Wie um alles in der Welt sind wir denn bloß hierhin gekommen? Ein deutsches Landgericht urteilt, dass das Recht des Kindes auf Unversehrtheit über dem Recht der Eltern steht, aus religiösen Gründen die Beschneidung eines Sohnes vornehmen zu lassen – und innerhalb von Wochen ist von einer der „vielleicht schwersten Attacken auf jüdisches Leben in Europa in der Post-Holocaust-Welt“ die Rede – so der Vorsitzende der Europäischen Rabbinerkonferenz Pinchas Goldschmidt.
Dabei war der Fall eines muslimischen Jungen der Anlass für die Rechtssprechung gewesen. Ein Kölner Arzt hatte im November 2010 den vierjährigen Sohn eines aus dem Irak stammenden Paares beschnitten. Es war, wie Yassin Musharbash in der ZEIT dargelegt hat, zu (durchaus üblichen) Nachblutungen gekommen. Die Mutter war dadurch in Panik geraten, hatte in verwirrtem Zustand um Hilfe gerufen und war mit ihrem Sohn in die Notaufnahme gekommen, wo die kaum des deutschen mächtige Frau Angaben machte (oder so verstanden wurde), dass ihr Sohn „in einer Wohnung mit der Schere“ beschnitten worden sei. Es kam zur Anklage gegen den Arzt, die in erster Instanz niedergeschlagen wurde, in zweiter Instanz aber kam es dann zu dem Urteil mit den folgenschweren Sätzen über den Vorrang der Unversehrtheit.
Beschneidung als Körperverletzung: Aus einem Urteil in Sachen eines vierjährigen Muslims ist nun eine „Attacke auf das jüdische Leben“ geworden. Juden und Muslime erklären vereint, sie sähen ihre Religionsfreiheit gefährdet und gar die Zukunft jüdischen beziehungsweise muslimischen Lebens auf Messers Schneide, wenn dieser unpassende Wortwitz hier erlaubt sei. Aus einer Verkettung von Missverständnissen ist ein Kulturkampf geworden.
Ich glaube nicht, dass das Kölner Urteil Auswirkungen auf eine Jahrtausende alte Praxis haben wird, die konstitutiv für die beiden Religionsgemeinschaften ist. Allein die Anmaßung der treibenden Oberstaatsanwältin und des Landgerichts ist freilich atemberaubend. Das heißt eben nicht, dass es unter den Betroffenen keine Diskussion um diese Praxis gibt. Necla Kelek hat in ihrem Buch über türkische Männer eine extrem scharfe Kritik der Beschneidungsrituale in der Türkei formuliert. Ich teile nicht ihre Folgerungen, aber ihr Impuls, eine Debatte über Männlichkeitsriten anzuregen, ist berechtigt. Junge Juden, die nicht fest in der Orthodoxie verhaftet sind, machen es sich oft auch nicht leicht, wenn sie Eltern werden. Allerdings entscheiden sich die meisten doch für die Beschneidung als Zeichen für den Bund, als Zeichen dafür, dass die jüdische Geschichte weitergeht.
Es gibt übrigens eine eigene Tradition von jüdischen Beschneidungswitzen. Einen besonders drastischen von Oliver Polak habe ich schon einmal in der ZEIT zitiert: „Warum sind jüdische Männer beschnitten? Weil eine jüdische Frau nichts anfasst, was nicht mindestens um 20 Prozent reduziert ist.“ Berühmt ist auch folgende Episode aus der Comedy-Serie „Seinfeld„, in der die Bedenken gegen die Beschneidung auf geniale Weise thematisiert werden. (Allerdings wird auch hier das Kind dann eben doch beschnitten.)
Aber eine interne Debatte um das Für und Wider ist das eine. Und eine über Gerichte und Meinungsumfragen geführte Debatte der Mehrheit über die vermeintlich rückständig-barbarische Minderheit ist etwas anderes. In der deutschen Debatte, die durch das Kölner Urteil aufgekommen ist, irritiert der bierernste Ton der Belehrung und der herablassenden Umerziehung der „archaischen Religionen“, die einfach nicht bereit sind, ihre blutigen Rituale weiter symbolisch zu sublimieren. (Manchmal glaube ich einen Nachhall von dem protestantischen Zetern über die unbelehrbaren Katholen zu hören, die an die Wandlung von Wein zu Blut und Brot zu Fleisch glauben.)
Der aufgeklärte Vorbehalt gegen die Juden – und daraus abgeleitet auch gegen die in ihrer Ritualverhaftetheit verwandten Muslime – ist plötzlich wieder da. Wie anders ist zu erklären, dass breite Mehrheiten hierzulande das Kölner Urteil für richtig halten? Unser Recht soll also jüdische und muslimische Jungen vor einer barbarischen Praxis schützen, der sie ihre „verstockten“ Eltern unterwerfen? Wir kriminalisieren einen religiösen Ritus, der konstitutiv für die Zugehörigkeit zu den beiden abrahamitischen Bruderreligionen ist?
Abenteuerlich, und undenkbar in Gesellschaften, die nicht wie unsere derart vom Gespenst der religiös-kulturellen Homogenität heimgesucht werden. Undenkbar in den USA oder Kanada – Ländern, in denen es weit verbreitet war oder ist, Jungen auch ohne religiöse Gründe zu beschneiden. Dort wird diese Praxis zwar inzwischen in Frage gestellt, doch niemand käme auf die Idee, religiös begründete Beschneidungen zu kriminalisieren.
Es ist eine beängstigende Verspießerung unseres öffntlichen Lebens festzustellen, eine Verspießerung im Zeichen selbstgefälliger Pseudoaufgeklärtheit, die religiöses Anderssein unter der Flagge des Kinderschutzes und der Menschenrechte (im Fall Schächten/Halal: Tierschutz) zu erdrücken droht.
Die Rabbiner hätten nicht gleich das H-Wort bemühen müssen, aber im Kern haben sie recht: Wenn sich diese Rechtsauffassung durchsetzt, ist jüdisches (und muslimisches) Leben in Deutschland bedroht. Schon jetzt ist Schaden entstanden: 70 Jahre nach der Schoah wird in Deutschland traditionelles jüdisches (und muslimisches) Leben kriminalisiert, und der Bürger nickt wohlgefällig mit dem Kopf dazu. Als wäre es nicht Aufgabe des Rechts, die Minderheit vor dem Absolutismus der Mehrheit zu schützen.