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Facebook, Twitter und Co: Welche Rolle spielen die Sozialen Medien in Wahlkämpfen?

AndreaWenn der Wahlkampf ein Markt ist, ist Aufmerksamkeit seine Währung. Denn die erste Hürde, die jede politische Botschaft überspringen muss, ist keine inhaltliche (z.B., „Ist der Vorschlag gut?“), sondern eine kommunikative: „Wird der Vorschlag gehört?“. Dieses altbekannte Prinzip politischer Kampagnenarbeit hat durch die Sozialen Medien eine beachtliche Ausdehnung erfahren: Ging es vormals primär darum, dass die Forderungen von klassischen Medien wie Presse, Funk und Fernsehen verbreitet werden, so ist es heute auch mehr denn je möglich, die Botschaften selbst zu senden und aktiv Unterstützung zu generieren.

Soweit die Theorie. Ist es aber auch praktisch relevant, wie viele Facebook-Freunde Stefan Mappus hat oder wie viele Menschen Olaf Scholz auf Twitter folgen? Machen YouTube-Videos tatsächlich einen Unterschied? Diese Fragen stellen sich derzeit viele Politiker und Parteistrategen – und von der Antwort kann einiges abhängen: Gerade bei Landtagswahlen sind die Budgets vieler Kandidaten knapp und so kann die Entscheidung für oder gegen einen professionellen Online-Auftritt einen direkten Einfluss auf die gesamte Wahlkampf-Strategie haben. Denn auch wenn der finanzielle Aufwand für Online-Wahlkämpfe vergleichsweise gering ist, fallen doch Kosten an: Beispielsweise muss das Facebook-Profil eines Kandidaten mit einigem personellem Aufwand gepflegt werden, damit sich der positive Effekt der Online-Präsenz nicht ins Gegenteil verkehrt. Auch Videos, die auf Plattformen wie YouTube eingestellt werden, dürfen zwar vergleichsweise „hemdsärmelig“ daher kommen, bedürfen aber dennoch professioneller Unterstützung.

Die Frage „Brauchen wir das?“, die derzeit in vielen Wahlkampfteams gestellt wird, ist somit berechtigt. Nähern wir uns also einer Antwort an. In der Deutschen Wahlstudie zur Bundestagswahl 2009 finden sich klare Hinweise darauf, wie die Nutzung Sozialer Medien mit dem Interesse am Wahlkampf zusammengeht. Bevor wir diese Ergebnisse genauer betrachten, sollten wir jedoch einen Blick darauf werfen, wie viele Bürger die Sozialen Medien überhaupt nutzen. Eine Erhebung aus dem Januar 2010, also kurz nach der letzten Bundestagswahl, zeigt, dass die in Deutschland größten Sozialen Netzwerke 14,4 (VZ-Gruppe) bzw. 13 Millionen (Facebook) regelmäßige Besucher haben, welche die Seite mindestens einmal pro Monat besuchen. Dazu kommen weitere große Netzwerke wie Wer kennt wen (6,7 Mio), StayFriends (5,6), Twitter (3,9), MySpace (3,8), und Lokalisten (3,4).

Diese Zahlen sind beachtlich – auch wenn man natürlich bedenken muss, dass viele Menschen mehrere Profile haben und zudem ein guter Teil der Nutzer noch nicht wahlberechtigt ist oder der Gruppe der Nichtwähler angehört. Dennoch lässt sich ein starker Trend ablesen, der auch von den Ergebnissen der Deutschen Wahlstudie gestützt wird: Hier gaben einen Monat vor der Bundestagswahl 47 Prozent der Befragten an, mindestens einmal pro Woche eine Soziale-Medien-Seite zu besuchen.

Und sind diese Zahlen nun für den Wahlkampf relevant? Immerhin 15 Prozent der Wahlbevölkerung berichtet, Wahlkampfinformationen über die Sozialen Medien erhalten zu haben. Und vier Prozent sind selbst als „Wahlkämpfer“ in den sozialen Medien aktiv, sie verbreiten etwa Wahlkampfmaterial in ihren jeweiligen Netzwerken. Mit Blick auf die hohen absoluten Nutzerzahlen, sind diese Werte beachtlich.

Wer sind nun aber diese „Online-Wahlkampfhelfer“? Sind es dieselben Personen, die auch Mitglieder der Parteien sind und an den Wochenenden auf Marktplätzen, an U-Bahn-Haltestellen und in Geschäftspassagen stehen? Hier zeigen unsere Daten Erstaunliches: Es sind junge Leute mit einer hohen Parteiidentifikation aber ohne Parteimitgliedschaft, die online in ihren sozialen Netzwerken aktiv sind – also eine völlig andere Unterstützergruppe als jene, die wir beim Straßenwahlkampf sehen.

Dieser Befund sollte Wahlkämpfer aufmerken lassen. Allzu oft war bereits von Politik-, Politiker- oder Parteienverdrossenheit in der Bevölkerung die Rede und gerade auch die letzten Wahlkämpfe haben es offenkundig nicht geschafft, neue Zielgruppen anzusprechen und somit die Zahl der Nichtwähler zu verringern. Im Gegenteil, gerade die jüngste Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, die Hinweise auf die Kampagnen in den Landtagswahlen dieses Jahres geben kann, kam überraschend unspektakulär und altbacken daher. Kreative Kampagnen, die neue Wähler hätten gewinnen können, waren online wie offline Mangelware.

Die Sozialen Meiden sind bestimmt kein Allheilmittel. Es sei daran erinnert, dass auch im bislang wohl modernsten Wahlkampf weltweit, Obamas Kampagnen bei den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2008, trotz aller Online-Elemente eine klare Priorität auf den klassischen Medien lag. Allerdings zeigt die empirische Sozialforschung, dass im Internet ein nicht unerhebliches Wählerpotenzial schlummert, das umso interessanter ist, da es sich von den Gruppen, die über klassische Kampagnentechniken angesprochen wird, deutlich zu unterscheiden scheint. Und je enger ein Wahlausgang prognostiziert wird – etwa im Fall der aktuellen Umfrageergebnisse für Baden-Württemberg hin –, desto wichtiger werden diese Elemente.

Literatur:

Andrea Römmele/Sabine Einwiller: Citizen Leaders and Party Laggards: Social Media in the 2009 German Federal Election. Paper presented at the Annual Meeting of the American Political Science Association, Washington DC, Sept 1-5, 2010.

Mehr Informationen über die Deutsche Wahlstudie unter www.dgfw.info

 

Revolution im Ticker

von Johannes Staemmler

In Zeiten des Aufruhrs wird Geschichte spürbar – durch das Internet sogar für Menschen weltweit. Die Demonstrationen in Tunesien, Ägypten und anderswo machen deutlich, dass sich weder Ursachen noch Abläufe von Regimestürzen substanziell verändert haben, sondern Mittel und Geschwindigkeit der Ereignisse.

Das Internet, Notebooks und Smartphones sind revolutionäre Medien in den Händen der Unzufriedenen. Sie sind erschwinglich und bieten zahlreiche Möglichkeiten (Flickr, Facebook, Blogs, Youtube et al.), grenzüberschreitend miteinander zu kommunizieren ohne sich persönlich zu kennen. Zwar brauchte es einen jungen Mann, der sich in Tunesien aus dem unerträglichen Gefühl der Ungerechtigkeit heraus selbst entflammt, um der Frustration ein Bild und eine Geschichte zu geben. Aber es braucht das Internet, um diese binnen Stunden und Tagen durch den gesamten Mittelmeerraum zu tragen und Demonstrationen ungekannter Größe auszulösen.

Spiegel online analysiert skeptisch die Rolle des Internets in den aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten. Sie verweisen auf den Internet-Vordenker Evgeny Morozov aus Stanford, der, nach fehlgeschlagenen Revolutionsprognosen für den Iran, Twitter & Co nicht mehr als Label für Umsturzversuche verwenden mag. Das Internet ist eben keine Ursache sondern allein ein Mittel – ein Medium – der Veränderung. Albert O. Hirschman hat 1982 in „Shifting Involvement“ nach den Erklärungen für politische Aktivitäten gesucht und im Kern herausgearbeitet, dass es Frust ist, der Menschen antreibt, sich von ihren privaten Alltäglichkeiten dem Politischen zuzuwenden. Aber diese politische Aktivität bringt Kosten für den einzelnen mit sich; er muss Zeit, Nerven und Ideen einbringen und im Fall von Revolutionen ein nicht unerhebliches Maß an Unsicherheit aushalten.

Was macht das Internet besonders? Der New Yorker Professor Clay Shirky macht in dem Buch „Here Comes Everybody“ deutlich, dass das Internet in der Lage ist, das Verhalten von großen Menschenmassen zu beeinflussen, in dem es eine neue Form der Interaktion ermöglicht. Liebe und Alltag lassen sich hier genauso teilen wie politische Frustration. Aufgrund seiner dezentralen Struktur ergibt sich eine Netzwerkdynamik, die, wenn Themen von vielen geteilt und als relevant befunden immer und immer wieder kommuniziert werden, über soziale und nationale Grenzen hinaus strahlt.

Im Gegensatz zum Fernsehen kommunizieren die Internetnutzer aktiv und nehmen dadurch Teil. Sie treffen Entscheidungen, die weiter reichen als die Wahl des Fernsehprogramms. Dann ist es nur noch einer kleiner Schritt zur Mobilisierung, deren organisatorische Kosten im wirtschaftlichen Sinne mit dem Internet marginalisiert werden. Massenbewegung braucht mit dem Internet einen viel geringeren Grad an Organisation und Führung und kann deswegen in einem Bruchteil der Zeit entstehen, die frühere Bewegungen benötigten. Aber eben auch wieder vergehen.

Das Internet wird kaum helfen können, den politischen Prozess der Demokratiewerdung zu beeinflussen. Übergangsregierungen und Verfassungen müssen nach wie vor von Eliten ausgehandelt werden, zu denen auch jetzt wieder das Militär gehören wird. Aber das Signal der kollektiven Frustration ist von den Bevölkerungen in mehreren Ländern fast gleichzeitig ausgestrahlt worden. Die vielen Internetnutzer haben es noch mehr als die Nachrichtensender weitergetragen, die das Monopol der Berichterstattung eingebüßt haben. Erst mit einer Verzögerung von mehreren Tagen reagieren die Medienanstalten mit adäquaten und umfassenden Berichten und die Regierungen mit leisen Stellungnahmen. Aber auch der verzweifelte Versuch des ägyptischen Regimes, Journalisten gewaltsam mundtot zu machen, wird die Ereignisse nicht aufhalten. Jeder Bürger hat das Potential zum Berichterstatter.

Historiker müssen bewerten, ob sich dieser Tage eine Revolution in den einzelnen Ländern vollzieht. Wir beobachten aber erstens politischen Protest, der innerhalb der bestehenden politischen Ordnungen nicht eingehegt werden kann. Die Regime reagieren zweitens entweder mit sofortigem Rückzug oder mit Gewalt, wozu auch das Abschalten der Internetverbindungen zählt. Und drittens formieren sich Oppositionsbewegungen, die um Ideen für eine post-autokratische Zeit ringen und diese formulieren. Die Parallelen zu den Freiheitsbewegungen in Osteuropa 1989 sind jedenfalls sehr deutlich.

Die neuen Medien sind die Geburtshelfer für Protest und Revolution am Beginn des 21. Jahrhunderts. Der Erfolg von Regimewechseln wird nicht von ihnen abhängen, aber sie sind schon jetzt ein Teil der Angst amtierender Autokraten vor dem Verlust der Macht geworden.

Quellen:

Hirschman, Albert O. (1982) Shifting Involvement. Private Interest and Public Action. Princton University Press

Shirky, Clay (2009) Here Comes Everbody. Penguin Books.

Der Autor:

Johannes Staemmler, MPP, promoviert im Rahmen eines Fellowships der Hertie School of Governance und IFOK zum Thema „Zivilgesellschaft in strukturschwachen Regionen“. Er studierte Internationale Beziehungen an der Technischen Universität Dresden und Public Policy an der Hertie School of Governance. Seine Schwerpunkte sind bürgerschaftliches Engagement, politische Theorie, Regionalentwicklung sowie politische Kommunikation.

 

Auf der Jagd nach den 50.000 Klicks: E-Petitionen in Deutschland

von Andreas Jungherr, Pascal Jürgens und Harald Schoen

Geht man nach den Nutzerzahlen, so gehört das E-Petitionssystem des Deutschen Bundestages zu den erfolgreichsten Beispielen für demokratische Partizipation über das Internet. Tatsächlich bündeln jedoch nur sehr wenige E-Petitionen mehr als die Hälfte aller Unterschriften. Die öffentliche Unterstützung konzentriert sich also auf einem verschwindend kleinen Bruchteil aller öffentlichen E-Petitionen. Das E-Petitionssystem scheint allerdings nicht dem “Winner takes all”-Prinzip zu folgen. Auch wenn nur ein kleiner Bruchteil der E-Petitionen einen Großteil der Unterstützung auf sich konzentriert, profitieren auch kleinere, weniger erfolgreiche E-Petitionen von der Aufmerksamkeit, die erfolgreiche E-Petitionen erregen. Es scheint, als ob Aufmerksamkeit und Unterschriften von erfolgreichen auf weniger erfolgreiche E-Petitionen gleichsam überspringen.

Auf einer vom Bundestag bereitgestellten Internetplattform können interessierte Bürger online Petitionen an den Bundestag richten. Falls die Urheberin einer Petition dies wünscht, kann sie die Petition als „öffentlich“ kennzeichnen. Dies ermöglicht es dann anderen Nutzern des E-Petitionssystems, diese Petition auf der Internetplattform mitzuzeichnen. Gelingt es einer E-Petition, in den ersten drei Wochen nach ihrer Veröffentlichung auf der Petitionsplattform mehr als 50.000 Unterschriften zu sammeln, so wird die Petition in einer öffentlichen Sitzung des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Beisein der Urheberin der E-Petition diskutiert. 50.000 Unterschriften sind damit die entscheidende Hürde, die überwunden werden muss, ehe einer E-Petition und ihrer Urheberin Öffentlichkeitswirksamkeit garantiert ist (siehe zum deutschen E-Petitionswesen z.B. Riehm et al. 2009).

Wir untersuchten E-Petitionen seit der Einführung der derzeitigen E-Petitionsplattform am 14. Oktober 2008 bis zum 19. Januar 2010. In dieser Zeit fanden sich auf der Plattform 886 E-Petitionen mit mindestens einer Unterstützerunterschrift. 495.611 Nutzer hatten sich der Plattform bedient, um eine oder mehrere E-Petitionen einzureichen oder zu unterstützen. Insgesamt waren über eine Million Unterschriften zugunsten der 886 öffentlichen E-Petitionen geleistet worden. Dies sind beeindruckende Zahlen, vor allem wenn man die übliche Gelassenheit der deutschen Internetnutzer gegenüber Partizipationsangeboten im Netz bedenkt (man denke nur an das dröhnende Schweigen des „18. Sachverständigen“, also der Bürger, in der Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft).

Mit den Methoden der „Computational Social Science“ (Lazer et al. 2009) haben wir das E-Petitionsverhalten genauer untersucht. Das folgende Schaubild zeigt die Summe aller Unterschriften im Laufe des Untersuchungszeitraums. Schwarz markiert sind alle Unterschriften die für E-Petitionen eingingen, denen es nicht gelang, über 10.000 Unterschriften zu sammeln. Die farblich abgesetzten Flächen zeigen die Unterschriften für E-Petitionen, die mehr als 10.000 Unterschriften auf sich vereinigen konnten. Von den 886 öffentlichen E-Petitionen im Untersuchungszeitraum gilt das nur für vierzehn E-Petitionen. Nur 1,5% der öffentlichen E-Petitionen bündeln also gut die Hälfte aller auf der E-Petitionsplattform eingegangenen Unterschriften.

[Für eine größere Version bitte das Schaubild anklicken]

Welche sind nun diese außerordentlichen E-Petitionen? Im Schaubild zeigen sich die E-Petitionen mit über 10.000 Unterschriften als plötzlich ansteigende und wieder abfallende Farbflächen. So sehen wir im Frühjahr 2009 die in der Öffentlichkeit stark diskutierte E-Petition für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Im Sommer 2009 finden sich dann gleich mehrere dieser populären E-Petitionen. Allen voran die E-Petition „Keine Indizierung und Sperrung von Internetseiten“ die im Sommer 2009 Teil der #zensursula-Kampagne gegen das umstrittene Netzsperrengesetz der damaligen Bundesregierung wurde.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, für das E-Petitionswesen gelte die Devise „Die Reichen werden reicher“ oder gar das Prinzip „The winner takes all“. Bei näherem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass eine andere Dynamik am Werk ist. Betrachtet man die Entwicklung der schwarzen Fläche im Schaubild, so sieht man, dass die E-Petitionen unter 10.000 Unterschriften zu Beginn des Untersuchungszeitraums täglich einige hundert Unterschriften erhalten. Dieses Muster wird gebrochen, sobald die außergewöhnlich erfolgreiche E-Petition für das bedingungslose Grundeinkommen auftritt. Während des Zeichnungszeitraums dieser E-Petition steigt auch die Summe der Unterschriften für kleinere E-Petitionen deutlich an. Der Erfolg einer E-Petition springt also, mit abgeschwächter Wirkung, auf andere in diesem Zeitraum unterzeichenbare E-Petitionen über. Dieses Muster findet sich im weiteren Verlauf des Untersuchungsraumes immer wieder und deutet auf eine Regelmäßigkeit hin. In Zahlen ausgedrückt, scheint eine E-Petition, die mehr als 10.000 Unterschriften erhält, weniger erfolgreichen E-Petitionen zusätzliche Unterschriften einzubringen. Aufmerksamkeit und Unterschriften scheinen also von erfolgreichen auf weniger erfolgreiche Petitionen überzuspringen. Oder, in anderen Worten: Politische Partizipation erzeugt politische Partizipation.

Literatur:

Jungherr, A., und P. Jürgens (2010) ”The political click: political participation through e-petitions in Germany,” Policy & Internet 2(4), 131-165.

Lazer, D., et al. 2009. “Computational Social Science.” Science 323 (5915): 721–723.

Riehm, U., C. Coenen, R. Lindner, und C. Blümel. 2009. Bürgerbeteiligung durch E-Petitionen: Analysen von Kontinuität und Wandel im Petitionswesen. Volume 29 of Studien des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag. Berlin: Edition Sigma.

Die Autoren:

Andreas Jungherr arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Soziologie an der Universität Bamberg. Dort promoviert er zur Dynamik politischer Twitternutzung. Er twittert unter dem Namen @ajungherr.

Pascal Jürgens ist Kommunikationswissenschaftler und promoviert demnächst im Bereich der Online-Kommunikation. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in empirischen Methoden, insbesondere bei Sozialen Netzwerken und Modellierung.

Harald Schoen ist Politikwissenschaftler und Professor für Politische Soziologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Zu seinen Forschungsgebieten gehören Wahlverhalten, Wahlkämpfe und ihre Wirkungen, Einstellungen zu außen- und sicherheitspolitischen Themen sowie Fragen der politischen Psychologie und der Politischen Kommunikation.

 

Twitterprognosen, oder: Warum die Piratenpartei beinahe die Wahl 2009 gewonnen hätte

von Andreas Jungherr, Pascal Jürgens und Harald Schoen

Die zunehmende Nutzung internetgestützter Dienste wie zum Beispiel Google, Facebook oder Twitter hat für Sozialwissenschaftler den erfreulichen Nebeneffekt, dass sie auf immer größer werdende Datensätze zugreifen können, die menschliches Verhalten dokumentieren. So wurde zum Beispiel erfolgreich gezeigt, dass die Häufigkeit von Google-Suchanfragen Rückschlüsse auf die Entwicklung von Verbraucherzahlen oder Grippeepidemien zulässt. Mit Hilfe von Daten des Microblogging-Dienstes Twitter wurde versucht, den Kassenerfolg von Kinofilmen vorherzusagen oder die Struktur von Fernsehereignissen aufzuzeigen. Verschiedene Studien zeigen das Potential dieser neuen, durch Internetnutzung entstandenen Datensätze. Die Art und Größe dieser Datensätze birgt neben der Chance eines tatsächlichen Erkenntnisgewinns über gesellschaftliche Entwicklungen außerhalb des Internets für Forscher jedoch auch die Gefahr, zufällige Muster in den Daten als bedeutungsvolle Ergebnisse zu interpretieren.

Wie schnell man solchen Fehlschlüssen aufsitzen kann, zeigt der Aufsatz „Predicting Elections with Twitter: What 140 Characters Reveal about Political Sentiment“ von Andranik Tumasjan, Timm O. Sprenger, Philipp G. Sandner und Isabell M. Welpe. In ihrem Text versuchen die Autoren, das Ergebnis der Bundestagswahl 2009 mit Hilfe von Twitter-Nachrichten zu prognostizieren, die vor der Wahl gesendet wurden. Für die sechs im Bundestag vertretenen Parteien gelingt das so gut, dass die Autoren folgern, “the mere number of tweets mentioning a political party can be considered a plausible reflection of the vote share and its predictive power even comes close to traditional election polls”. Ein faszinierendes Ergebnis: Das einfache Zählen von Twitternachrichten führt zu sehr ähnlichen Resultaten wie kostspielige Erhebungen von Meinungsforschungsinstituten, die so gerne als Prognosen gelesen werden.

Die anfängliche Freude über dieses Ergebnis verfliegt allerdings schnell, betrachtet man sich die Analyse genauer. Eine einfache Replikation der Studie von Tumasjan und Kollegen ergibt Ergebnisse, die der Originalstudie sehr ähneln (Tabelle 1). In der Replikation der Studie stellten wir fest, dass für die Bundestagsparteien der mit Hilfe von Twitternennungen prognostizierte Stimmenanteil im Durchschnitt nur um 1,51 Punkte vom tatsächlichen Stimmenanteil ab. So weit, so gut.

Tabelle 1: Anteile der Bundestagsparteien an den Stimmen und Twitternennungen

a In Anlehnung an Tumasjan et al. wurden nur die auf die betrachteten Parteien entfallenen Stimmen berücksichtigt.

In ihrer Untersuchung entschieden sich Tumasjan und Kollegen dafür, nur die Nennungen von Parteien zu zählen, die auch tatsächlich im Bundestag vertreten waren. Diese Entscheidung ist etwas überraschend, da die Autoren so eine politische Prognose auf der Basis von Onlinekommunikation erstellen, aber diejenige Partei nicht berücksichtigen, die von allen Parteien die meisten Unterstützer im Internet sammeln konnte. Um zu überprüfen, wie robust die Ergebnisse von Tumasjan und Kollegen tatsächlich sind, beschlossen wir, die Piratenpartei in unsere Replikation der Originalstudie einzubeziehen. Abbildung 1 zeigt das Ergebnis.

Abbildung 1: Anteile der Bundestagsparteien und der Piratenpartei an den Stimmen und Twitternennungen

 

*In Anlehnung an Tumasjan et al. wurden nur die auf die betrachteten Parteien entfallenen Stimmen berücksichtigt.

Die Twitterprognose identifiziert hier eindeutig die Piratenpartei als stärkste Kraft. Wäre diese Prognose korrekt, so hätte die Piratenpartei am Wahltag 35 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten und damit mit hoher Wahrscheinlichkeit den Kanzler gestellt. Dieses Szenario hat offensichtlich wenig mit den tatsächlichen Wahlergebnissen zu tun, da die Piratenpartei am Wahltag etwa 2 Prozent der abgegeben Stimmen erzielen konnte und damit nicht in den Bundestag einziehen konnte. Es scheint, als würde zumindest dieses Instrument versagen, sobald man internetgestützte politische Bewegungen in die Analyse einbezieht.

Nun könnte man die Twitterprognose mit dem Argument zu retten versuchen, es sei zu ambitioniert, ausgerechnet die Piratenpartei in die Analyse einzubeziehen, von der ja vor der Wahl 2009 jeder gewusst habe, dass sie nicht in den Bundestag einziehen würde. Auf den ersten Blick erscheint dieser Einwand überzeugend, nicht jedoch auf den zweiten. Denn eine Methode, die Informationen darüber voraussetzt, welche Parteien in den Bundestag einziehen werden, dürfte schwerlich als eigenständiges Prognoseinstrument akzeptiert werden.

Dieses Beispiel zeigt, wie leicht es ist, sich von Mustern in Datenspuren menschlichen Online-Verhaltens irreführen zu lassen. Gerade die Reichhaltigkeit dieser Daten und ihre komplexen Zusammenhänge legen es nahe, Muster zu erkennen. Schwierig wird es allerdings, wenn diese Muster auf ihren Realitätsbezug überprüft werden sollen. Gerade hier entscheidet sich jedoch, ob die Ergebnisse einer solchen Untersuchung tatsächlich gesellschaftliche Entwicklungen außerhalb des Internets abbilden oder nur statistische Artefakte sind.

Literatur:

Tumasjan, Andranik, Timm O. Sprenger, Philipp G. Sander and Isabell M. Welpe. (2010). “Predicting Elections with Twitter: What 140 Characters Reveal about Political Sentiment,” Proceedings of the Fourth International AAAI Conference on Weblogs and Social Media. Menlo Park, California: The AAAI Press. 178-185.

Die Autoren:

Andreas Jungherr arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Soziologie an der Universität Bamberg. Dort promoviert er zur Dynamik politischer Twitternutzung. Er twittert unter dem Namen @ajungherr.

Pascal Jürgens ist Kommunikationswissenschaftler und promoviert demnächst im Bereich der Online-Kommunikation. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in empirischen Methoden, insbesondere bei Sozialen Netzwerken und Modellierung.

Harald Schoen ist Politikwissenschaftler und Professor für Politische Soziologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Zu seinen Forschungsgebieten gehören Wahlverhalten, Wahlkämpfe und ihre Wirkungen, Einstellungen zu außen- und sicherheitspolitischen Themen sowie Fragen der politischen Psychologie.