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Im Schein zweier Monde

 
Während im Club die letzten lauten Töne poltern, begibt sich Morgan Geist mit „Double Night Time“ auf einen Streifzug durch die Nacht

Jeder kennt das Gefühl: Die Party ist vorbei, fröstelnd steht man auf der Straße. Die Musik ist aus, die Kleidung klebt auf der schweißnassen Haut. Wo eben noch viele Menschen waren, ist man nun allein. Der Heimweg führt durch die nächtliche Stadt. Der Wind weht den Geruch von Feuer über den Asphalt. Die Stadt ist ein Labyrinth, bedrohlich und anziehend zugleich. Man möchte darin verschwinden, in den dunklen Straßenschluchten unsichtbar werden.

Diesem Gefühl hat der New Yorker Morgan Geist sein neues Album gewidmet. Auch auf Double Night Time ist es Nacht. Bereits mit seinem Projekt Metro Area hat er Tanzmusik für die schattigen Momente im Club produziert. Aber wo Metro Area noch die Discokugel aufblitzen ließen, gehen auf Double Night Time die Lichter ganz aus. Während in den Clubs die letzten lauten Töne poltern, begibt sich Morgan Geist schon auf seinen einsamen Streifzug.

Im Moment der Ekstase liegen Glücksgefühl und Melancholie nah beieinander. Morgan Geist beschwört diese Uneindeutigkeit immer wieder herauf. Die minimalen Kompositionen strahlen Sehnsucht aus: Hier wird ein Klavierlauf angedeutet, dort erschallt eine verwaiste Jazztrompete. Die Rhythmen und der spröde Bass schieben sich unaufdringlich nach vorn. Double Night Time ist eine Platte von unterkühlter Eleganz, glasklar und koordiniert klingt die Musik.

Dabei ist es kein Techno- oder Disco-Album. Die neun Stücke verweisen auf Italo-Disco und Dance-Pop, streifen New Wave und zickigen Elektrofunk. Viele Stücke sind tanzbar, auch wenn man nach wenigen Minuten beunruhigt die Tanzfläche verlässt. Immer wieder schleicht sich ein finsterer Unterton ein. Selbst auf einem charmanten Disco-Stück wie Most Of All rasseln die Streicher wie in den Filmen Alfred Hitchcocks, während Skyblue Pink mit seinen gespenstischen Klängen Erinnerungen an die Musik aus Blade Runner weckt.

So hätte Double Night Time eine bedrückende Angelegenheit werden können, wäre Morgan Geist nicht ein unverbesserlicher Romantiker. Vielleicht wartet in der Dunkelheit ja eine Bekanntschaft, die alles verändert. Vielleicht verbirgt sich hinter einem der erleuchteten Fenster die wahre Liebe. „What if I flew to you through the sky / What would you do?“, singt Jeremy Greenspan im Lied The Shore. Das ist Kitsch – aber er macht die Melancholie, die Double Night Time durchweht, erträglicher. Und so muss man sich nach dieser Sternenfahrt um das Einschlafen keine Sorgen machen. Nach einem geschmackvolleren Schlummerlied als Lullaby wird man jedenfalls lange suchen müssen.

Zwischen Melancholie und Romantik ist das Album auch eine Hommage an die großen Zentren der Tanzmusik. Der melancholische Techno aus Detroit, der urbane Glamour New Yorks und Chicagos schwüle Euphorie – hier kommen sie alle im Schein zweier Monde zusammen. Der nokturnen Stadtrundfahrt leiht Jeremy Greenspan, der Sänger der kanadischen Band Junior Boys, seine Stimme. Er verbindet die Stücke, er gibt dem Album das rettende Fünkchen Wärme, bevor es endgültig von der Einsamkeit verschluckt wird. Auf Liedern wie Ruthless City und dem famosen Detroit klingt Greenspan wie einer, der sich auf allen Tanzböden der Welt herumgetrieben hat und sich nun müde auf die dunkle Rückbank eines Taxis flüchtet.

Im Klang seiner Stimme scheint die Nacht niemals zu enden. Doch dann tauchen am Horizont plötzlich die Lichter der Stadt auf. „Detroit…“, seufzt er erleichtert. Langsam wird es hell. Die Party geht weiter.

„Double Night Time“ von Morgan Geist ist bei Environ/Alive erschienen.

Mehr zum Album hören Sie am Donnerstag, den 25. September, von 22 bis 23 Uhr in der Sendung „60 Minutes“ auf ByteFM. Hier öffnen Sie den Livestream »

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