professionellen Gutmenschen“, die uns die Verhältnisse erst eingebrockt hätten. Viele Leser geben sich vollkommen sicher, dass die Integration scheitern muss, weil „die“ (Einwanderer) einfach nicht wollen. Woraus folgt, dass es in Frage steht, wie einer triumphierend schreibt, dass wir „überhaupt eine Einwanderungspolitik“ brauchen. Und es dauert nicht lange, da kommt derselbe Leser mit seiner Erklärung dafür, dass „Menschen eines völlig anderen Kulturkreises“ nicht integriert werden können. Es folgen aus dem Internet kopierte saftige Koran-Zitate über die „Ungläubigen“. Wieder ein anderer Leser ist zwar nicht per se gegen Einwanderung, aber wenn schon, dann „nur aus katholischen Ländern“. (Vom schlechten Schulerfolg der italienischen Einwandererkinder hat er offenbar noch nicht gehört.)
Das ist nicht abzutun als das übliche Maß an Ressentiment am Rand der Gesellschaft. Die paar handfesten Neonazis in den Debattenforen und Leserbriefspalten sind kaum der Rede wert. Sarrazin selber scheint sich erschrocken zu haben: Ob seine Entschuldigung, offenbar sei „nicht jede Formulierung gelungen“ gewesen, daraufhin deutet, dass ihm die Enthemmung mancher seiner Unterstützer selber unheimlich geworden ist?
Aussagen wie „Jeder Ausländer raus, wenn er nach sechs Monaten keinen Job gefunden hat“ stammen eben nicht von den wenigen Extremisten, die man hier gar nicht zitieren kann, ohne der Volksverhetzung in Anführungsstrichen Vorschub zu leisten. Es ist vielmehr die wutschäumende Mitte, über die man sich Gedanken machen muss.
Zum Glaubenssatz hat sich verfestigt, der Islam sei das Problem und Muslime nun einmal nicht integrierbar. Sarrazin redet zwar sehr abfällig über „Türken und Araber“. Doch er betont auch, dass die deutschstämmige Unterschicht die gleichen Probleme habe. Und: „Türkische Anwälte, türkische Ärzte, türkische Ingenieure werden auch Deutsch sprechen, und dann wird sich der Rest relativieren.“ Das passt eigentlich gar nicht ins Weltbild vieler, die glauben, man müsse nur den Koran lesen um zu verstehen, warum die „Türken und Araber sich hier nie integrieren können“.
Das Interview ist offenbar längst Nebensache: Man hat sich Sarrazin zum Helden erkoren und fühlt sich nun ermuntert, Dampf abzulassen. Beschweren kann sich Sarrazin über diese Fans allerdings nicht, denn er hat sie durch seine lustvoll verächtlichen, verantwortungslosen („stammtischnah“ nennt er es selbt in einer hellen Sekunde) Formulierungen angestachelt: Sie (die „Türken und Araber“) „produzieren ständig neue kleine Kopftuchmädchen“, sie „wollen keine Integration“, sie „erobern Deutschland“. Das Schnarrende, Herablassende, Höhnische ist seit jeher das Geheimnis seines Erfolgs. Thilo Sarrazin spricht vom Elitemangel in der Hauptstadt, vom Verfall der Bürgerlichkeit, den er aufhalten wolle. Sein eigener Ton, der bewusst mit dem Überschreiten ziviler Standards spielt, ist allerdings ziemlich unbürgerlich. Elite, die den Namen verdient, würde die Pöbelei gegen den hart arbeitenden Obst- und Gemüsehändler scheuen, der um drei Uhr morgens aufsteht, um seine Ware einzukaufen. Sarrazin ist in Wahrheit eine der vielen Gestalten der SPD-Rechten, in denen sich der Niedergang seiner Partei verkörpert: ein Sozialdemokrat, der den Leuten die Lizenz zur Verachtung derer ganz unten erteilt.
So assoziiert er etwa in wildem Lauf eine „Araberfrau“, die in Neukölln ihr sechstes Kind bekommt, weil sie dann durch Hartz IV eine größere Wohnung bekommt, mit der teilweisen erblichen Bedingung von Begabung – und folgert flugs, dass darum in der Haupststadt der „Anteil der intelligenten Leistungsträger aus demographischen Gründen kontinuierlich fällt.“ Es steht zwar nicht da, dass Araber die Dummheit vererben, aber es ist schon verzeihlich, dass mancher Sarrazin-Fan dies schlußfolgert, wenn der Interviewte im Gegenzug die überlegene Intelligenz der „osteuropäische Juden“ („15 Prozent höheren IQ“) preist.
Manche seiner Verteidiger finden den Ton des Bundesbankers zwar auch nicht schön. Sie meinen, er habe sich vielleicht hier und da im Register vergriffen, vielleicht dies und jenes überspitzt – aber dennoch eine tolle Debatte angestossen. Dazu ist folgendes zu sagen: Ton und Haltung sind keine Nebensache, wo es um Integration geht. Wie die Mehrheitsgesellschaft sich gegenüber den Neuen und ihren Kindern, die hier geboren sind, aufstellt, ist eine Kernfrage der Gesellschaftspolitik.
Und was die Integrationsdebatte angeht: Deutschland hat dabei in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Die jetzige Debatte mit ihrer reichlich wirren Kombination von Ökonomismus, Eugenik („Unterschichtgeburten“) und kokettem Borderline-Rassismus wirft den Streit um die Integration in Wahrheit um Jahre zurück – in jene Phase, als das Schimpfen noch geholfen hat und man glaubte, die Alteingesessenen müssten diesen Neuankömmlingen nur mit harter Hand klarmachen, dass sie sich entweder einzufügen oder zu verschwinden hätten. Diese Welt ist längst perdu, und mit ihr die Alternative von Assimilation oder Rückführung.
Wir sind längst weiter. Wir haben in Deutschland die Schein-Alternative von Harmoniesoße oder kaum verhohlener Verachtung hinter uns gelassen, die frühere Debatten über die „Gastarbeiter“ kennzeichnete. Die Konservativen haben sich von der infantilen Sehnsucht nach dem Status quo ante verabschiedet und akzeptiert, dass die Arbeitsmigration nicht rückabgewickelt werden kann und mit ihren Folgen politisch umgegangen werden muss. So wie die Rechte akzeptiert hat, dass wir ein Einwanderungsland sind, hat die Linke sich stillschweigend  von der naiven Idee verabschiedet, Einwanderung sei automatisch eine Bereicherung und Multikulturalismus ein Selbstläufer. Zwei kostspielige Formen der Wirklichkeitsverleugnung sind vor aller Augen gescheitert, und die Politik hat begonnen, mit einer neuen Integrationspolitik darauf zu reagieren.
Seit Jahren debattieren wir – auch in der ZEIT – zum Beispiel die schlechten Schulergebnisse der Türken und Italiener und scheuen auch nicht die Frage, warum etwa Vietnamesen und Iraner besser abschneiden. Die Mängel des deutschen Schulsystems sind Thema in den Medien – aber eben auch die bildungsferne Einstellung vieler Eltern mit türkischen Wurzeln. Auch die türkischen Gruppen und die türkischsprachigen Zeitungen haben nach jahrelanger Abwehr angefangen, dies zu skandalisieren – ein Erfolg der harten Debatte in Politik und Medien. Thilo Sarrazin bezieht seine Beispiele übrigens selber aus den Medien – wie etwa aus dem ZEIT-Dossier über grillende Orientalen im Berliner Tiergarten. (Allerdings macht er aus 15-20 Tonnen Abfall, den Menschen aus aller Herren Länder dort hinterlassen, inklusive Weinflaschen und Hähnchenkeulen, mal eben „20 Tonnen Hammelreste der türkischen Grillfeste“.) Ehrenmorde und Zwangsheiraten sind seit der Ermordung von Hatun Sürücü Bestsellermaterial auf deutschen Büchertischen. Türkische Autorinnen wie Necla Kelek und Seyran Ates sind bei uns keine Aussenseiter, sondern mit vielen Preisen geehrte öffentliche Intellektuelle, mit denen die Regierung gerne ihre Islamkonferenz schmückt. Dort müssen sich konservative Muslime die Kritik anhören, in Anwesenheit des Ministers. Nirgendwo sonst in Europa – ja nirgendwo sonst in der Welt gibt es ein ähnlich ambitioniertes, geradezu kulturrevolutionäres Experiment. Holland hat Ayaan Hirsi Ali fallen und ins Exil gehen lassen. Unsere islamischen Feministinnen aber sind keine Ruferinnen vom Rand der Gesellschaft, sie sitzen mit dem Innenminister und den Verbänden, die sie kritisieren, an einem Tisch und ringen um Lösungen. Seyran Ates fordert in ihrem neuen Buch eine „sexuelle Revolution“ im Islam. Es gibt kaum ein Land auf der Welt, in dem sie dies so frei und unbehelligt tun kann wie hierzulande.
Das ist ein Grund zum Stolz auf Deutschland. Bisher jedenfalls:  Seyran Ates wird nun wegen ihres neuen Buchs bedroht. Und zwar so sehr, dass sie Inteview und Auftritte scheut und auch einen geplanten Text für die ZEIT absagte. Die Politik muss sich vor diese mutige Frau stellen, die furchtlos die Debatte voranbringt.
Nach Jahren des Streits über Moscheebauten, Deutschpflicht, Kopftücher,  Gewalt und Machismo an den Schulen gibt es in Deutschland praktisch kein Tabu mehr beim Reden über die Integration. Und das ist ein hohes Gut. Es ist daher ziemlich dreist, wenn nun ein Mann in der Pose des Tabubrechers auftritt, der sieben lange Jahre im wichtigsten Ressort einer rot-roten Landesregierung tätig war, die beinahe nichts gegen Verwahrlosung und Desintegration der Hauptstadt getan hat. Sieben Jahre hatte Thilo Sarrazin Zeit mit all der Macht des Kassenwartes darauf zu drängen, dass Berlin Avantgarde im Integrationsland Deutschland wird. Integrationspolitiker seiner eigenen Partei, wie etwa der Neuköllner Bürgermeister Buschkowsky, konnten auf einen Sarrazin all die Jahre nicht zählen. Das macht es geradezu bizarr, wenn Sarrazin nun wegen seiner Zivilcourage gelobt wird und ein Kollege in der FAZ ihn gar auf eine Stufe mit dem in der Münchener S-Bahn erschlagenen Dominik Brunner stellt. Es ist an der Zeit, diese überschnappende Debatte auf den Boden der Realität zurückzuholen.
Allerdings kann die neue Regierung etwas aus ihr lernen: Die begonnene Integrationspolitik muss nicht nur viel entschiedener fortgeführt werden. Sie muss auch wesentlich besser begründet und öffentlich erklärt werden. Es kann nicht sein, dass von den federführenden Integrationspolitikern der Koalition wochenlang nichts zu hören ist: Kein einziges Wort hat die Integrationsbeauftragte Maria Böhmer zu der laufenden Debatte verloren. Innenminister Schäuble befand sich ebenso auf Tauchstation, von der Kanzlerin oder dem Bundespräsidenten gar nicht erst zu reden. Wer die empörten Leserdebatten verfolgt, sieht wie fahrlässig dieses abwartende Schweigen der Politik ist.
Leider ist es nicht das erste Mal. Als in Dresden die Ägypterin Marwa El Sherbiny erstochen wurde, hat man es Islamisten und Rechtsradikalen wochenlang überlassen, das Thema zu besetzen. Weder zu dem Beinahe-Mord an Hubert N. in der Münchener U-Bahn, noch zum Mord an Dominik Brunner konnte die Politik deutlich machen, dass ihr ein angstfreier öffentlicher Raum ein hohes Gut ist.
Darauf aber sind – besonders in einem Einwanderungsland mit vielen neuen Konflikten – alle angewiesen. Darum muss die Politik in der Debatte führen, statt sich unter den eruptiven Reaktionen des Publikums wegzuducken.