Im neuen Merkur nimmt Kenan Malik die destruktive Logik ins Visier, die sich entfaltet, wenn politische Konflikte in Kultur-Kategorien formuliert werden:
„Der argumentativen Logik der Kulturschützer zufolge hat jede Kultur eine unverderbte Form, ihren ursprünglichen Zustand. Sie verfällt, wenn sie sich nicht länger in diesem Zustand befindet. Das erinnert an den Begriff des »Typus«, der im Mittelpunkt der Rassenkunde des 19. Jahrhunderts stand. All dem Gerede über die Veränderungen der Kultur und ihre flüssige Identität zum Trotz veranlasst der Multikulturalismus nicht weniger als der altmodische Rassismus die Menschen unweigerlich dazu, von menschlichen Gruppen in festen Begriffen zu denken. Beide Seiten der Rassismusdiskussion sprechen ihren eigenen Dialekt der Differenz. Die Rechte hat sich die Sprache der Diversität zu eigen gemacht, um ihre Botschaft rassischer Ausgrenzung zu propagieren. Die Liberalen bedienen sich oft der Mundart der Ausgrenzung, um eine pluralistische Idee von Kultur zu formulieren.
Kenan Malik
»Jede Gesellschaft, jede Nation ist einzigartig«, behauptete Enoch Powell, der lautstärkste Gegner der Immigration von Schwarzen in das England der Nachkriegszeit. »Sie hat ihre eigene Vergangenheit, ihre eigene Geschichte, ihre eigenen Erinnerungen, ihre eigenen Sprachen oder Sprechweisen, ihre eigene – wenn ich es wagen darf, dies Wort zu benutzen – Kultur.« Deshalb, so sein Argument, könnten Einwanderer, die unterschiedlichen Kulturen und unterschiedlichen Traditionen angehörten, niemals vollständig Engländer werden.
In Frankreich hat sich die extreme Rechte die Idee der kulturellen Differenzen schlau zunutze gemacht, um ihre antimuslimische Botschaft zu propagieren. »Es ist eine tragische Illusion, in ein und demselben Land die Koexistenz von Gemeinschaften verschiedener Kultur verwirklichen zu wollen«, argumentierte der frühere gaullistische Minister Michel Poniatowski. »Ich liebe die Nordafrikaner«, erklärte Jean-Marie Le Pen, »aber ich liebe sie in ihrem Land.« Durch die Sprache der Diversität ist der Rassismus einfach in eine weitere kulturelle Identität verwandelt worden.
Wie die Rechte sich die Grammatik der Diversität aneignete, so erlernten die Liberalen die Mundart rassischer Identität. Will Kymlicka ist alles andere als ein Ausländerfeind, doch sein Pluralismus bringt ihn schließlich dazu, die Sprache der Ausgrenzung zu übernehmen. »Es ist nur recht und billig«, meint Kymlicka, »wenn der Charakter einer Kultur sich infolge der Entscheidungen der Angehörigen dieser Kultur verändert.« Aber, fährt er fort, »von der Welt jenseits der eigenen Grenzen zu lernen«, ist etwas ganz anderes, »als von ihr überschwemmt zu werden«. Was soll das bedeuten? Dass eine Kultur das Recht hat, Angehörige einer anderen Kultur von sich fernzuhalten? Dass eine Kultur das Recht hat, die Angehörigen dieser Kultur daran zu hindern, eine andere Spra che zu sprechen, ausländische Lieder zu singen oder ausländische Bücher zu lesen?
Kymlickas Warnung vor der »Überschwemmung« sollte uns aufhorchen lassen. Die Rechte hat sich schon seit langem Ängste vor einer kulturellen Überschwemmung zunutze gemacht, um die Idee zu propagieren, dass die Nationen des Westens die Zugbrücke vor Einwanderern hochziehen sollten, deren kulturelle Differenz sie als Einwanderer ungeeignet macht. Es ist ein Argument, das Kymlicka zweifellos verabscheut. Doch wenn es erst einmal zu einem Prinzip der Politik geworden ist, dass Kulturen von Außenstehenden nicht überschwemmt werden sollten, dann wird es schwierig, gegen solche Anti-Einwanderungsargumente vorzugehen.
Historisch betrachtet lehnten die Antirassisten sowohl den Rassismus wie auch die Rassifizierung ab, das heißt sowohl die Praxis der Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Rasse wie auch die Theorie, dass ein Individuum durch die Gruppe, zu der es gehört, definiert werden kann. Die heutigen Multikulturalisten vertreten die These, dass man die Gruppenidentität feiern müsse, um den Rassismus bekämpfen zu können. Die Folge davon waren das Wiederaufleben von Rassetheorien und das Gefangensein der Menschen in ihren kulturellen Identitäten. Rassetheoretiker und Multikulturalisten, bemerkte der französische Philosoph Alain Finkielkraut, haben »einander entgegengesetzte Glaubensbekenntnisse, aber dieselbe Weltsicht«. Beide fetischisieren sie die Differenz. Beide sind sie bemüht, die Individuen auf ihre Herkunftsgruppe zu beschränken. Beide verhindern »jede Möglichkeit natürlicher und kultureller Gemeinsamkeit unter den Völkern«. Die Ablehnung dieser Politik der Differenz ist heute ebenso wichtig geworden wie die Ablehnung des Rassismus.“