Vor 50 Jahren wurde mitten in Berlin ein Grenzwall errichtet, der fast 30 Jahre lang die heutige Hauptstadt teilte. Silke Stuck ist dort aufgewachsen, im Westen.
Von Silke Stuck
Es waren vielleicht fünfhundert Schritte: Aus dem Haus, bis vor zur Ecke, dann rechts, geradeaus über zwei Straßen – und dort ging es nicht mehr weiter. Denn da war sie, die Berliner Mauer. Sie verlief mitten durch das kleine Wäldchen am Stadtrand, durch das ich so gern mit meinem Großvater spazierte. Wie hoch mag sie gewesen sein? Zwei Meter vielleicht? Jedenfalls nicht unbezwingbar in meiner Erinnerung.
Von hier, dem südwestlichen Zipfel Berlins, verlief sie einmal mitten durch die Stadt und um den gesamten Westteil der heutigen Hauptstadt.
Am 13. August 1961, vor 50 Jahren, begann der Bau dieser Mauer. Auf der anderen Seite lag die Deutsche Demokratische Republik (DDR), zu der auch der östliche Teil Berlins gehörte. Dieses »zweite Deutschland« war 1949, nach dem Krieg, gegründet worden. Als ich geboren wurde, stand die Berliner Mauer seit zwölf Jahren. Als sie 1989 fiel und das geteilte Deutschland wieder zusammenwuchs, war ich gerade sechzehn.
Was ich als Kind sehr früh verstand: Wir lebten auf der »richtigen« Seite der Mauer. Dahinter aber lag das Unverständliche: ein Land, das seine Bürger regelrecht einsperrte. Die Menschen durften nur in bestimmte Länder reisen und nicht offen ihre Meinung sagen. Es gab nur eine Partei, und die bestimmte alles: wer ein Auto oder ein Telefon bekam und welchen Beruf man lernte.
Wenn ich auf einen der hölzernen Aussichtstürme im kleinen Wäldchen kletterte und über die Mauer schaute, war da: nichts. Jedenfalls nicht viel zu sehen. Ein grauer Streifen Ödnis, auf dem Grenzsoldaten in graubraungrünen Uniformen hin und her liefen. Andere Menschen sah ich dort nie.
Die DDR-Bürger durften sich der Mauer auf ihrer Seite nicht nähern. Wer es doch tat, konnte erschossen werden. Manchmal sprachen meine Eltern am Frühstückstisch darüber, dass wieder jemand versucht hatte, in unserer Nähe über die Grenze zu gelangen – und dabei umgekommen war. Ich biss in mein Marmeladenbrot und gruselte mich. Was in dieser DDR vor sich ging, war nicht nur schwer zu verstehen, es war manchmal unbegreiflich.
Mir wurde wohl erst nach dem Fall der Mauer bewusst, was die Teilung des Landes, diese Mauer mitten in der Stadt, für eine schreckliche Sache war. Jahrelang hatte ich direkt neben ihr gelebt, und doch spielte sie im Alltag kaum eine Rolle für mich. Sie war wie der Zaun eines Nachbargrundstücks, über den man auch nicht klettern durfte. So einfach machten wir Kinder uns die Welt.
Wir nahmen die Mauer hin. Wir kannten es ja auch nicht anders. Die Teilung der Stadt, unserer Stadt, behandelten wir in der Grundschule. Hin und wieder kamen neue Kinder in unsere Klasse, die es geschafft hatten, mit ihren Familien aus der DDR auszureisen. Viel gefragt habe ich sie nicht, aber wir hatten gehört, dass es alles andere als einfach war, der DDR zu entkommen. Dass man auf eine Ausreise-Erlaubnis ewig warten und dann alles zurücklassen musste. Viel erzählt haben die neuen Kinder in der Klasse von ihrem alten Leben auch nicht. Als sei es hinter dieser grauen Betonmauer geblieben – eingesperrt wie sie zuvor.
Die Mauer hat sogar meine eigene Familie in zwei Teile gerissen. Mein Vater und sein Bruder wurden getrennt, nachdem ihre Eltern kurz nacheinander gestorben waren. Mein Vater zog zu seiner Oma nach Berlin-Kreuzberg, im Westen. Mein Onkel kam zu den anderen Großeltern, in den Osten, nach Brandenburg an der Havel.
Als mein Vater und mein Onkel Jugendliche waren, wurde die Mauer gebaut, und sie konnten sich nicht mehr so einfach besuchen. Wir aus dem Westen fuhren ab und zu mal rüber. Manchmal kamen meine Schwester oder ich mit. Aber die Verwandtschaft blieb mir fremd, ist es bis heute. Was uns jahrelang getrennt hat, können wir nicht wegwischen. Als sei eine kleine, eine unsichtbare Mauer zwischen uns geblieben.
Wir lebten nur eine Autostunde voneinander entfernt und doch wie in zwei unterschiedlichen Welten. Ich fühlte mich komisch im Osten: Die Wurst schmeckte anders, die Cola auch. Mein Cousin und meine Cousine freuten sich immer, wenn wir ihnen eine Jeans mitbrachten, meine Tante über Kaffee oder ein Radio. Denn das waren Dinge, die sie in der DDR nicht so einfach kaufen konnten. Aber die Fragen meiner Verwandten zu meinem Leben im Westen fühlten sich eigenartig an: Einerseits kam ich mir cool vor, weil meine eigene Welt in ihren Augen schillerte, andererseits schämte ich mich, damit anzugeben.
Diese DDR war mir unheimlich, und sie machte unser Leben kompliziert. Wenn meine Eltern, meine Schwester und ich in den Ferien verreisten, warteten wir ewig an der Grenze. Wir mussten aus West-Berlin ja durch die DDR, um woanders hinzugelangen. Einmal, am späten Abend, verfuhren wir uns im Osten. Wir waren von der vorgegebenen Strecke abgekommen, was streng verboten war. Immer wieder versuchten DDR-Bürger zu fliehen, und Menschen aus dem Westen halfen manchmal. Man hätte uns für Fluchthelfer halten können. Ich spürte damals, wie angespannt meine Eltern vorn im Auto waren, obwohl wir doch nichts Unrechtes taten. Dieser Staat, der seine Bürger unterdrückte, machte ihnen Angst – und dadurch auch mir.
Doch ich fragte selten. Das kam erst später, als es keine Mauer und auch die DDR nicht mehr gab. Ich studierte an einer Universität in Ostberlin und fand dort Freunde, die in der DDR groß geworden waren. Ihnen stellte ich Fragen – sicher viel zu wenige, sicherlich auch viele dumme.
Wenn ich heute meinen Kindern erzähle, dass es einmal zwei Deutschlands gab, dann ist es für sie eine schwer verständliche Geschichte aus einer anderen Zeit. Sie können sich wohl nicht vorstellen, wie man ein Land in zwei Teile reißt, Familien voneinander trennt und mitten durch eine Stadt eine Mauer zieht. Diese Zeit ist vorbei, zum Glück. Und doch bin ich froh, dass ich etwas von dieser Geschichte so nah miterlebt habe – vor meiner Haustür und in der eigenen Familie.