Warum den Muslimbrüdern in Ägypten die Macht genommen werden mußte

Zu dem Ägypten-Text von Michael Thumann und mir erreicht mich folgender Leserbrief von Pfarrer Konrad Knolle, den ich hier als eigenen Beitrag zur Debatte stellen möchte. Knolle war ab Oktober 2002 für mehrere Jahre Pastor der Deutschen Evangelischen Gemeinde in Kairo:

Ein Putsch ist ein Putsch, ein Despot ein Despot, und ein Massaker ist ein Massaker.“ Natürlich muß man diesem Satz zustimmen, auch für Ägypten. Und doch stimmt das alles irgendwie nicht, wie Sie das schreiben.

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Warum gegenüber Ägypten eine klare Sprache gefordert ist

Diesen Text haben mein Kollege Michael Thumann und ich zusammen für die letzte Ausgabe der ZEIT verfasst, wo er am Donnerstag auf Seite 3 erschienen ist:

Als am letzten Donnerstag die Bulldozer, die Panzer und die Sniper in Kairo zuschlugen, waren die beiden Diplomaten schon abgezogen. Voll finsterer Vorahnungen hatten die Vertreter des Westens Ägypten verlassen. William Burns, der amerikanische Vizeaußenminister, und Bernardino Léon, der europäische Sondergesandte, hatten wochenlang hinter den Kulissen versucht, zwischen der Putsch-Regierung des Generals Abdel-Fattah al-Sissi und den Muslimbrüdern zu vermitteln, um ein drohendes Blutbad zu verhindern. Sie hatten die Islamisten für ihren Vermittlungsplan gewonnen – freiwillige Verkleinerung der Protestlager und Verurteilung von Gewalt gegen politische Beteiligung und Freilas-sung von Gefangenen. Auch die Regierung signa-lisierte Einverständnis. Doch dann erklärte sie über Nacht die Diplomatie für gescheitert und kündigte an, für alles Kommende trügen die Muslimbrüder die Verantwortung.

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Ein koptischer Bischof will Ägypten verändern

Die letzte Woche habe ich in Ägypten verbracht, in Begleitung des Koptisch-Orthodoxen Bischofs Anba Damian, der für die ägyptischen Christen in Deutschland zuständig ist. Bischof Damian war wegen der Papstwahl in seinem Heimatland, ich konnte die Synode am letzten Montag aus nächster Nähe erleben. Die Reise war Teil einer Langzeitrecherche über Christen im Nahen Osten. Ein Dossier zum Thema soll Ende November in der ZEIT erscheinen. Von meinen Eindrücken kann ich darum hier vieles leider nicht vorab teilen. 

Eine Begegnung aber, die durch Bischof Damian möglich wurde, hat mich sehr bewegt, und über sie will ich einiges mitteilen. Wir trafen Bischof Thomas, einen Freund von Anba Damian, in seinem Projekt namens „Anafora“ 120 Kilometer nördlich von Kairo. Dort hat er mir seine Geschichte erzählt und seinen Eindruck von der Lage der Kopten geschildert. Anders als viele eher vorsichtige und diplomatische Kirchenmänner ist Bischof Thomas ein Freund deutlicher Worte. 

Der Bischof sagt, Ägypten brauche „weniger Religion“. „Die Religion erstickt uns in diesem Land.“ Das ist nicht die einzige erstaunliche Aussage dieses freien Kopfes.

Bischof Thomas wurde 1957 in Kairo geboren, in einer der reichen koptischen Familien. Seine Großmutter war berühmt für ihre Mildtätigkeit. Im Haus der Familie richtete sie eine Suppenküche für die Armen ein. Jeden Tag wurden die Armen an einem besonderen Hintereingang gespeist. Als Thomas 9 Jahre alt war, kam er in Konflikt mit der Großmutter. Er wollte die Armen ins Haus lassen, um sie dort zu speisen. Als die Großmutter insistierte, dass sie nur in der Suppenküche essen durften, begann der Junge, demonstrativ und aus Protest mit den Armen zu essen. Dort traf er einen Mann, der über der traditionellen Jallabia ein teures, aber schmutziges Jackett trug. Er roch schlecht und war sehr schüchtern, er hatte einen weißen Bart. Der Junge kam mit dem Mann, der Gawardy hieß, ins Gespräch. Es stellte sich heraus, dass Gawardy ein sehr belesener Mann war. Er trug immer ein Buch unter seinem Jackett mit sich herum. „Du mußt mehr lernen“, sagt er dem Jungen. Der Junge drängte seine Familie, den weisen Mann zu treffen. Doch die Großmutter insistierte: „Wir geben ihm, was er braucht, aber er kommt mir nicht ins Haus.“ Gawardy führte den jungen Thomas zu den Antiquaren in der Nähe der Kairoer Oper und zeigte ihm die Welt der Bücher. Von seinem Taschengeld konnte er sich hier eine ganze Bibliothek zusammenkaufen. „Gawardy, dieser stinkende arme Schlucker, hat mir ein ganzes Universum erschlossen.“

Anba Thomas, Bischof der Koptischen Kirche in Oberägypten    Foto: J.Lau


Eines Tages kam Gawardy nicht mehr zur Armenspeisung. Eine Woche suchte der Junge nach ihm, zunehmend verzweifelt, bis er in einer Kirchengemeinde einen Priester fand, der sich einen Mann in Jellabia und Jackett erinnerte: „Er ist tot, wir haben ihn vor zwei Tagen beerdigt. Keiner hat nach ihm gefragt. Er hatte wohl niemanden.“
Bis heute, sagt Bischof Thomas, der damals 11 war, „suche ich nach Gawardy.“ Mit seiner Großmutter hat er sich eines Tages versöhnt, „nicht aber mit der ungerechten ägytpischen Gesellschaft“. Er ist Bischof geworden, um – bildlich gesprochen – die Gawardys ins Haus zu bringen.
Er hat als Bischof ein eigenes Haus geschaffen, um dies zu tun. Es heißt „Anafora“ und liegt 120 Kilometer nördlich von Kairo auf dem Weg nach Alexandria. Eigentlich ist es eine Farm, ein Konferenzzentrum, ein Hotel und ein Kloster zugleich.
Er wollte ursprünglich nicht in der Öffentlichkeit wirken. Das Mönchsleben  war seine Sehnsucht, als er in die Kirche eintrat. Der Papst aber schickte ihn als jungen Priester zur Mission nach Kenia. Immer wieder schickte er Bittbriefe an das Patriarchat, er wolle in sein Kloster zurückkehren. Dann, 1988, kam die Order, sofort nach Kairo zurückzukehren. Statt der erhofften Rückkehr ins Kloster eröffnete der Papst ihm seine Absicht, ihn zum Bischof zu weihen.

Für den erst 31jährigen Thomas war das ein Schock, denn der weg zurück ins Mönchsleben war damit verschlossen. Er wurde nach Oberägypten geschickt, wo die meisten Kopten als arme, ungebildete und unterdrückte Landbevölkerung leben: „Als Bischof wollte ich die stützende Hand sein, die die Menschen aufrichtet, nicht die hand, die von oben herab herrscht.“ In Oberägypten habe er schnell gelernt, dass die Menschen nicht nur Nahrung und Kleidung brauchen, sondern vor allem Bildung. Er begann mit der Gründung von Schulen und Kindergärten.

Nach einer Weile wurde ihm deutlich, dass man den Menschen eine Chance geben musste, aus ihrem Umfeld zu entkommen, damit sie sie sich nachhaltig verändern konnten. So kaufte er mit Spendengeldern das Land – ein Stück Wüste an der Autobahn nach Alexandria-, wo dann nach und nach „Anafora“ entstand. In Oliven- und Palmenhainen, Mango- und Kartoffelfeldern lernen die Schüler aus Oberägypten moderne landwirtschaftliche Methoden. In der Küche und im Gastbereich können sie Fähigkeiten für den Broterwerb jenseits der Landwirtschaft erlernen. Ebenso wichtig wie diese Fähigkeiten ist aber die Erfahrung einer würdigen Behandlung. Die „Gawardys“ treffen hier auf reiche Leute, die nach Anafora kommen um sich zu erholen.

Bischof Thomas in seinem Zentrum „Anafora“      Foto: J. Lau

 

Der Bischof lehrt sie, zu den Reichen nicht aufzuschauen, sondern sich als gleichwertige Menschen zu benehmen. „Wir lehren übrigens auch die Frauen hier, dass sie den Männern gleichgestellt sind.“ Wenn sie mit dieser Einstellung zurück auf die Dörfer gehen, wo sie weder ihren Vätern noch ihren Brüdern widersprechen dürfen, finden sie dort Mentoren vor, die ihnen helfen, sich nicht wieder einschüchtern zu lassen.

Die ägyptische Gesellschaft, sagt der Bischof, brauche drei Transformationen: von der Hierarchie zur Gemeinschaft, von der Geschlechterunterdrückung zur Gleichheit, von der religiösen Rigidität zur offenen Spiritualität. „Es ist vielleicht ungewöhnlich, wenn ich das als Bischof sage, aber ich wünsche mir weniger öffentliche Religion in unserem Land. Alles wird hier zur religiösen Angelegenheit, selbst die Luft die wir atmen und das Wasser das wir trinken. Auch das Geld ist zur religiösen Sache geworden. Die Religion legt sich über alles, so dass das Land darunter erstickt. Ich bin ein Bischof, aber ich lehne es ab, alles in religöse Schubalden einzusortieren.“
Bischof Thomas war anfangs begeistert von der Revolution. Er hat das Regime Mubaraks immer verachtet und auch offen kritisiert. Er hatte die Hoffnung, dass Ägypten sich mit der Revolte der jungen Leute wieder zur Welt öffnet, dass „Ägypten wieder kosmopolitisch wird, wie es Alexandria zu seinen besten Zeiten einmal war. Und das ist auch immer noch möglich.“ Die Menschen, sagt er, haben einen Moment der Freheit erlebt, ihre Stimme zählte plötzlich, die Verjagung Mubaraks war ein Augenblick der Würde. Die an der Revolte beteiligten Christen kamen den liberalen Muslimen sehr nah während dieser Zeit.

Um so größer war der Schock darüber, dass die konservativen islamistischen Gruppen wie die Muslimbrüder und die Salafisten die Macht übernehmen konnten. Nun macht die Angst die Runde, dass die immer schon vorhandene versteckte Diskriminierung zu einer offenen Unterdrückung wird. Angst ist schlecht für die Demokratie, meint der Bischof, weil „die Hälfte der Demokratie daraus besteht, aus freien Stücken nein sagen zu können.“

Zweifellos werde das Land nun weiter islamisiert werden, und die Kopten gerieten dadurch in eine generelle Atmosphäre des Drucks. Für die Opfer der Anschläge von Nag Hammadi, Alexandria und Maspero hat es bis heute keine Anerkennung und keine Gerehtigkeit gegeben. Das nährt vor allem bei gut ausgebildeten und vernetzten Eliten das Gefühl der Hoffnungslosigkeit und den Wunsch nach Auswanderung. „Unsere Elite verläßt das Land, wie sehr ich auch dagegen rede und dage, sie sollen hier bleiben und kämpfen.“ Die Revoluion war ein Vorgeschmack der Freiheit, aber die Demokratie muss noch errungen werden. „Demokratie ist nicht einfach die Herrschaft der Mehrheit. Eine Mehrheit, die der Minderheit keinen Raum lässt, sich frei zu entfalten, ist nicht demokratisch. Demokratie funktioniert nur, wenn jeder Mensch die Verantwortung akzeptiert, den anderen diesen Raum offen zu halten, den sie brauchen.“
Die Zukunft der Kopten sieht der Bischof nicht in Minderheitenrechten: „Wir müssen für allgemeine Rechte kämpfen. Ich bin zuerst Mensch und dann Kopte. Eine Minderheit kann nicht ohne die Mehrheit überleben. Manchem liberalen Moslem fühle ich mich näher als einem verbohrten Christen. Wir müssen mit den liberalen Gruppen zusammenarbeiten, um für einen säkularen Staat zu kämpfen, der Religionsfreiheit für alle garantiert – und das heißt auch Freiheit von der Religion für diejenigen, die nichts damit zu tun haben wollen. Es ist mir ein Ärgernis, dass in meinem ägyptischen Pass steht, dass ich Christ bin. Das hat dort nichts zu suchen. Wir wollen keinen religiösen Staat, nicht einmal einen christlichen. Alle religiösen Staaten der Geschichte sind gescheitert. Wenn es in die andere Richtung geht, und die Scharia mehr Einfluss auf die Gesetze bekommt, wird das zu noch mehr Segregation und weniger Gemeinsamkeit in Ägypten führen. Die fortschreitende Islamisierung und Arabisierung unserer Gesellschaft ist gefährlich. Ägypten muss eine säkulare Gesellschaft werden, weil das allen Bürgern erlaubt, zu wachsen und sich zu entwickeln, wenn sie wollen, auch spirituell.“
Im Jahr 2009 hatte der Bischof diese Vorstellungen in einem Vortrag in den USA bereits geäußert. Danach erschienen Dutzende Artikel, in denen er zum Verräter erklärt wurde. Man drohte ihm seine Staatsangehörigkeit zu entziehen, und er erhielt auch Todesdrohungen. Er ist aber immer noch da und nimmt kein Wort zurück. Er glaubt, dass für Ägyptens Christen harte Zeiten kommen, weil die Islamisten nun am Drücker sind. Aber den Moment der Freiheit und das Erlebnis der Würde kann man den Leuten nicht mehr nehmen: „Ich warte auf die zweite Phase der Revolution, in der die Menschen wirklich Besitz von ihrem eigenen Land ergreifen.“

 

 

Ägyptens Revolution: It’s All Over Now, Baby

Die Fragen aus meinem Post der letzten Woche über die Lage in Ägypten scheinen vorerst beantwortet: „Wieviel Freiraum wird das Militär dieser Entwicklung gewähren? Wird sich Ägypten mehr in Richtung der Türkei oder mehr in Richtung Pakistan entwickeln?“
Erstens: Keinen Freiraum. Zweitens: Eine Kombination von beiden: Die Auflösung des Parlaments und die folgende Verkündigung über die beschränkten Kompetenzen des kommenden Präsidenten lassen erkennen, dass das ägyptische Militär die Technik des „Soft Coups“ türkischer Provenienz beherrscht, um wie das pakistanische Militär („Military Inc.“) seine massiven (auch wirtschaftlichen) Interessen abzusichern. Klar ist jedenfalls, dass die Generäle beabsichtigen, das Land nicht zu demokratisieren.

Militärs halten seit vielen Jahrhunderten die Macht in den Händen am Nil – mal unter fremder Oberherrschaft, mal als Autokraten – warum sollten sie jetzt freiwillig die Macht abgeben?

Die ägyptische Revolution scheint vorerst abgebrochen. Ob sie auch schon gescheitert ist, weiß man noch nicht. Aber etwas ist zuende gegangen.

Als ich hier zuerst vor 5 Jahren über den ägyptischen Blogger Sandmonkey schrieb, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass er heute, im Sommer 2012, auf eine Revolution zurückblicken würde, die zwar den Diktator Mubarak hinweggefegt hatte, am Regime aber nichts grundsätzlich hat ändern können. Unvorstellbar schien so etwas damals. 2009 besuchte ich mit einer kleinen Delegation des damaligen Innenministers Schäuble Ägypten. Das einzige interessante politische Thema damals war, ob Omar Suleiman Mubarak nachfolgen würde – oder doch Gamal Mubarak, und ob sich damit also auch in Ägypten eine  Diktatorendynastie bilden würde, wie man sie aus Syrien kannte (und wie man sie bald, so vermutete man, in Libyen erleben würde). Die Ägypter, mit denen wir sprachen, schauderten bei der Vorstellung: „Wir sind nicht Syrien!“ Das war für die stolzen Ägypter extrem wichtig: Nicht ein Land zu sein, in dem die Menschen sich vor angemaßter Legitimität einer Fake-Dynastie beugen. Es ist eine Sache – und schlimm genug –, von Generälen oder Ex-Generälen regiert zu werden, und eine andere: von deren Söhnen. Vielleicht ist es das, was von der Revolution bleibt?

Sandmonkey, dessen wahren Namen Mahmoud Salem wir seit der Revolution kennen (immerhin, es gibt weniger Angst in der Gegenöffentlichkeit!), hat nun in einem bewegenden Blogpost das erste Kapitel der Revolution für beendet erklärt.

We went into the revolution with the same thinking that people like me had back in 2005: we must remove Mubarak, stop his son from inheriting us, and get democratic elections. All of us had those goals and not a single vision on what to do afterwards, because the removal of Mubarak was such a pipedream. So, you successfully dethrone a tyrant, and you have neither plan nor vision on what to do afterwards, and no real understanding of the regime itself, then, quite naturally, you fall flat on your face, and we have been doing that for the past 18 months.

Sandmonkey schreibt in seinem Post auch, dass er einen ungültigen Wahlzettel abgegeben hat. Unter den Revolutionären, auch bis in säkular-liberale Zirkel hinein, hatte es vor der Wahl eine Debatte gegeben, ob man dem Muslimbruder Mursi nicht doch den Vorzug vor Achmed Schafik geben müsse, dem letzten Premierminister Mubaraks, und damit einem Kandidaten des Alten Regimes. Sandmonkey weigert sich, sich eine solche Alternative aufzwingen zu lassen.

I invalidated my vote, mainly because I refuse to succumb to fear-politics and thinking that they both suck as candidates. That being said, I have been under continuous attack from many of the revolutionaries for not supporting Morsy. Well, my dear friends, I am sorry that you are a bunch of cowards that let your fear control your political choices. I am not that kind of man. If I attacked Morsy, it’s because I don’t want him being dubbed the revolution’s candidate, because he simply isn’t, and will never be in my eyes. Our revolution called for a civil state: nonreligious, non-military, and this guy will try to form a religious military state. The people who supported Morsy, believing that the MB will change or be democratic, are really 3 groups: 1) People pissing in their pants out of fear, 2) People who made deals with the Brotherhood (…), and 3) people who are stupid enough to believe that the MB will change or not betray them the first chance they got.

Bemerkenswert ist nicht zum ersten Mal die Selbstkritik des Revolutionärs Mahmoud Salem. Er weist seine Freunde darauf hin, dass die „revolutionäre Legitimität“ aufgebraucht ist. Die Menschen wollen Ergebnisse sehen:

If you are a revolutionary, show us your capabilities. Start something. Join a party. Build an institution. Solve a real problem. Do something except running around from demonstration to march to sit-in.

Interessanter Weise ist Sandmonkey „weder deprimiert noch demotiviert“, und er zählt die Errungenschaften des letzten Jahres auf:

      • Hosny Mubarak, his son and his VP are not ruling us.
      • The NDP is broken into many different pieces
      • The next President is chosen through fair, competitive and democratic elections, not matter what the outcome.
      • Freedom of Expression, press and speech.
      • The weakening of the MB, the salafis, the end of using religious speech for political gains (Notice how Morsy didn’t say a single Sharia thing in the past 2 weeks)
      • Serious understanding to the nature of the state we live in and the roots of its problems, which we never really knew before.
      • Interlinking between individuals all over the governorates that would’ve never taken place otherwise.
      • Serious weakening of classism in a classist society
      • Incredible amount of art, music and culture that was unleashed all over the country
      • Entire generations in schools and universities that have become politicized, aware and active.
      • A serious evaluation of our intelligentsia and why they suck.
      • Discovering the difference between symbols and leaders, and our need for the latter than the former.

 

Sandmonkey hat sich seinen sarkastischen Humor bewahrt. In einem seiner Tweets von gestern schreibt er, diejenigen, die sich über die neiden Kandidaten beunruhigt haben – der Islamist gegen den Büttel der Militärs – könnten sich abregen, denn die Militärs hätten dafür gesorgt, dass jeder neue Präsident nicht mehr als ein Grüßonkel sein werde.

 

Ägyptens gestohlene Revolution

Issandr El Emrani von „The Arabist“ kommentiert dieses Video so:

I can hardly think of a more effective way to convey Egyptian revolutionaries‘ feeling towards political parties, the military and the whole idea that they were robbed of a revolution than the above video.

The split that has developed between those who espouse this worldview and the rest of the country is a little worrying, because it can turn into a lasting bitterness and misanthropy. What is needed down is to turn this frustration into effective new ways of organizing, lobbying, and campaigning.

 

Die Transformation des Konservatismus – in Amerika, Iran und Ägypten

So viele gute Sachen gelesen in den letzten Tagen! Und so wenig Zeit, sie hier ausführlich zu würdigen.

Darum in aller Kürze und vollkommen chaotisch durcheinander ein paar Lesefrüchte.

Mark Lilla schreibt in der New York Review einen großen Rezensionsessay, in dem er erklärt, wie der Konservatismus in Amerika apokalyptisch wurde (in einem Maß, wie es vorher eigentlich nur die Linke drauf hattte). Das scheint mir essentiell zum Verständnis des Verrückten, ja Durchgeknallten im Überbietungswettbewerb der republikanischen Bewerber um die Nominierung zu sein.

Lilla hat selber Wurzeln im frühen Neokonservatismus der Reagan-Jahre, hat sich aber im letzten Jahrzehnt zunehmend kritisch zu den Neocons verhalten, die Bush Jr. stützten. Auch hier war für Lilla zu beobachten, wie die Rechte (mit ihrem Interventionismus, gestützt auf das Gefühl, die Welt neu machen zu können, zur Not mit Waffengewalt) die Fehler der radikalen Linken wiederholt:

The real news on the American right is the mainstreaming of political apocalypticism. This has been brewing among intellectuals since the Nineties, but in the past four years, thanks to the right-wing media establishment and economic collapse, it has reached a wider public and transformed the Republican Party. How that happened would be a long story to tell, and central to it would be the remarkable transmutation of neoconservatism from intellectual movement to rabble-rousing Republican court ideology. The first neoconservatives were disappointed liberals like Irving Kristol and Nathan Glazer, who saw the failures of a large number of Great Society programs to deliver on the unrealistic expectations of its architects, and consequently began to appreciate the wisdom of certain conservative assumptions about human nature and politics. Kristol’s famous quip that neoconservatives were liberals who’d been mugged by reality captured the original temperament.

Sometime in the Eighties, though, neoconservative thinking took on a darker hue. The big question was no longer how to adapt liberal aspirations to the limits of politics, but how to undo the cultural revolution of the Sixties that, in their eyes, had destabilized the family, popularized drug use, made pornography widely available, and encouraged public incivility.

(…)

This is the voice of high-brow reaction, and it was present on the right a good decade before Glenn Beck and his fellow prophets of populist doom began ringing alarm bells about educated elites in media, government, and the universities leading a velvet socialist revolution that only “ordinary Americans” could forestall. Apocalypticism trickled down, not up, and is now what binds Republican Party elites to their hard-core base. They all agree that the country must be “taken back” from the usurpers by any means necessary, and are willing to support any candidate, no matter how unworldly or unqualified or fanatical, who shares their picture of the crisis of our time. (…)

All this is new—and it has little to do with the principles of conservatism, or with the aristocratic prejudice that “some are fit, and thus ought, to rule others,” which Corey Robin sees at the root of everything on the right. No, there is something darker and dystopic at work here. People who know what kind of new world they want to create through revolution are trouble enough; those who only know what they want to destroy are a curse. When I read the new reactionaries or hear them speak I’m reminded of Leo Naphta, the consumptive furloughed Jesuit in Thomas Mann’s The Magic Mountain, who prowls the corridors of a Swiss sanatorium, raging against the modern Enlightenment and looking for disciples. What infuriates Naphta is that history cannot be reversed, so he dreams of revenge against it. He speaks of a coming apocalypse, a period of cruelty and cleansing, after which man’s original ignorance will return and new forms of authority will be established. Mann did not model Naphta on Edmund Burke or Chateaubriand or Bismarck or any other figure on the traditional European right. He modeled him on George Lukács, the Hungarian Communist philosopher and onetime commissar who loathed liberals and conservatives alike. A man for our time.

Ein exzellenter Aufsatz des Iran-Experten der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Walter Posch, analysiert den machtvollen Block der iranischen Rechten, die sich selbst „Prinzipalisten“ nennen, ein Zusammenschluss von „Konservativen“ und „Hezbollahis“, der ursprünlich auch Achmadinedschad unterstützt hatte.

Wie es zum Zerwürfnis zwischen Prinzipalisten und dem Regierungschef kam, und was das alles für die anstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen bedeutet, beschreibt Posch ausführlich.

Er ist der Ansicht, dass die „Grüne Bewegung“ erfolgreich neutralisiert wurde und weiterhin allenfalls im Exil Chancen hat, als Herausforderung weiterzubestehen. Es scheint zu gelingen, so Posch, dass die innersystemischen Reformkräfte von der Grünen Bewegung geschieden bleiben und in geschwächter Form ins System reintegriert werden. Eine Übertragung der Impulse des arabischen Frühlings auf den Iran hält er für unwahrscheinlich. Was die nun anstehenden harschen Sanktionen gegen den Iran für die von Posch beschriebene Balance des Machtsystems bedeuten, ist eine interessante Frage, über die wir bald mehr wissen werden.

Schließlich:

Sebnem Gumuscu erklärt im libanesischen Daily Star, warum es kein „türkisches Modell“ für Ägypten gibt. Von wohlwollenden Beobachtern aus dem Ausland wie aus den eher reformbereiten Reihen der ägyptischen Islamisten ist diese Vorstellung immer wieder verbreitet worden.

 

In some policy quarters, Turkey has even been presented as an overall model for the Arab world – a characterization which derives largely from its seemingly unique ability to couple secular democracy with a predominantly Muslim society. But those who talk of “the Turkish model” misunderstand that country’s transformation. The coexistence between Islam and democracy has come to pass in Turkey not from the AKP’s development of institutional and political structures that accommodated both Islamic and democratic principles, but rather because Islamists themselves came to accept the secular-democratic framework of the Turkish state. (…) Economic liberalization created an organized class of powerful and devout businessmen from the provincial bourgeoisie who advocated greater political pragmatism and stability in addition to closer relations with the European Union as a major trading partner. These moderate Islamists broke away and established the AKP in 2001. As a conservative party representing neoliberal interests, the AKP has worked to downsize the state, establish greater political and economic stability, and construct friendly relations with the outside world. The party has not only increased its support in secular businesses and the middle classes, but also rendered the idea of a powerful state – which commands the economy as well as the lives of Muslims through Islamic principles – an obsolete one.

In Ägypten nun gebe es keine solche führende neue Schicht von islamis(tis)chen Geschäftsleuten. Die Verbindung von Neoliberalismus und Islam, für die die AKP steht, ist in Ägypten nicht möglich, weil ihr schlicht das Publikum fehlt:

 

Conversely, Egypt’s neoliberalism mainly benefitted President Hosni Mubarak’s cronies and failed to trickle down to smaller enterprises. There is no strong business constituency within the Egyptian Islamist movement to insist on neoliberal reforms, a smaller state, or political pragmatism. The movement is dominated instead by professionals (doctors, engineers, teachers and lawyers) who prefer a strong and expansive state as a source of employment, social security and public goods.

While the Freedom and Justice Party (FJP) established by the Muslim Brotherhood supports private enterprise, such support should not be mistaken for support for neoliberalism. A closer look at FJP’s platform reveals that it reserves a substantial role for the state in production, planning, price regulation, social security and job generation. (…)

Unlike its Turkish counterpart, the Muslim Brotherhood is first and foremost a religious society; economic, political and cultural objectives are secondary to religious proselytism. The FJP relies on the existing rank and file of the Brotherhood for support in elections, and though the members of the Brotherhood fulfill the function of party organizers, they are recruited primarily in the name of Daawa, or the invitation to Islam. From there, they are organized according to a strict hierarchy and mobilized in the name of Islam rather than in terms of political or economic interests.

This structure of the party reinforces religious priorities, undermines internal accountability, and casts a shadow of Muslim Brotherhood control over the FJP. (…)

In short, there is no “Turkish model” for an Islamist democracy; rather, there are Muslims in a secular-democratic state working within a neoliberal framework. Structural and institutional factors in Turkey are historically unique and it is highly unlikely that we will see a similar process unfold in Egypt. Under Islamist leadership, Egypt will seek another framework – one that will require the Islamist movement to separate its political and religious functions and allow for the political party to represent the aggregated interests of a voting demographic.

Because of this, the task of Islamists in Egypt will be more difficult than that of their Turkish counterparts. They must shed deeply ingrained habits of hierarchy and proselytism to build a democratic system with unique institutions.

Merkwürdig, erst dachte ich, diese Lesefrüchte hätten nichts miteinander zu tun. Nun, da ich sie aufgeschrieben habe, stelle ich fest, dass es in allen drei Fällen um die politische Transformation des Konservatismus geht – in Amerika, im Iran und in Ägypten (sowie in der Türkei).

Vielleicht sollte man daraus ein kontinuierliches Thema machen?

 

Emanzipation und Islamismus in Ägypten

Ein Artikel der New York Times über die beklagenswerte Lage der Frauen – auch nach der Revolution – in Ägypten bringt eine notwendige Differenzierung. Der Sieg der Muslimbrüder und der Salafisten ist ohne Zweifel kein Hoffnungszeichen. Es gibt praktisch keine Frauen in den führenden Rängen der MB, und die Salafisten lehnen die öffentliche politische Betätigung von Frauen direkt ab. Beide Parteien sind reaktionär, was das Rollenverständnis der Geschlechter angeht.

Aber: Die schlimmsten Akte sexueller Gewalt wurden von seiten der Sicherheitskräfte des alten Regimes verübt. Man denke nur an die Frau mit dem blauen BH und an die „Jungfräulichkeitsstests“ während der Proteste, die letztlich nichts anderes waren als politsch motivierte Vergewaltigung.

Die junge Frau, Samira Ibrahim, die nun vor Gericht das Verbot solcher „Tests“ durchsetzen konnte, ist die Tochter eines islamistischen Aktivisten, der unter Mubarak selber gefoltert worden war. Die ägyptischen Medien haben nichts für sie getan. Auch nicht die liberalen Aktivisten, die sich für Frauenrechte kaum interessieren. Ibrahims Vater aber hat seine Tochter ermutigt, es auf den Prozeß ankommen zu lassen. Viele säkular-liberale Väter hätten dies nicht getan, um „die Schande“ nicht noch an die große Glocke zu hängen.

Das Elend der patriarchalen Verhältnisse wird in Ägypten zwar durch den Islam gestützt, aber es geht weit über diesen hinaus. Auch unter den säkular-liberalen Kräften findet sich kaum jemand, der die unfasslich hohe Zahl von Genitalverstümmelungen in Ägypten (96%!) anprangert.

Und manchmal kann es durchaus sein, dass ein Schritt der Emanzipation innerhalb des islamistischen Spektrums geschieht, wie im Fall der mutigen Samira Ibrahim geschehen.

 

Islamistischer Kulturkampf in Ägypten?

Die Tatsache, dass das islamistische Lager bei den Wahlen in Ägypten einen Zweidrittelsieg davonzutragen scheint, ist für alle Beobachter (innen wie außen) frappierend. Mit einem so eindeutigen Ergebnis hatte kaum jemand gerechnet. Die Muslimbrüder würden sehr gut abschneiden, das war klar. Aber dass die Salafisten auch derartig abräumen würden, hatten die wenigsten auf der Rechnung.

Nun sind zwei wichtige Fragen zu klären: Gibt es ein islamistisches „Lager“ – und ist das Ergebnis tasächlich so eindeutig? Mit anderen Worten: Um welche Art von Mandat des Wählers handelt es sich? Beziehungsweise: Wie werden die siegreichen Parteien es auslegen?

Die Muslimbruderschaft steht vor einer Wahl, die sie sich so wohl auch nicht vorgestellt hatte. Man war darauf eingestellt, nun endlich den Lohn für Jahrzehnte der Untergrundarbeit einzuheimsen und den Sieg über die verhassten Säkularen einzufahren. Das ist zwar einerseits gelungen, aber die Freude ist getrübt durch das erfolgreiche Abschneiden der Salafisten, die die MB gesellschaftspolitisch locker in allen Belangen rechts überholen. Die MB wird also überhaupt keine Zeit haben, sich als konservativer Anker der islamischen ägyptischen Gesellschaft zu profilieren. Sie wird sich von Anfang an als Partei der Mitte profilieren müssen – analog zu den konservativen christlichen Parteien Europas.

Oder: Sie macht gemeinsame Sache mit den Salafisten und rückt entschieden nach extrem rechts. Das würde aber möglicherweise ihre Stellung als Partei der konservativen Aufsteiger gefährden (der Ärzte, Ingenieure und Studenten), die schon aus eigenem wirtschaftlichem Interesse keine Isolation Ägyptens im Zeichen der langen Bärte und Pumphosen wünschen.

Wie sich die MB entscheidet (und ob sie das tut), wird die eigentliche Zukunftsfrage Ägyptens werden. Das gute Abschneiden der Extremisten zu ihrer Rechten ist für die Muslimbrüder jedenfalls eine hoch ambivalente Angelegenheit. Einerseits bestätigt es das eigene Weltbild von Ägypten als einem zutiefst islamisch geprägten Land. Andererseits zwingt es die MB zur Präzisierung ihrer politischen Vorstellungen im Kontrast zum Salafismus – und nicht zu denen der säkularen Kräfte, wie man es gewohnt war. Das kann unangenehm werden, denn nichts scheut man unter islamistischen Brüdern so sehr wie eine offene Debatte über den rechten Weg.

Einen Vorgeschmack kommender Kulturkämpfe im islamistischen Lager liefern die Vorgänge um die selbst ernannte religiöse Sittenpolizei junger Salafisten. Diese Komitees, die sich an den saudischen Moralwächtern orientieren, haben begonnen, Inhaber von Geschäften zu terrorisieren. Natürlich geht es gegen den Verkauf von Alkohol, gegen Glücksspiel und dergleichen. Aber auch Schönheitssalons sind schon ins Visier der Bärtigen geraten. In der Stadt Benha im Nildelta ist eine Truppe von Sittenwächtern von den Frauen verprügelt worden, wie Bikyamasr berichtet:

„when they burst into a beauty salon in the Nile delta town of Benha this week and ordered the women inside to stop what they were doing or face physical punishment, the women struck back, whipping them with their own canes before kicking them out to the street in front of an astonished crowd of onlookers. (…)

In addition to invading shops, the ‚morality police‘ also smashed Christmas trees and decorations in front of stores and malls, declaring the celebration of Christmas ‚haram‘ or forbidden. Salafi sheiks have also banned the sending of Christmas greetings, prompting the more moderate Muslim Brotherhood to broadcast messages of Christmas cheer to their Christian brethren.“

Eine interessante Situation ergibt sich daraus auch für die Al-Azhar-Universität, die vom ägyptischen Staat kooptierte und kontrollierte, viel zitierte „höchste sunnitische Autorität“. Genau wie die MB muss sie nun eine Haltung zu den Salafisten finden, die sich anschicken, den reinen Islam nach ihrem Verständnis mit Straßenterror und Einschüchterung per Bambusrute durchzusetzen.

„Sunni sheiks from Cairo’s respected Al Azhar mosque and university called an emergency meeting January 4 to discuss the problem, and declared that the Salafi morality police had no legitimate or legal authority on the street, according to Ahramonline.

Two days later, Egyptian former mufti Nasr Farid who was once responsible for issuing religious edicts or fatwas based on Sharia law agreed, stating that the young vigilantes were usurping state authority and did not have the jurisdiction to impose their concept of religious law.

In response, the group pointed to the al Nour party’s recent election triumph in which they won nearly 30 percent of parliament seats, as giving them a mandate to enforce Sharia law. They claimed they not only had the backing of members of Al Nour’s leadership council, but that al Nour leadership had in fact provided the funding to mobilize young volunteers.

The Al Nour party’s Facebook page however denied financing the group.

In a desperate effort to gain control of their public message, Al Nour party officials have tried to control the actions of their followers and silence individual Salafi sheiks, like Abdel Moneim el Shahat in conservative Alexandria, who has suggested covering the “obscene” figures on Egypt’s ancient monuments with wax.

The young members of the morality police held their first meeting this week, according to a report in the Al Masry Al Youm newspaper, ‚to determine the tasks and geographical jurisdictions of the first volunteers, who would monitor people’s behavior in the street and assess whether they contradicted God’s laws. Volunteers would wear white cloaks and hold bamboo canes to beat violators and later would be provided with electric tasers‘.“

Wie auch immer der Machtkampf im islamischen Lager ausgeht, eines scheint fest zu stehen: Für Ägyptens Frauen, für religiöse Minderheiten und säkular gesinnte Bürger kommen harte Zeiten.

 

Warum die Salafisten in Ägypten triumphieren

Während Tunesien kaum ein Jahr nach dem Beginn der Revolte mit Moncef Marzouki  einen ehemaligen Dissidenten, einen säkularen Menschenrechtler als Präsidenten hat, macht Ägypten weiter Sorgen. Mir gefällt Marzoukis Wahlspruch auf seiner Website: „Il est idiot de vouloir changer le monde, mail il est criminel de ne pas l’essayer.“ Hoffen wir, dass er nicht der neue Bazargan wird. Aber bisher sieht es in Tunesien nicht so schlecht aus. Schwer vorstellbar, dass sich dort die ohnehin moderateren Islamisten der Ennahda von Rashid Ghannouchi zu selbstmörderischen Forderungen hinreißen lassen würden, man brauche nun getrennte Strände für Männer und Frauen, ein allgemeines Alkohol- und Bikiniverbot und dergleichen. Für den Tourismus, eine der Lebensadern Tunesiens, wäre das tödlich.

In Ägypten spielen einige der siegreichen Muslimbrüder und noch mehr die Salafisten öffentlich mit solchen Gedanken. Der Rückgang des Tourismus um 35 Prozent im letzten Jahr wird sich fortsetzen, wenn die Verhüllten und die Bärtigen ans Ruder kommen sollten.

Auf dem sehr lesenswerten Blog The Arabist ist ein Bericht von AP dokumentiert, der die Lust von Teilen der MB und der Salafisten an der Kulturrevolution belegt:

 

Islamists are dominating Egypt’s elections and some of them have a new message for tourists: welcome, but no booze, bikinis or mixed bathing at beaches, please.

That vision of turning Egypt into a sin-free vacation spot could spell doom for a key pillar of the economy that has already been badly battered by this year’s political unrest.

„Tourists don’t need to drink alcohol when they come to Egypt; they have plenty at home,“ a veiled Muslim Brotherhood candidate, Azza al-Jarf, told a cheering crowd of supporters on Sunday across the street from the Pyramids.

„They came to see the ancient civilization, not to drink alcohol,“ she said, her voice booming through a set of loudspeakers at a campaign event dubbed „Let’s encourage tourism.“ The crowd chanted, „Tourism will be at its best under Freedom and Justice,“ the Brotherhood’s party and the most influential political group to emerge from the fall of Hosni Mubarak

(…)

Also, clerics like Yasser Bourhami, influential among hard-line Salafis, are presenting ideas for restrictions on tourism. Bourhami calls it „halal tourism,“ using the term for food that is ritually fit under Islamic law.

„A five-star hotel with no alcohol, a beach for women — sisters — separated from men in a bay where the two sides can enjoy a vacation for a week without sins,“ he said in an interview with private television network Dream TV. „The tourist doesn’t have to swim with a bikini and harm our youth.“

A leading member of Al-Nour, Tarek Shalaan, stumbled through a recent TV interview when asked about his views on the display of nude pharaonic statues like those depicting fertility gods.

„The antiquities that we have will be put under a different light to focus on historical events,“ he said, without explaining further.

He also failed to explain whether hotel reception clerks will have to start demanding marriage certificates from couples checking in together.

„Honestly, I don’t know the Shariah position, so I don’t want to give an answer,“ he said.

Nach dem ersten Schock über die Gewinne der MB, vor allem aber der Salafisten, hat die Suche nach den Gründen begonnen. Mir erscheint bisher ein Bericht von David Kirkpatrick in der NYT am überzeugendsten. Kirkpatrick beschreibt die Salafisten als erfolgreiche populistische Partei, die gezielt den Hass auf die liberale und säkularistische Elite schürt, die das Volk vergessen hat oder auf es herabschaut:

But when a few hundred men gathered last week in a narrow, trash-strewn lot between the low cinderblock buildings of this village near Cairo, what they heard from the sheiks, known as Salafis, was a blistering populist attack on the condescension of the liberal Egyptian elite that resonated against other Islamists as well.

“They think that it is them, and only them, who represent and speak for us,” Sheik Shaaban Darwish said through scratchy speakers. “They didn’t come to our streets, didn’t live in our villages, didn’t walk in our hamlets, didn’t wear our clothes, didn’t eat our bread, didn’t drink our polluted water, didn’t live in the sewage we live in and didn’t experience the life of misery and hardship of the people.”

“Brothers,” he continued, “we, the Salafis, the founders of Al Nour Party, were part of the silent majority.”

Die Muslimbrüder sind sehr viel mehr schon eine Mittelstandspartei geworden. Sie repräsentieren Ärzte, Ingenieure, Studenten, Geschäftsleute – lauter Menschen, die etwas zu verlieren oder zu gewinnen haben. Die Salafisten kümmern sich um die Vergessenen.

Kirkpatrick schreibt:

A closer examination of the Salafi campaigns, however, suggests their appeal may have as much to do with anger at the Egyptian elite as with a specific religious agenda. The Salafis are a loose coalition of sheiks, not an organized party with a coherent platform, and Salafi candidates all campaign to apply Islamic law as the Prophet Muhammad did, but they also differ considerably over what that means. Some seek within a few years to carry out punishments like cutting off the hands of thieves, while others say that step should wait for the day when they have redistributed the nation’s wealth so that no Egyptian lacks food or housing.

But alone among the major parties here, the Salafi candidates have embraced the powerful strain of populism that helped rally the public against the crony capitalism of the Mubarak era and seems at times to echo — like the phrase “silent majority” — right-wing movements in the United States and Europe.

“We are talking about the politics of resentment, and it is something that right-wing parties do everywhere,” said Shadi Hamid, director of research at the Brookings Doha Center in Qatar. They have thrived, he said, off the gap between most Egyptians and the elite — including the leadership of the Muslim Brotherhood — both in lifestyle and outlook.

Natan Field schreibt auf The Arabist, er sei nicht sehr überrascht gewesen über den Erfolg der Salafisten. Die populärsten TV-Kanäle seien bereits seit Jahren in den Händen der Salafi-Scheichs gewesen. Auch hätten sie nie die Politik gemieden, wie es die Legende vom salafistischen Quietismus will. Ihr Programm sei immer eminent politisch gewesen, nur nicht im den Termini der Mubarak-Herrschaft und des Widerstands gegen sie. Das macht sie jetzt gerade in der Zeit des Umbruchs so glaubwürdig. Field hält es für einen Fehler der Liberalen zu glauben, die Salafis seien eine fünfte Kolonne Saudi-Arabiens. Gewiß gebe es viele Spenden von dort (Zakat), aber der ägyptische Salafismus sei eine genuin einheimische Grassroots-Bewegung.

Wohin das alles führt, ist schwer zu sagen. Eien regierungsfähige Koalition mit diesen Leuten ist schwer vorstellbar. Sie würde das Land mit Sicherheit in den Abgrund führen, der sich jetzt schon auftut in Form einer drohenden wirtschaftlichen Katastrophe.

Jedenfalls scheint es, als würden die entscheidenden politischen Debatten über die Zukunft der arabischen Revolution zwischen verschiedenen Lagern des Islamismus ausgetragen (und nicht zwischen Säkularen und Religiösen). Hier ein Beispiel dafür, dass dieser Prozess schon begonnen hat. Der einflußreiche islamistische Intellektuelle Fahmi Howeidy schreibt sehr zugespitzt über einen salafistischen Kandidaten, der in Alexandria eine Stichwahl gegen einen Muslimbruder verloren hat, nachdem er zuerst haushoch in Führung gelegen hatte (Übersetzung auf Arabist.net):

 

I do not know Eng. al-Shahat personally, but whenever I heard him or followed him speaking in the media, I felt like he was launching a personal insult at me in my capacity as a researcher concerned with Islamic issues. When I learned of the final tally in the second round of elections in the al-Nuzha electoral district in Alexandria, I said that voters’ aversion to him was a sort of punishment vote against him for the statements he keeps spewing, especially as of late.  This is a story that deserves to be told.

In the first round of the election, Eng. al-Shahat captured about 191,675 votes, while his opponent, the independent lawyer Hosny Duwiedar — who received support from the Muslim Brotherhood — won 144,296 votes. He was known as an extremist ever since his days as a university student. We discovered him when he started appearing on satellite channels, and some newspapers vied with each other to shed light on him due to his perverse views that were considered rich game for those who like to hunt and provoke.

This was most evident when the host of a populist TV show invited him on and barraged him with questions that all focused on his views on people’s private lives, states of dress and undress, the hijab and the niqab, bathing suits, cabarets, alcohol, gambling, entertainment, etc. Our friend responded to all these questions in the negative, to the extent that it seemed like he wanted to overturn everything in society without any gradualism, moderation or compassion. The show’s host did not ask him about anything that concerns the masses like unemployment, education, health or development, but rather confined him to the problems of the elite and the interests of the upper class — which are the interests that most of the media still focuses on at the present time. The man subsequently attacked democracy and declared it to be bid’a, and he went back to talking about growing out beards, closing down banks, and banning bathing suits. We didn’t hear a word from him about what he could accomplish to benefit God’s creation. It was as if he didn’t want to leave the realm of bans and prohibitions, and give people hope in permissible and recommended acts (those which are encouraged or desirable).

Man kann nur hoffen, dass diese Debatten sich fortsetzen. Am Ende wird es nicht die schockierte Reaktion der Weltöffentlichkeit sein, die Ägyptens Islamisten auf einen mittleren Weg führt, wenn denn so etwas denkbar ist. Nur Kritik und Entzauberung von innen her können das leisten.

 

 

Ein islamistisches Ägypten?

Vor 6 Wochen hatte ich hier die These vertreten, dass die arabische Demokratie notwendiger Weise islam(ist)isch wird. Jetzt sehe ich mich vorläufig bestätigt durch das sich abzeichnende Ergebnis der ägyptischen Wahlen.

Etwas mehr bestätigt, als es mir lieb ist, offen gesagt. Nicht nur die sich abzeichnenden 40 Prozent für die Muslimbrüder, vor allem das voraussichtlich gute Abschneiden der Salafisten spricht dafür, dass die Islamisten jetzt in den arabischen Ländern einfach mal dran sind. Sie werden schon allein deshalb gewählt, weil sie die glaubwürdigsten Anti-System-Parteien sind, (noch) unkorrupt (weil sie keinen Zugang zu den Ressourcen hatten), umstrahlt vom Glorienkranz des Märtyrertums in den Zeiten der Diktatur.

Die interessante Frage ist, was passiert, wenn sie nun reale Politik machen sollen. „Der Islam ist die Lösung“ zu rufen ist ja nicht gerade abendfüllend. Und auch das bewährte Gefuchtel mit identitätsstiftenden Leib- und Magenthemen von der Scharia bis zu Israel macht niemanden satt und schafft keinen Job. Was nicht heißt, dass man mit dergleichen keine Chancen auf Mehrheiten hat. Denkbar ist, dass nun gerade die Identitätsthemen in den Vordergrund drängen, dass es ein großes islamistisches Aufwallen gibt – nun, da man endlich am Drücker ist. Für Frauen, für religiöse Minderheiten, für säkular und liberal gesinnte Menschen könnten harte Zeiten anbrechen.

Ed Husain, dessen Buch über seine eigenen Erfahrungen in der islamistischen Szene (Hizb-ut Tahrir, MB) ein Klassiker ist (The Islamist), beobachtet Ägypten mit zunehmender Sorge. Er hat jetzt in einer sehr interessanten Kolumne für die Herald Tribune von seinen Gesprächen mit Muslimbrüdern in Ägypten berichtet:

In coming months, not only in Egypt but in other countries across the region, the war of ideas between liberal secularists and Islamists will rage about their visions for how to succeed the fallen, secular dictatorships. But what does an Islamic state look like? What does it mean in real terms for countries such as Egypt, Libya or Tunisia?

I went to Egypt after the revolution to put these questions to leaders of the Muslim Brotherhood. Many had served prison sentences for their cause. I spoke with old-school hard-liners within the Brotherhood, such as the 83-year-old former leader, Mehdi Akef. I also spoke with the renowned liberal Abdel Moneim Abou el-Fotouh (now an independent presidential candidate in Egypt). I met with younger members of the Brotherhood, and its parliamentarians, such as Mohammad El-Beltagy.

I asked each of them, “What is an Islamic state?” The answers differed widely. For Akef, it was about Shariah becoming state law; for Abou el-Fotouh it was vaguely about social justice; for Beltagy it was responding to the needs of the people. For younger members, it was a liberal state reflective of Islamic values. When pressed, however, none of them could articulate what this new society might look like.

In some ways, this is good news, because it means some Islamists are open to persuasion and influence. In other ways, I thought, it was this very intellectual inconsistency that had led me to leave the Islamic movement; this incoherent and muddled worldview for which they expected me and other members to give their lives. Like Marxists, they had all sorts of criticism of state and society, but when pressed to provide policies for alleviating poverty in Egypt, they had no answers. To my mind, they were clutching at straws, because Islam has no specific prescription for government.

Husain, der sich vom Islamismus losgesagt hat, bleibt bekennender Muslim. Er hat die Vorstellung, dass man Scharia auch anders verstehen kann denn als Umsetzung archaischer Familiengesetze und Strafvorschriften in der heutigen Zeit.

I raised with Abou el-Fotouh the 800-year-old debate within Islam about what are called the maqasid, or aims, of the Shariah, which are to preserve life, property, religious freedom, family and knowledge. The Shariah is not about stoning and killing, I argued, but about the preservation of these five things. (…)

What stops today’s Arab Islamists from taking this approach to an Islamic state instead of advocating outdated, cruel punishments and the denial of rights to women?

I know from my time inside the Muslim Brotherhood that it spent five decades trying to survive, to escape the crackdowns of military dictatorships in the Arab world. Its members have not had the time and leisure to develop in the real world. Where they have — for example in Turkey — they have tended to become centrists and realists.

Nun ist die Lage in Ägypten aber anders als in der Türkei. Die Türkei hat ein Militär, das sich als Hüter der Republik versteht (selbst bei seinen Putschen) und sich zugunsten der zivilen Herrschaft zurückzuziehen bereit war. Die Modernität der Türkei beruht auf der Modernisierung und Säkularisierung von oben durch das Militär sowie auf der ökonomischen Liberalisierung in Kombination mit behutsamer Re-Islamisierung, beginnend unter dem Ministerpräsidenten Turgut Özal. Die AKP Erdogans hat die Früchte dieser Reformpolitik geerntet und diese Politik fortgesetzt. Es gab schon ein türkisches Erfolgsmodell, als die islamisch geprägte AKP an die Macht kam. Sie hat, auch unter dem Sog der EU-Beitrittsperspektive, den Özalschen Modernisierungskurs beibehalten und forciert. Das Militär ließ sich, wenn auch der „tiefe Staat“ weiter dagegenhält, mehr und mehr zurückdrängen.

Ägypten hat kein bereits erfolgreiches Modernisierungsmodell, das die Islamisten variieren könnten. Das Militär ist Teil der Kleptokratie, mit enormen wirtschaftlichen Interessen. Die ägyptischen Islamisten sind in weiten Teilen wesentlich radikaler als die türkischen, bei denen auch diverse Sufi-Orden eine große Rolle spielen. Einen „islamischen Calvinismus“, wie er bei vielen Unternehmern in der Türkei gegeben ist, sucht man in Ägypten vergebens. Und nun sind die Muslimbrüder auch noch durch die erstaunlich starken Salafisten von rechts her getrieben. Das macht es in meinen Augen eher unwahrscheinlich, dass wir in absehbarer Zeit eine starke Wirkung des türkischen Modells auf die ägyptischen Islamisten erwarten können.

Dennoch sollte gerade diese Entwicklung ein Mahnruf sein – auch an die deutsche Politik -, zu erkennen, welch eine Chance darin liegt, dass die Türkei ein erfolgreiches Modell der Versöhnung von islamisch geprägter Politik und säkularer Demokratie ist. Bei allen beunruhigenden Entwicklungen in der Türkei (Verhaftungen von Journalisten, Kujonierung von unliebsamen Verlagen): Der Westen braucht eine offensive und aktive Türkeipolitik jenseits der leidigen Beitrittsfrage. Zum Glück beginnen das in der CDU langsam auch jene Außenpolitiker zu kapieren, die einem EU-Beitritt nach wie vor skeptisch gegenüberstehen. Die Türkei macht Druck auf Syrien, die Türkei wendet sich von Iran ab (s. Raketenabwehr), sie ist ein wichtiger Spieler in der arabischen Welt und ein Wachstumsmotor der Region. Gegenüber den Bärtigen, die jetzt in Arabien an die Macht drängen, ist sie ein Beispiel dafür, dass auch ein mittlerer Weg möglich ist.

Husain schreibt:

With time, the Islamists, too, can be steered toward a Turkey-style combination of Islam and secular democracy.

Die Frage ist nur, wieviel Zeit hat Ägypten?