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Revolution im Ticker

von Johannes Staemmler

In Zeiten des Aufruhrs wird Geschichte spürbar – durch das Internet sogar für Menschen weltweit. Die Demonstrationen in Tunesien, Ägypten und anderswo machen deutlich, dass sich weder Ursachen noch Abläufe von Regimestürzen substanziell verändert haben, sondern Mittel und Geschwindigkeit der Ereignisse.

Das Internet, Notebooks und Smartphones sind revolutionäre Medien in den Händen der Unzufriedenen. Sie sind erschwinglich und bieten zahlreiche Möglichkeiten (Flickr, Facebook, Blogs, Youtube et al.), grenzüberschreitend miteinander zu kommunizieren ohne sich persönlich zu kennen. Zwar brauchte es einen jungen Mann, der sich in Tunesien aus dem unerträglichen Gefühl der Ungerechtigkeit heraus selbst entflammt, um der Frustration ein Bild und eine Geschichte zu geben. Aber es braucht das Internet, um diese binnen Stunden und Tagen durch den gesamten Mittelmeerraum zu tragen und Demonstrationen ungekannter Größe auszulösen.

Spiegel online analysiert skeptisch die Rolle des Internets in den aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten. Sie verweisen auf den Internet-Vordenker Evgeny Morozov aus Stanford, der, nach fehlgeschlagenen Revolutionsprognosen für den Iran, Twitter & Co nicht mehr als Label für Umsturzversuche verwenden mag. Das Internet ist eben keine Ursache sondern allein ein Mittel – ein Medium – der Veränderung. Albert O. Hirschman hat 1982 in „Shifting Involvement“ nach den Erklärungen für politische Aktivitäten gesucht und im Kern herausgearbeitet, dass es Frust ist, der Menschen antreibt, sich von ihren privaten Alltäglichkeiten dem Politischen zuzuwenden. Aber diese politische Aktivität bringt Kosten für den einzelnen mit sich; er muss Zeit, Nerven und Ideen einbringen und im Fall von Revolutionen ein nicht unerhebliches Maß an Unsicherheit aushalten.

Was macht das Internet besonders? Der New Yorker Professor Clay Shirky macht in dem Buch „Here Comes Everybody“ deutlich, dass das Internet in der Lage ist, das Verhalten von großen Menschenmassen zu beeinflussen, in dem es eine neue Form der Interaktion ermöglicht. Liebe und Alltag lassen sich hier genauso teilen wie politische Frustration. Aufgrund seiner dezentralen Struktur ergibt sich eine Netzwerkdynamik, die, wenn Themen von vielen geteilt und als relevant befunden immer und immer wieder kommuniziert werden, über soziale und nationale Grenzen hinaus strahlt.

Im Gegensatz zum Fernsehen kommunizieren die Internetnutzer aktiv und nehmen dadurch Teil. Sie treffen Entscheidungen, die weiter reichen als die Wahl des Fernsehprogramms. Dann ist es nur noch einer kleiner Schritt zur Mobilisierung, deren organisatorische Kosten im wirtschaftlichen Sinne mit dem Internet marginalisiert werden. Massenbewegung braucht mit dem Internet einen viel geringeren Grad an Organisation und Führung und kann deswegen in einem Bruchteil der Zeit entstehen, die frühere Bewegungen benötigten. Aber eben auch wieder vergehen.

Das Internet wird kaum helfen können, den politischen Prozess der Demokratiewerdung zu beeinflussen. Übergangsregierungen und Verfassungen müssen nach wie vor von Eliten ausgehandelt werden, zu denen auch jetzt wieder das Militär gehören wird. Aber das Signal der kollektiven Frustration ist von den Bevölkerungen in mehreren Ländern fast gleichzeitig ausgestrahlt worden. Die vielen Internetnutzer haben es noch mehr als die Nachrichtensender weitergetragen, die das Monopol der Berichterstattung eingebüßt haben. Erst mit einer Verzögerung von mehreren Tagen reagieren die Medienanstalten mit adäquaten und umfassenden Berichten und die Regierungen mit leisen Stellungnahmen. Aber auch der verzweifelte Versuch des ägyptischen Regimes, Journalisten gewaltsam mundtot zu machen, wird die Ereignisse nicht aufhalten. Jeder Bürger hat das Potential zum Berichterstatter.

Historiker müssen bewerten, ob sich dieser Tage eine Revolution in den einzelnen Ländern vollzieht. Wir beobachten aber erstens politischen Protest, der innerhalb der bestehenden politischen Ordnungen nicht eingehegt werden kann. Die Regime reagieren zweitens entweder mit sofortigem Rückzug oder mit Gewalt, wozu auch das Abschalten der Internetverbindungen zählt. Und drittens formieren sich Oppositionsbewegungen, die um Ideen für eine post-autokratische Zeit ringen und diese formulieren. Die Parallelen zu den Freiheitsbewegungen in Osteuropa 1989 sind jedenfalls sehr deutlich.

Die neuen Medien sind die Geburtshelfer für Protest und Revolution am Beginn des 21. Jahrhunderts. Der Erfolg von Regimewechseln wird nicht von ihnen abhängen, aber sie sind schon jetzt ein Teil der Angst amtierender Autokraten vor dem Verlust der Macht geworden.

Quellen:

Hirschman, Albert O. (1982) Shifting Involvement. Private Interest and Public Action. Princton University Press

Shirky, Clay (2009) Here Comes Everbody. Penguin Books.

Der Autor:

Johannes Staemmler, MPP, promoviert im Rahmen eines Fellowships der Hertie School of Governance und IFOK zum Thema „Zivilgesellschaft in strukturschwachen Regionen“. Er studierte Internationale Beziehungen an der Technischen Universität Dresden und Public Policy an der Hertie School of Governance. Seine Schwerpunkte sind bürgerschaftliches Engagement, politische Theorie, Regionalentwicklung sowie politische Kommunikation.

 

Duo, Trio oder Elefantenrunde? Zur Diskussion über die Fernsehdebatte in Baden-Württemberg

Von Jürgen Maier und Thorsten Faas
Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) hat sich durchgesetzt. Überlegungen des SWR, nicht nur den CDU-Spitzenkandidaten und seinen Herausforderer von der SPD, Nils Schmid, für eine Fernsehdebatte einzuladen, sondern auch den Top-Kandidaten von Bündnis 90/Die Grünen, Winfried Kretschmann, erteilte er eine klare Absage: „Für Trio-Konstellationen stehe ich nicht zur Verfügung. Ein Duell besteht aus zwei Personen, wie der Name schon sagt.“ Tatsächlich kommt es nun am 16. März zu einem Aufeinandertreffen von Mappus und Schmid.

Fernsehdebatten (oft etwas martialisch auch als „TV-Duelle“ bezeichnet) sind ein aus den USA importiertes Format, in dessen Rahmen die aussichtsreichsten Kandidaten für das Amt des Regierungschefs miteinander die zentralen Themen des Wahlkampfs diskutieren. In der Regel sind es tatsächlich zwei Kandidaten, die sich dabei gegenüberstehen. Allerdings gab und gibt es Ausnahmen davon: Der prominenteste Fall sind die TV-Debatten im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 1992, als der demokratische Herausforderer Bill Clinton nicht nur mit dem damaligen republikanischen Präsidenten George Bush sen., sondern auch mit dem unabhängigen Kandidaten Ross Perot diskutierte. Auch bei der Erstauflage solcher Debatten in Großbritannien im vergangenen Jahr waren drei Kandidaten geladen: Gordon Brown für Labour, James Cameron für die Conservatives und Nick Clegg für die Liberalen.

Auch in Deutschland wäre ein Dreikampf kein Novum. In den Landtagswahlkämpfen 2004 und 2009 in Brandenburg und Thüringen standen sich Vertreter von CDU, SPD und PDS bzw. Die Linke gegenüber. Ein „Duell“ besteht also nicht immer aus zwei Personen. Nun könnte man argumentieren, dass es sich hierbei eigentlich nicht um TV-Duelle, sondern um Elefantenrunden – also eine Diskussion zwischen Repräsentanten aller im Parlament vertretenen Parteien – handelte. Dies stimmt jedoch nur für Thüringen (hier saßen tatsächlich nur diese drei Parteien im Landtag). In der brandenburgischen Volksvertretung war zum Zeitpunkt der Fernsehdebatten allerdings auch die DVU vertreten – der man allerdings keine öffentliche Bühne geben wollte. Auf diese Weise kam es zumindest in Brandenburg schon einmal zu einem aus drei Personen bestehenden Duell.

Die Rationalität hinter diesem Vorgehen war die hohe Popularität der eingeladenen politischen Kräfte – sowohl in den USA als auch in Großbritannien als auch in Thüringen und Brandenburg. Aus diesem Grund regt sich auch in Baden-Württemberg Widerstand. Bündnis 90/Die Grünen reagierten in einem offenen Brief an den Intendanten des SWR auf die Entscheidung des Fernsehsenders. Sie argumentieren unter Berufung auf Umfrageergebnisse, dass ein Ausschluss von Kretschmann die (sich abzeichnenden) politischen Kräfteverhältnisse „verzerren“ würde. Im Kern geht es den Grünen natürlich nicht nur um bloße Sichtbarkeit, sondern vor allem um die Möglichkeit, ein vergleichsweise großes Publikum direkt, d.h. unter Umgehung journalistischer Selektionskriterien, anzusprechen. Damit verknüpft ist die Hoffnung, dass dieser direkte Zugang zu den Wählern sich positiv auf die eigenen Wahlchancen niederschlägt. Wissenschaftliche Untersuchungen zu den TV-Debatten auf Bundesebene belegen immer wieder, dass diese Hoffnung durchaus zur Realität werden kann.

Wie kann man die Situation nun auflösen? Kurzfristig damit, nochmals darüber nachzudenken, ob das Duo Mappus-Schmid nicht doch um den Grünen Kretschmann ergänzt werden sollte. Dies muss – wie ein Blick nach Österreich zeigt – nicht unbedingt darin münden, alle drei Kandidaten gemeinsam vor der Kamera stehen. In der Alpenrepublik debattiert traditionell jeder gegen jeden. Alternativ dazu könnte man natürlich auf eine Elefantenrunde ausweichen – und auch Liberale (und Linke?) zu einer Diskussion bitten. Mittelfristig müssen klarere Regeln her, wann Parteien einen Repräsentanten in ein solches Duell entsenden dürfen. Zwar wurde vom Bundesverfassungsgericht 2002 entschieden, dass ein solcher Anspruch generell nicht besteht und die Fernsehsender (und zwar auch die öffentlich-rechtlichen) in der Zusammenstellung solcher Diskussionsrunden grundsätzlich frei sind. Aber auch hier könnte ein Blick in die USA weiterhelfen: Dort werden alle Kandidaten geladen, die eine rechnerische Chance haben, die Mehrheit im Electoral College zu gewinnen, bzw. die in landesweiten Umfragen mindestens 15 Prozent der Wähler hinter sich vereinigen können. Außerdem liegt die Organisation solcher Debatten dort in den Händen einer unabhängigen „Commission on Presidential Debates“, was auch der Situation in Deutschland angesichts der zu beobachtenden Institutionalisierung solcher Diskussionsrunden sicher gut tun würde.

 

Auf der Jagd nach den 50.000 Klicks: E-Petitionen in Deutschland

von Andreas Jungherr, Pascal Jürgens und Harald Schoen

Geht man nach den Nutzerzahlen, so gehört das E-Petitionssystem des Deutschen Bundestages zu den erfolgreichsten Beispielen für demokratische Partizipation über das Internet. Tatsächlich bündeln jedoch nur sehr wenige E-Petitionen mehr als die Hälfte aller Unterschriften. Die öffentliche Unterstützung konzentriert sich also auf einem verschwindend kleinen Bruchteil aller öffentlichen E-Petitionen. Das E-Petitionssystem scheint allerdings nicht dem “Winner takes all”-Prinzip zu folgen. Auch wenn nur ein kleiner Bruchteil der E-Petitionen einen Großteil der Unterstützung auf sich konzentriert, profitieren auch kleinere, weniger erfolgreiche E-Petitionen von der Aufmerksamkeit, die erfolgreiche E-Petitionen erregen. Es scheint, als ob Aufmerksamkeit und Unterschriften von erfolgreichen auf weniger erfolgreiche E-Petitionen gleichsam überspringen.

Auf einer vom Bundestag bereitgestellten Internetplattform können interessierte Bürger online Petitionen an den Bundestag richten. Falls die Urheberin einer Petition dies wünscht, kann sie die Petition als „öffentlich“ kennzeichnen. Dies ermöglicht es dann anderen Nutzern des E-Petitionssystems, diese Petition auf der Internetplattform mitzuzeichnen. Gelingt es einer E-Petition, in den ersten drei Wochen nach ihrer Veröffentlichung auf der Petitionsplattform mehr als 50.000 Unterschriften zu sammeln, so wird die Petition in einer öffentlichen Sitzung des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Beisein der Urheberin der E-Petition diskutiert. 50.000 Unterschriften sind damit die entscheidende Hürde, die überwunden werden muss, ehe einer E-Petition und ihrer Urheberin Öffentlichkeitswirksamkeit garantiert ist (siehe zum deutschen E-Petitionswesen z.B. Riehm et al. 2009).

Wir untersuchten E-Petitionen seit der Einführung der derzeitigen E-Petitionsplattform am 14. Oktober 2008 bis zum 19. Januar 2010. In dieser Zeit fanden sich auf der Plattform 886 E-Petitionen mit mindestens einer Unterstützerunterschrift. 495.611 Nutzer hatten sich der Plattform bedient, um eine oder mehrere E-Petitionen einzureichen oder zu unterstützen. Insgesamt waren über eine Million Unterschriften zugunsten der 886 öffentlichen E-Petitionen geleistet worden. Dies sind beeindruckende Zahlen, vor allem wenn man die übliche Gelassenheit der deutschen Internetnutzer gegenüber Partizipationsangeboten im Netz bedenkt (man denke nur an das dröhnende Schweigen des „18. Sachverständigen“, also der Bürger, in der Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft).

Mit den Methoden der „Computational Social Science“ (Lazer et al. 2009) haben wir das E-Petitionsverhalten genauer untersucht. Das folgende Schaubild zeigt die Summe aller Unterschriften im Laufe des Untersuchungszeitraums. Schwarz markiert sind alle Unterschriften die für E-Petitionen eingingen, denen es nicht gelang, über 10.000 Unterschriften zu sammeln. Die farblich abgesetzten Flächen zeigen die Unterschriften für E-Petitionen, die mehr als 10.000 Unterschriften auf sich vereinigen konnten. Von den 886 öffentlichen E-Petitionen im Untersuchungszeitraum gilt das nur für vierzehn E-Petitionen. Nur 1,5% der öffentlichen E-Petitionen bündeln also gut die Hälfte aller auf der E-Petitionsplattform eingegangenen Unterschriften.

[Für eine größere Version bitte das Schaubild anklicken]

Welche sind nun diese außerordentlichen E-Petitionen? Im Schaubild zeigen sich die E-Petitionen mit über 10.000 Unterschriften als plötzlich ansteigende und wieder abfallende Farbflächen. So sehen wir im Frühjahr 2009 die in der Öffentlichkeit stark diskutierte E-Petition für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Im Sommer 2009 finden sich dann gleich mehrere dieser populären E-Petitionen. Allen voran die E-Petition „Keine Indizierung und Sperrung von Internetseiten“ die im Sommer 2009 Teil der #zensursula-Kampagne gegen das umstrittene Netzsperrengesetz der damaligen Bundesregierung wurde.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, für das E-Petitionswesen gelte die Devise „Die Reichen werden reicher“ oder gar das Prinzip „The winner takes all“. Bei näherem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass eine andere Dynamik am Werk ist. Betrachtet man die Entwicklung der schwarzen Fläche im Schaubild, so sieht man, dass die E-Petitionen unter 10.000 Unterschriften zu Beginn des Untersuchungszeitraums täglich einige hundert Unterschriften erhalten. Dieses Muster wird gebrochen, sobald die außergewöhnlich erfolgreiche E-Petition für das bedingungslose Grundeinkommen auftritt. Während des Zeichnungszeitraums dieser E-Petition steigt auch die Summe der Unterschriften für kleinere E-Petitionen deutlich an. Der Erfolg einer E-Petition springt also, mit abgeschwächter Wirkung, auf andere in diesem Zeitraum unterzeichenbare E-Petitionen über. Dieses Muster findet sich im weiteren Verlauf des Untersuchungsraumes immer wieder und deutet auf eine Regelmäßigkeit hin. In Zahlen ausgedrückt, scheint eine E-Petition, die mehr als 10.000 Unterschriften erhält, weniger erfolgreichen E-Petitionen zusätzliche Unterschriften einzubringen. Aufmerksamkeit und Unterschriften scheinen also von erfolgreichen auf weniger erfolgreiche Petitionen überzuspringen. Oder, in anderen Worten: Politische Partizipation erzeugt politische Partizipation.

Literatur:

Jungherr, A., und P. Jürgens (2010) ”The political click: political participation through e-petitions in Germany,” Policy & Internet 2(4), 131-165.

Lazer, D., et al. 2009. “Computational Social Science.” Science 323 (5915): 721–723.

Riehm, U., C. Coenen, R. Lindner, und C. Blümel. 2009. Bürgerbeteiligung durch E-Petitionen: Analysen von Kontinuität und Wandel im Petitionswesen. Volume 29 of Studien des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag. Berlin: Edition Sigma.

Die Autoren:

Andreas Jungherr arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Soziologie an der Universität Bamberg. Dort promoviert er zur Dynamik politischer Twitternutzung. Er twittert unter dem Namen @ajungherr.

Pascal Jürgens ist Kommunikationswissenschaftler und promoviert demnächst im Bereich der Online-Kommunikation. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in empirischen Methoden, insbesondere bei Sozialen Netzwerken und Modellierung.

Harald Schoen ist Politikwissenschaftler und Professor für Politische Soziologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Zu seinen Forschungsgebieten gehören Wahlverhalten, Wahlkämpfe und ihre Wirkungen, Einstellungen zu außen- und sicherheitspolitischen Themen sowie Fragen der politischen Psychologie und der Politischen Kommunikation.

 

Twitterprognosen, oder: Warum die Piratenpartei beinahe die Wahl 2009 gewonnen hätte

von Andreas Jungherr, Pascal Jürgens und Harald Schoen

Die zunehmende Nutzung internetgestützter Dienste wie zum Beispiel Google, Facebook oder Twitter hat für Sozialwissenschaftler den erfreulichen Nebeneffekt, dass sie auf immer größer werdende Datensätze zugreifen können, die menschliches Verhalten dokumentieren. So wurde zum Beispiel erfolgreich gezeigt, dass die Häufigkeit von Google-Suchanfragen Rückschlüsse auf die Entwicklung von Verbraucherzahlen oder Grippeepidemien zulässt. Mit Hilfe von Daten des Microblogging-Dienstes Twitter wurde versucht, den Kassenerfolg von Kinofilmen vorherzusagen oder die Struktur von Fernsehereignissen aufzuzeigen. Verschiedene Studien zeigen das Potential dieser neuen, durch Internetnutzung entstandenen Datensätze. Die Art und Größe dieser Datensätze birgt neben der Chance eines tatsächlichen Erkenntnisgewinns über gesellschaftliche Entwicklungen außerhalb des Internets für Forscher jedoch auch die Gefahr, zufällige Muster in den Daten als bedeutungsvolle Ergebnisse zu interpretieren.

Wie schnell man solchen Fehlschlüssen aufsitzen kann, zeigt der Aufsatz „Predicting Elections with Twitter: What 140 Characters Reveal about Political Sentiment“ von Andranik Tumasjan, Timm O. Sprenger, Philipp G. Sandner und Isabell M. Welpe. In ihrem Text versuchen die Autoren, das Ergebnis der Bundestagswahl 2009 mit Hilfe von Twitter-Nachrichten zu prognostizieren, die vor der Wahl gesendet wurden. Für die sechs im Bundestag vertretenen Parteien gelingt das so gut, dass die Autoren folgern, “the mere number of tweets mentioning a political party can be considered a plausible reflection of the vote share and its predictive power even comes close to traditional election polls”. Ein faszinierendes Ergebnis: Das einfache Zählen von Twitternachrichten führt zu sehr ähnlichen Resultaten wie kostspielige Erhebungen von Meinungsforschungsinstituten, die so gerne als Prognosen gelesen werden.

Die anfängliche Freude über dieses Ergebnis verfliegt allerdings schnell, betrachtet man sich die Analyse genauer. Eine einfache Replikation der Studie von Tumasjan und Kollegen ergibt Ergebnisse, die der Originalstudie sehr ähneln (Tabelle 1). In der Replikation der Studie stellten wir fest, dass für die Bundestagsparteien der mit Hilfe von Twitternennungen prognostizierte Stimmenanteil im Durchschnitt nur um 1,51 Punkte vom tatsächlichen Stimmenanteil ab. So weit, so gut.

Tabelle 1: Anteile der Bundestagsparteien an den Stimmen und Twitternennungen

a In Anlehnung an Tumasjan et al. wurden nur die auf die betrachteten Parteien entfallenen Stimmen berücksichtigt.

In ihrer Untersuchung entschieden sich Tumasjan und Kollegen dafür, nur die Nennungen von Parteien zu zählen, die auch tatsächlich im Bundestag vertreten waren. Diese Entscheidung ist etwas überraschend, da die Autoren so eine politische Prognose auf der Basis von Onlinekommunikation erstellen, aber diejenige Partei nicht berücksichtigen, die von allen Parteien die meisten Unterstützer im Internet sammeln konnte. Um zu überprüfen, wie robust die Ergebnisse von Tumasjan und Kollegen tatsächlich sind, beschlossen wir, die Piratenpartei in unsere Replikation der Originalstudie einzubeziehen. Abbildung 1 zeigt das Ergebnis.

Abbildung 1: Anteile der Bundestagsparteien und der Piratenpartei an den Stimmen und Twitternennungen

 

*In Anlehnung an Tumasjan et al. wurden nur die auf die betrachteten Parteien entfallenen Stimmen berücksichtigt.

Die Twitterprognose identifiziert hier eindeutig die Piratenpartei als stärkste Kraft. Wäre diese Prognose korrekt, so hätte die Piratenpartei am Wahltag 35 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten und damit mit hoher Wahrscheinlichkeit den Kanzler gestellt. Dieses Szenario hat offensichtlich wenig mit den tatsächlichen Wahlergebnissen zu tun, da die Piratenpartei am Wahltag etwa 2 Prozent der abgegeben Stimmen erzielen konnte und damit nicht in den Bundestag einziehen konnte. Es scheint, als würde zumindest dieses Instrument versagen, sobald man internetgestützte politische Bewegungen in die Analyse einbezieht.

Nun könnte man die Twitterprognose mit dem Argument zu retten versuchen, es sei zu ambitioniert, ausgerechnet die Piratenpartei in die Analyse einzubeziehen, von der ja vor der Wahl 2009 jeder gewusst habe, dass sie nicht in den Bundestag einziehen würde. Auf den ersten Blick erscheint dieser Einwand überzeugend, nicht jedoch auf den zweiten. Denn eine Methode, die Informationen darüber voraussetzt, welche Parteien in den Bundestag einziehen werden, dürfte schwerlich als eigenständiges Prognoseinstrument akzeptiert werden.

Dieses Beispiel zeigt, wie leicht es ist, sich von Mustern in Datenspuren menschlichen Online-Verhaltens irreführen zu lassen. Gerade die Reichhaltigkeit dieser Daten und ihre komplexen Zusammenhänge legen es nahe, Muster zu erkennen. Schwierig wird es allerdings, wenn diese Muster auf ihren Realitätsbezug überprüft werden sollen. Gerade hier entscheidet sich jedoch, ob die Ergebnisse einer solchen Untersuchung tatsächlich gesellschaftliche Entwicklungen außerhalb des Internets abbilden oder nur statistische Artefakte sind.

Literatur:

Tumasjan, Andranik, Timm O. Sprenger, Philipp G. Sander and Isabell M. Welpe. (2010). “Predicting Elections with Twitter: What 140 Characters Reveal about Political Sentiment,” Proceedings of the Fourth International AAAI Conference on Weblogs and Social Media. Menlo Park, California: The AAAI Press. 178-185.

Die Autoren:

Andreas Jungherr arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Soziologie an der Universität Bamberg. Dort promoviert er zur Dynamik politischer Twitternutzung. Er twittert unter dem Namen @ajungherr.

Pascal Jürgens ist Kommunikationswissenschaftler und promoviert demnächst im Bereich der Online-Kommunikation. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in empirischen Methoden, insbesondere bei Sozialen Netzwerken und Modellierung.

Harald Schoen ist Politikwissenschaftler und Professor für Politische Soziologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Zu seinen Forschungsgebieten gehören Wahlverhalten, Wahlkämpfe und ihre Wirkungen, Einstellungen zu außen- und sicherheitspolitischen Themen sowie Fragen der politischen Psychologie.

 

Wikileaks und offene Daten – zwei Seiten einer Medaille?

Gastbeitrag von Christoph Bieber

Was haben die „Enthüllungsplattform“ Wikileaks und die scheinbar nur für Verwaltungsexperten und Programmierer interessanten E-Government-Angebote wie data.gov, data.gov.uk oder bund.offenerhaushalt.de miteinander gemein? Auf den ersten Blick nicht viel, doch bei einem Vergleich der Konstruktionsprinzipien zeigen sich durchaus Ähnlichkeiten: In beiden Fällen geht es um „offene Daten“, die Verfügbarmachung und Verbreitung großer Informationsmengen, ganz gleich ob als subversive Enthüllung oder kontrolliertes Leck.

Folgerichtig entwickelt sich in den USA bereits eine Debatte um die Frage, ob Wikileaks in das Modell des „Open Government“ passt (vgl. Alex Howard, Is Wikileaks Open Government?). In Deutschland dominieren dagegen die Bestürzung über die unverblümten Einschätzungen des politischen Spitzenpersonals sowie eine diffuse Empörung über das Internet als sprudelnder Datenquelle. Immerhin, in der öffentlichen Debatte wird Wikileaks als Akteur nun etwas mehr Respekt entgegengebracht – in den Affären um die Publikation geheimer Militärdokumente galt das Netzwerk um Julian Assange eher als medialer Emporkömmling mit unklarem Antrieb. Besonders pointiert vorgetragen wurde die Frage nach dem Bedeutungsverlust der alten Medien durch den New Yorker Journalismus-Forscher Jay Rosen, der Wikileaks als neuartige „stateless news organization“ bezeichnet hatte.

Die ersten beiden Publikationswellen waren deutliche Hinweise darauf, dass die technologisch veränderten Möglichkeiten zur Dokumentenerstellung, -vervielfältigung und -weitergabe für eine „Konjunktur des Lecks“ sorgen. Hier liegt im Übrigen eine bislang noch kaum beachtete Differenz zu den „War Logs“ aus Afghanistan und Irak: Waren damals auch multimediale Dokumente veröffentlicht worden, handelt es sich bei den diplomatischen „Kabeln“ bislang offenbar um pures Textmaterial. Gerade hier sind gemeinschaftliche Anstrengungen notwendig, um sich mit der immensen Materialmenge überhaupt beschäftigen zu können. Profiteure sind hier nicht allein Journalisten und interessierte Bürger, sondern auch Wissenschaftler. So gerät der britische Historiker Timothy Garton Ash angesichts dieser Quellenflut regelrecht ins Schwärmen:

„In den nächsten Wochen können wir uns auf ein mehrgängiges Festmahl zur Geschichte der Gegenwart freuen. Ein Historiker muss normalerweise 20 bis 30 Jahre warten, um solche Schätze zu finden. Hier sind die jüngsten Berichte kaum älter als 30 Wochen. Diese Fundgrube enthält mehr als 250.000 Dokumente. (…) Wie alle Archivforscher wissen, eröffnet die Untersuchung großer Datenmengen neue Einsichten – seien es die Briefe eines Schriftstellers, Unterlagen aus einem Ministerien oder diplomatischer Schriftverkehr. Das gilt auch dann, wenn vieles nur Routinematerial ist, denn ein langes Eintauchen in den Stoff schärft den Sinn für Prioritäten, Charakter und Denkmuster.“

Eine zweite Unterscheidung liegt in der Verortung des geleakten Materials innerhalb des politischen Systems: Aus politikwissenschaftlicher Perspektive können die ersten beiden „Datenhaufen“ als ein Leck im policy-Bereich verstanden werden, denn im Mittelpunkt stand die Einflussnahme auf konkretes außenpolitisches Handeln mit dem Ziel der Diskreditierung der militärischen Konflikte als legitimes politisches Mittel. Die dritte durch Wikileaks geöffnete Material-Fundgrube enthält (sofern man das bisher sagen kann) dagegen eher Informationen aus dem politics-Bereich und wirft Licht auf die Art und Weise, wie innerhalb und zwischen politischen Organisationen und Institutionen kommuniziert worden ist. Die Orientierung auf den politischen Prozess verschiebt auch die Bedeutungsebene dieses dritten Lecks – die ersten beiden Veröffentlichungswellen dürften sich in der Rückschau als die brisanteren erweisen.

Offene Daten-Plattformen als kontrollierte Lecks?

Man darf also vermuten, dass das „Leck“ als Standardsituation öffentlicher Kommunikationsprozesse vor einer großen Karriere steht. Nicht zuletzt, weil dafür auch einige Projekte sorgen, die auf Regierungsseite vorangetrieben werden und sich ebenfalls mit der gezielten Veröffentlichung großer Datenmengen befassen – gewissermaßen ein bewusstes „leaking“ durch staatliche Stellen. Beispiele für diese „Open Data“-Initiativen sind Portale wie data.gov in den USA oder data.gov.uk in Großbritannien. In Deutschland zielt offenerhaushalt.de in eine ähnliche Richtung, ist im Gegensatz zu den vorgenannten jedoch kein offizielles Regierungsprojekt.

Auch diese Leuchtturmprojekte dokumentieren einen veränderten Umgang mit öffentlich verfügbaren Daten und Informationsmaterial – und wie bei Wikileaks stehen dabei radikale Publizität und Transparenz im Vordergrund. In einem offenen, auf Kollaboration angelegten Arbeitsumfeld sollen neue Produkte und Dienstleistungen entstehen, die der Allgemeinheit zugute kommen und staatliche Akteure in der Ausübung ihrer Tätigkeiten unterstützen. Der Ansatz dieses „Open Government“ überträgt die Ideen des auf Offenheit, Beteiligung und Rekombination ausgelegten Web 2.0 in die Umgebung regierungsgebundener Dienstleistungen. Und auch hier geht es um eine Verschiebung von Machtstrukturen, schreiben die Management- und Verwaltungswissenschaftler Ai-Mei Chang und P. K. Kannan: „Aus einer Perspektive der Regierungsinstitutionen zielen Fragen zur gemeinsamen Entwicklung von Services und Regulierungsfragen auf (1) die Machtverschiebung in Richtung der Nutzer sowie (2) das Verhältnis zwischen Nutzern und externen Organisationen, die als Vermittler für andere auftreten.“

Wesentliche Triebfeder für Projekte mit offenen Daten ist die Idee der Co-Creation neuer Inhalte im Rahmen flexibler, datengestützter Kooperationen zwischen Bürgern und öffentlichen Akteuren. Ziel ist dabei nicht etwa eine vertragsbasierte Zusammenarbeit, sondern die Hoffnung auf individuelle Weiterentwicklungen und Re-Kombinationen der öffentlich verfügbaren Daten durch Dritte. Auffallend ist dabei auch, dass bereits mehrere Non-Profit-Organisationen den Datenreichtum solcher staatlichen Repositorien systematisch auszuschöpfen versuchen. Dazu zählen die „Open Knowledge Foundation“ mit Sitz in England und Wales, die US-amerikanische „Sunlight Foundation“ und auch die deutschen Netzwerke „Open Data e.V.“ und Government 2.0 e.V.

Sichtbar wird hier eine starke Verankerung in einer „digitalen Zivilgesellschaft“, deren Akteure als Übersetzer tätig werden und mit Hilfe von Auswertungen und Visualisierungen die Informationen einem größeren Publikum zugänglich machen. Zugleich stehen sie damit aber auch öffentlichen Verwaltungsstrukturen helfend zur Seite, denn aufgrund begrenzter Ressourcen sind die Behörden oft nicht in der Lage, die enormen Datenmengen ausführlich zu erschließen und aufzubereiten.

Das Konstruktionsprinzip der Plattformen, die in den USA und auch in Großbritannien sehr positiv aufgenommen wurden, weist also tatsächlich einige Ähnlichkeiten mit der ursprünglichen „Geschäftsidee“ von Wikileaks auf. Schließlich hatte die Nicht-Regierungsorganisation ihre Arbeit zunächst als offene Plattform zur Verbreitung von Informationen begonnen, von dem bereit gestellten Rohmaterial sollten Dritte profitieren und durch eine Weiterbearbeitung der Daten einen gesellschaftlich relevanten Mehrwert generieren – erst mit der Publikation der „Afghan War Logs“ wandelte sich dieses Selbstverständnis hin zu einem eher investigativ-journalistisch handelnden Akteur mit einer eigenen politischen Agenda.

Dennoch basieren „Enthüllungs-Website“ und „Verwaltungs-Plattform“ auf ganz ähnlichen Funktionsprinzipien: Sie machen umfangreiche Datenmengen einer größeren Zahl von Menschen zugänglich, und sie erlauben denjenigen, die über die nötigen Kompetenzen und eine individuelle Motivation verfügen, einen kreativen Umgang damit. Somit entsteht in beiden Fällen die Grundkonstellation für eine innovative, online-basierte Politik- bzw. Gesellschaftsberatung.

Interessanterweise scheinen die offiziellen Regierungs-Aktivitäten einer offeneren Struktur zu folgen, als das weder hierarchiefreie noch transparent arbeitende Wikileaks-Netzwerk. Bei den Verwaltungsplattformen steht tatsächlich der Gedanke einer offenen, gleichberechtigten Kollaboration im Vordergrund. In einer sehr vorläufigen und durchaus paradoxen Schlussthese könnte man also festhalten: Während die Regierungsplattformen eher als ein (ergebnis-)offener Prozess der Gesellschaftsberatung zu charakterisieren sind, lassen sich die Bemühungen von Wikileaks als eine in zielgerichtetes Beratungshandeln verkleidete Intervention verstehen, wobei eine bestehende Agenda unter Nutzung vernetzter medialer Öffentlichkeiten gegenüber politischen Akteuren durchgesetzt werden soll.

Textnachweis

Der Text ist eine gekürzte, aktualisierte Fassung des Beitrags „Offene Daten – neue Impulse für die Gesellschaftsberatung? Die Online-Plattformen Wikileaks.org und Data.gov als internet-basierte Gestaltungsöffentlichkeiten“, der in der kommenden Ausgabe der Zeitschrift für Politikberatung erscheint (Nr. 3/4, 2010).

Der Autor

Dr. Christoph Bieber ist Politikwissenschaftler an der der Justus-Liebig-Universität Gießen, bei Twitter hört er auf den Namen @drbieber. Im Oktober ist sein Buch „politik-digital. Online zum Wähler“ im Blumenkamp Verlag erschienen.

 

Paradoxes Wählerverhalten in Wien: Warum punktet eine rechtsextremistische Kampagne bei Wählern mit Migrationshintergrund?

Gastbeitrag von Felix Lill

„Eigentlich hab‘ ich ja nichts gegen Ausländer, aber…“ In Wien ist dieser Satz nicht selten zu hören. Dann werden die klassischen Argumente aufgezählt, obwohl keine empirische Evidenz für sie spricht: „Die nehmen unsere Arbeitsplätze weg“, „die fressen unsere Renten auf“, „die sind kriminell“, „jetzt dürfen sie auch noch in den Gemeindebauten wohnen, die wir von unseren Steuern bezahlen“…

Bei den Wiener Gemeinderatswahlen am 10. Oktober hat die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) nicht durch Zufall über 26% gewonnen. Eigentlich ist das Ergebnis nichts Neues: Erst vor zwei Jahren, bei den österreichweiten Nationalratswahlen, gewannen die rechtspopulistischen Parteien, FPÖ und die Splitterpartei BZÖ (Bündnis Zukunft Österreich), zusammen sogar leicht über 28%. Zu Lebzeiten Jörg Haiders, dessen Tod erst zwei Jahre her ist, war Rechtspopulismus ohnehin salonfähig. Haider konnte vor knapp zehn Jahren sogar mit der konservativen ÖVP auf Bundesebene koalieren. Aber nach Jörg Haiders Tod glaubten viele, das Thema sei so langsam vom Tisch.

Der jüngste Wahlkampf, den der FPÖ-Spitzenkandidat Heinz Christian Strache geführt hat, ist der bisher wohl rechtsextremistischste gewesen. Wahlslogans lauteten: „Mehr Mut für unser Wiener Blut – Zu viel Fremdes tut niemandem gut“ oder „Sarrazin statt Muezzin“. So weit ging es, dass Neonazis auf Websites ihr Gefallen an Strache bekundeten, der ihnen sonst immer zu milde gewesen war. Aber auch in breiten Teilen der österreichischen Bevölkerung, beobachtet das Nachrichtenmagazin „profil“ in seiner aktuellen Ausgabe, herrscht ein durch Tatsachen nicht zu begründendes Gefühl der ständigen Benachteiligung vor. Ein beliebter Sündenbock sind immer wieder „die Ausländer.“

Laut einer Umfrage des Sozialforschungsinstituts SORA und des Instituts für Strategieanalysen ISA war für 68% der FPÖ-Wähler der Anti-Zuwanderung-Standpunkt ein zentraler Grund für ihre Stimmentscheidung; über ein Drittel nannten auch explizit die islamophobe Haltung der Partei.

Interessant ist aber, dass von den wahlberechtigten Wienern mit Migrationshintergrund, die rund ein Viertel aller Wahlberechtigten ausmachten, immerhin 16% die FPÖ wählten – das sind 3% Stimmenanteil mehr als die Grünen und 2% mehr als die ÖVP von dieser Gruppe erhielten. Das ist zwar weniger als bei einigen vorigen Wahlen, aber angesichts des eindimensionalen und extrem ausländerfeindlichen Wahlkampfes der FPÖ auf den ersten Blick erstaunlich.

Werden Wähler mit Migrationshintergrund auf ein solches Stimmverhalten angesprochen, begründen sie dies typischerweise mit Selbstschutz: Weitere Zuwanderung vermeiden, mit harter Hand gegen die Klischees straffälliger Migranten angehen, nicht in einen Topf mit den Fremden, den Zuwanderern geworfen werden. Definiert man Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund als eine Wählergruppe, ist hier bei einem beträchtlichen Anteil ein adverses Verhalten beobachtbar: Anstatt sich gegen die Hetze von Straches FPÖ stark zu machen, wollen jene 16% lieber zum (österreichischen) Kern der Gesellschaft gehören. Im Resultat dürfte das auf Kosten aller Wiener Bürger mit Migrationshintergrund gehen, denn das Gros der FPÖ-Wähler wird nicht wissen oder gar unterscheiden, welcher Türke oder Serbe nun sein Kreuz für die FPÖ gemacht hat. Rechtsextremismus, von dem jene Wiener mit Migrationshintergrund am wenigsten profitieren, könnte so durch eigenes Zuarbeiten aufflammen.

Zwar bleibt Michael Häupl (SPÖ) Wiener Bürgermeister, aber mehr als ein Viertel der Wiener wird nun von der FPÖ repräsentiert. Womöglich werden bald auch von einigen Türken, Polen, und Abstämmigen des ehemaligen Jugoslawiens diese Sprüche zu hören sein: „Ich hab‘ ja nichts gegen Ausländer. Aber…“

Felix Lill hat Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Wien sowie Philosophie der Sozialwissenschaften an der London School of Economics studiert und absolviert derzeit ein Master-Programm an der Hertie School of Governance in Berlin. Seit mehreren Jahren arbeitet er als freier Journalist, u.a. für Die Presse, Tages-Anzeiger, taz und Spiegel Online. In diesem Jahr wurde er mit dem österreichischen Sportjournalistenpreis in der Kategorie „Print“ ausgezeichnet.

 

A Belgian Tsunami. Causes and consequences of a remarkable election result

Gastbeitrag von Steven Lauwers / guest article by Steven Lauwers

A few years ago, the Walloon public broadcaster aired a breaking news item, on the occasion of the 1st of April, announcing Flanders had declared its independence. The reactions to this fictional news item varied greatly: while some viewers were outraged, others were panicking and internationally, not all media outlets understood the joke. Since 2007, when international media were covering the elections and the subsequent struggle to form a government and get out of the political padlock, the end of this tiny country has been the focus in many discussions. Belgium seemed unable to resolve its disputes and lost a lot of international confidence. To make things worse, the Flemish Liberal Party (Open VLD), after months of unsuccessful negotiations, stepped out of the federal government, causing its fall early this year. At exactly the moment that Belgium became president of the European Union and needs to help Europe find a solution for the deep economic crisis it is facing, the country is struggling, yet again, to assemble its own government. And with the surprising victory of the NVA, the New Flemish Alliance, could this be the end of Belgium as we know it?

Belgium is divided into linguistic areas. If we exclude the German-speaking area for a moment, we can say that the North (Flanders) is unilingual Dutch, the South (Wallonia) unilingual French and the capital, Brussels, bilingual. The country consists of 10 provinces, which also form the constituencies, with one exception: Flemish-Brabant. This province, part of the Flemish linguistic area, has been split into two constituencies, Leuven and Brussels-Halle-Vilvoorde (B-H-V). B-H-V consists of the capital Brussels and its agglomeration, grouped under the name Halle-Vilvoorde (H-V). As Brussels is bilingual, many of the inhabitants in the surrounding H-V area speak French. Francophones in both Brussels and H-V are allowed to vote for Francophone parties from Wallonia and Brussels, despite the fact that H-V is unilingual Dutch. The other way around is impossible: Flemish parties that stand for election in B-H-V cannot get votes across the linguistic border for their list. In the fifties, Wallonia was renown for its thriving mining and steel industry. As this industry did not modernize its infrastructure adequately, it lost its ability to compete at an international level, while Flanders’ industry was rising around the same time. During the last decennia unemployment and subsequently poverty in Wallonia have grown steadily and many Walloons have to be supported by social security, provided by the federal government of Belgium. The money for this is mainly provided by the Flemish industry and Flanders’ taxpayers. The Flemish part of the country is growing tired of this one-way sponsorship, while Wallonia does not seem to want to change the current situation: it is neither able to provide the social security its inhabitants need, with unemployment rates twice as high as the national average, nor to improve their weak economy.

Belgium has been struggling for years to find an agreement on these issues, which is a prerequisite for many parties to even start talking about other issues. These problems can only be resolved by changing the constitution, which requires a two thirds majority in the Senate and the Chamber of Representatives; this majority also only counts if it consists of a majority in both linguistic communities. The search for an agreement on these topics has paralyzed Belgian politics and put governing the nation on hold, exacerbating problems such as the growing national economic deficit. Earlier this year, the Flemish Liberal party decided to step out of the coalition, causing the government to fall and new elections to be held earlier than anticipated. This action added to the voters’ frustration about the political mess.

Combining all these elements, one should have noticed the signs of the „tsunami“ that was about to hit Belgium. Many Flemish voters sought refuge to the one party that had been criticizing this situation all along: the New Flemish Alliance (NVA). This center-right oriented party, which only held a few seats in the Senate or the Chamber of Representatives until now, won the elections in Flanders with nearly 30% of the votes. In Wallonia, almost 40% of the voters have put their hopes in the the Socialist Party (PS). And still, the outcome of these elections was a wake-up call for everybody. The floodwave changed the political landscape completely and left a lot of casualties behind in every political party including budget cuts and resigning politicians. The two parts of the country have spoken with a clear voice and it is more obvious than ever that Belgian people live in a country with two completely different democracies, two different cultures and two different opinions. The presidents of both parties embody what the different linguistic communities feel the other one stands for: Bart De Wever (president of the NVA) sees nationalism and separatism as the solution to the current chaos and represents a Flemish part that is clearly in search of its identity; Elio Di Rupo (president of the PS) on the other hand embodies the kind of socialism the Flemish voters dislike, the long-term social security and support, which they perceive as the opposite of change and progress.

 

The international media often describes the NVA as a separatist party, with its only goal being Flemish independence. There is no denying that their programme reflects this idea, Bart De Wever claims he does not strive for complete independence at this stage. In the run-up to the elections, he clearly stated that his first priority is to find a solution for the problems that paralyze Belgium and at a later stage consider how Flanders can gain greater independence. Looking for a solution all political players are likely to support is probably the smartest move. He might have won the battle around the elections, but hasn’t won the war yet.

With such a strong political voice in each part of the country, asking for the exact opposite, a solution seems very hard to find. However, both parties seem to realize that a profound change is necessary and that these elections could very well be the last opportunity. The extreme right party as an example lost a tremendous amount of voters to the NVA, a sign that Belgians are not asking for the end of Belgium as a country as we know it, but are giving the politicians a final chance to work it out. As long as Belgians are looking for a compromise, they are still looking for a solution as one country. With one strong voice on each side, a two thirds majority – necessary for the constitutional changes needed to stabilize Belgium – seems much more possible than with a large number of political voices that are in complete disarray.

The parties now face the challenge of finding a compromise. The NVA will have to prove that its main goal is indeed bringing back stability to Belgium and not only striving for Flemish independence. The PS on the other hand will have to show that they want to move forward and have understood that Flanders is asking for change in order to be willing to keep negotiating in the future. There is more at stake than just securing a victory in the next elections.

The Tsunami has left many casualties and changed the political landscape completely. It is too early to say how Belgium will recover, but whatever the outcome of the ongoing negotations will be, it will define the future of Belgium. “Historical” is a word that is used much too often, but there is no other word that better emphasizes the importance of this situation.

 

Warum die Primarschule in Hamburg gescheitert ist

von Andrea Römmele und Henrik Schober

AndreaDer Hamburger Volksentscheid über die Schulreform hat eine eindeutige Siegerin hervorgebracht: die Bürgerinitiative „Wir wollen lernen“. 58 Prozent der Wähler haben der Bürgerinitiative zugestimmt, während der konkurrierende Vorschlag, der immerhin von allen in der Hamburger Bürgerschaft vertretenen Parteien unterstützt wurde, nur 45,5 Prozent Zustimmung verzeichnen konnte.* Somit haben die Bürger entschieden, dass das bisherige System der vierjährigen Grundschule bestehen bleibt und das gemeinsame Lernen nicht auf sechs Jahre ausgedehnt wird.

Volksentscheide sind in Deutschland eine relative neue Form demokratischer Beteiligung und nicht zuletzt deshalb ist die Analyse des Hamburger Ergebnisses bundesweit von Interesse: Warum konnte sich der gemeinsame Vorschlag nicht durchsetzen? Lassen sich aus dem Scheitern dieses Vorzeigeprojektes Erfolgskriterien für Volksentscheide im Allgemeinen ableiten?

Unserer Ansicht nach gibt es zwei Argumente, die den Ausgang der Abstimmung erklären können.

Das Partizipationsargument: Die Wahlbeteiligung lag insgesamt bei 39,3 Prozent, hat sich allerdings zwischen den Stadtteilen stark unterschieden. Während in Nienstedten der Spitzenwert von 60,3 Prozent erreicht wurde, konnten in Billbrook gerade einmal 12,5 Prozent verzeichnet werden. Dabei ist auffällig, dass die Wahlbeteiligung in den sozial schwächeren Stadtteilen eher gering war, während sie in den wohlhabenderen Gegenden überdurchschnittlich hoch ausgefallen ist. Die beiden erwähnten Stadtteile sind dafür exemplarisch: Nienstedten verzeichnet mit 0,5 Prozent die geringste Arbeitslosenquote unter den Stadtteilen, Billbrook mit 15,4 Prozent die höchste.

Dies bestätigt einen gängigen Befund der Partizipationsforschung, nach dem die Wahlbeteiligung in sozial schwächeren Schichten generell niedriger ist als in den wohlhabenderen Schichten. Das Dilemma: Eigentlich sollte die Schulreform gerade für jene sozial Schwachen Vorteile bringen, sie konnten aber nicht mobilisiert werden. Dieser Umstand kam der Bürgerinitiative zu Gute: Ihr Plädoyer für den Erhalt des Gymnasiums hat insbesondere die wohlhabenden und partizipationsbereiten Schichten angesprochen. Der entsprechende Zusammenhang zwischen Wohlstandsniveau, Bildungschancen und politischer Partizipation wurde verschiedentlich nachgewiesen (siehe hierzu ausführlich van Deth 2009). Die Zielgruppe der Bürgerinitiative war also geradezu ideal dafür geeignet, das Regierungsvorhaben durch einen Volksentscheid zu kippen.

Das Kampagnenargument: Neben diesen sozialstrukturellen Argumenten können Aspekte aus dem Bereich der Kampagnenforschung herangezogen werden. Zum einen hat die Bürgerinitiative ihre Kampagne sehr viel früher begonnen als die Regierung. Ein Grund dafür liegt möglicherweise in der Diskussion darüber, ob sich die Bürgerschaft hätte neutral verhalten müssen, wie es von einigen Gegnern der Schulreform gefordert wurde. Zwar haben sich letztlich alle Parteien klar positioniert, allerdings hatte die Kampagne gegen die Schulreform zu diesem Zeitpunkt bereits einen gewaltigen Vorsprung. Dabei ist auch anzumerken, dass sich die Bürgerinitiative eine lange Kampagne leisten konnte. Es können somit zwei Grundregeln moderner Kampagnenführung bestätigt werden (siehe auch Perron und Kriesi 2008): Es lohnt sich, früh anzufangen und viel zu investieren!

Ein weiterer Vorteil der Kampagne gegen die Reform war, dass sie ihre Botschaft sehr viel plastischer und emotionaler darstellen konnte. Mit entsprechender Rückendeckung durch die Boulevardpresse wurde vor dem Qualitätsverlust des Gymnasiums und vor Nachteilen für begabte Kinder gewarnt. Die Wähler konnten so emotionalisiert und damit auch mobilisiert werden. Die Vorteile des längeren gemeinsamen Lernens hingegen, etwa der langfristige sozioökonomische Nutzen oder die Chancen auf bessere Integration, konnten nicht veranschaulicht werden. Ohne eine konkrete Vision ist es aber sehr schwer, die Zielgruppen zu mobilisieren oder gar andere Wähler zu überzeugen.

Aus Sicht der Wissenschaft liefert der Volksentscheid also keine neuen Erkenntnisse, sondern bestätigt die bestehenden Befunde. Die Befürworter der Primarschule konnten weder die bildungsferneren Zielgruppen ausreichend mobilisieren noch in den bildungsnahen Bevölkerungsschichten genügend Unterstützung einwerben. Zudem konnte der Vorsprung der Kampagne „Wir wollen lernen“ nicht mehr aufgeholt werden.

Was bleibt? Es gibt nach wie vor starke Unterschiede in der Partizipationsbereitschaft, die auch und gerade bei der Vorbereitung von Volksentscheiden berücksichtigt werden müssen. Die Kernfrage der Wahlkampfforschung lautet: do campaigns matter – machen Kampagnen einen Unterschied? Unter dem Eindruck des Hamburger Ergebnisses kann festgestellt werden: Wahlkämpfe können auch Volksentscheide maßgeblich beeinflussen, campaigns do matter

* Über die beiden Vorschläge wurde getrennt abgestimmt. Die Vorlage der Bürgerinitiative „Wir wollen lernen“ erhielt 58 Prozent Ja-Stimmen und 42 Prozent Nein-Stimmen, die Vorlage der Bürgerschaft erreichte einen Anteil von 45,5 Prozent Ja-Stimmen bei 54,5 Prozent Nein-Stimmen.

Literaturhinweise:

Van Deth, Jan W.: Politische Partizipation, in: Kaina, Viktoria/Römmele, Andrea (Hg.): Politische Soziologie. Ein Studienbuch. Wiesbaden, 2009.

Perron, Louis/Kriesi, Hanspeter: Neue Trends in der internationalen Wahlkampfberatung, in: Zeitschrift für Politikberatung 1(1), 2008.

 

Patchwork-Koalitionen – ein Zukunftsmodell „made in NRW“?

von Andrea Römmele und Henrik Schober

Andrea„Entdecke die Möglichkeiten“ – mit diesem Slogan wirbt eine allseits bekannte schwedische Möbelhauskette für ihre Produkte, die in schier unendlich vielen verschiedenen Kombinationen angeordnet werden können. Dieser Abschied von festgelegten Mustern hat sich mittlerweile in vielen Bereichen des täglichen Lebens niedergeschlagen. Egal ob Essen oder Kleidung, Autos oder eben Möbel: Überall wird munter individuell drauflos kombiniert. Wird es also nicht Zeit, dass sich auch die Politik diesem Trend öffnet?

„Entdecke die Möglichkeiten“ könnte auch zum Credo der Minderheitsregierung um Hannelore Kraft werden. Sie muss wechselnde Partner aus der Opposition für Ihre Vorhaben gewinnen und könnte in dieser auf den ersten Blick äußerst unbequemen Situation schon bald Vorteile erkennen. Denn diese Art des Regierens in wechselnden, themenspezifischen „Patchwork-Koalitionen“ mag in Deutschland ungewöhnlich sein, sie trifft aber den politischen Zeitgeist. Wir sind auf dem Weg zu einem Vielparteiensystem (die Linke muss nicht die letzte Neugründung bleiben) und die altbekannten Lager brechen zusehends auf. So gilt mehr denn je die Forderung, dass alle demokratischen Parteien in der Lage sein müssen, miteinander zu kooperieren – und zwar auch und gerade außerhalb formeller Koalitionsvereinbarungen.

Ist die Minderheitsregierung also ein Zukunftsmodell? Die spezifischen Anforderungen, die das Regieren aus einer Minderheitsposition mit sich bringt, geben zumindest Anlass für Optimismus:

• Die führenden Politiker sind darauf angewiesen, integrativ und überparteilich zu wirken. Der zentrale Mechanismus des Regierens kann nicht pure, an den Parteiinteressen ausgerichtete Machtausübung sein, sondern muss argumentatives Überzeugen im Sinne aller Beteiligten beinhalten.

• Für die Bürger kommt hinzu, dass die Öffentlichkeit an Bedeutung gewinnt. Gerade bei kontroversen Themen kann die Unterstützung durch die Medien und die Bevölkerung ein wichtiger strategischer Faktor sein. Die Parteien müssen die Bürger somit für konkrete Projekte gewinnen und können sich nicht darauf beschränken, sie alle fünf Jahre um ihre Stimmen zu bitten.

Für NRW hat die Entscheidung für eine Minderheitsregierung zunächst einen ganz konkreten positiven Effekt: Neuwahlen bleiben uns vorerst erspart. Wenn man das allgegenwärtige Wort vom „Wählerwillen“ ernst nimmt, ist nicht zu bestreiten, dass dies tatsächlich nicht im Sinne derer wäre, die im Mai ihre Stimme abgegeben haben.

Dennoch ist natürlich auch Kritik berechtigt: Niemand weiß, ob Rot-Grün in NRW die Hoffnungen, die hier generell an das Modell Minderheitsregierung geknüpft werden, erfüllen wird – ebenso gut kann eine Phase unerträglicher taktischer Spielchen auf uns zukommen. Und natürlich hat sich Hannelore Kraft durch ihren abrupten Umschwung gewissermaßen selbst überholt und steht nun unter Erklärungsdruck. All das ist aber Teil eines Lernprozesses, den die deutsche Politik durchlaufen muss. Denn mittelfristig gibt es nur eine Alternative zu immer größeren Koalitionen unter Beteiligung von immer mehr Parteien, die sich gegenseitig blockieren: eine an Inhalten orientierte Minderheitsregierung. In Schweden hat man diese Möglichkeit übrigens schon längst entdeckt…