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Der Sinn der Beschneidung

Bernard Avishai von der Hebrew University erklärt auf der Website „Open Zion“ den Sinn der Beschneidung:

Most thinking Jews, justifiably, will counter all this physiological speculation (and hyperbole) by insisting that circumcision is not a practical matter at all. Rather, it is a primordial act of covenant, a kind of throwback to sacrifice, actually, which marks the commitment of our children to the Jewish people and its mission. But this begs the question, precisely, of how to understand the covenantal mission and how to engender it. The same Jews believe that the mission unfolds as life and history unfold. Our commitment is to inherited principles, not to inherited genes. The act has to be consistent with, or evoke, enduring principles. What are they?

So we are left with a puzzle. What deeper meaning might be implied by circumcision, so that Jewish parents, generation after generation, swallow hard do it? How does the back of the mind take in the brit mila, so that Jewish sages thought its lessons were indispensible?

Permit a passionate father (and grandfather) to suggest a direction, if not a whole answer. The poet Robert Bly once said, “A man’s wound is his genius.” I think parents who perform circumcision on a tender baby cannot but feel the beginning of an acknowledgement, which will grow over time—something bitter-sweet and wise. It is that our role is not merely to protect our children but to expose them. We are required to introduce them—affectionately, yet at times strictly—to the stings of the world, which are everywhere; these are the real prompts of maturity and autonomy—thus the deepest sources of their happiness. This ritual infliction of pain, like the insistence of broken glass at a wedding, is an act of love, arguably divine love—that is, love of human beings as we truly are, without (dare I say, childish?) illusions.

You don’t have to have a mother like Sophie Portnoy to know that over-protection is the ultimate form of child abuse. Who among us would live our lives over again without the pains that instructed, fashioned and liberated us?

And since this was a German court, however secular, let’s cover another base. Saint Paul said that we ought rather to circumcise the heart. (Actually, Leviticus, and later Jeremiah, suggest the same, arguably without the “rather.”) Well, I have had both circumcisions, of the flesh and heart, and I can report that the latter is far more painful. Human life is calculated to make us lose every person we love, but who lives happier by shielding himself from love?

The part of Paul’s theology I admire most suggests that the divine proved truest by becoming flesh to suffer with us, thus to truly know us. I like to think the divine was first present in my life at the tiny suffering of my circumcised flesh; that God slyly instructed Abraham to circumcise his sons because he wanted to imply what some rabbis have had the wit to add, generation after generation. Before circumcision a man is not whole. Genesis Rabbah states, glossing circumcision: “All that was created during the six days of creation requires improvement. For example, the mustard seed needs to be sweetened and the lupine need to be sweetened, the wheat needs to be ground, and even a person needs improvement.” Indeed, there is nothing so whole as a broken heart.

 

Die Komiker-Nation Deutschland debattiert Beschneidungen

«Ich will nicht, dass Deutschland das einzige Land auf der Welt ist, in dem Juden nicht ihre Riten ausüben können. Wir machen uns ja sonst zur Komiker-Nation.»
Das hat die Kanzlerin mal was richtig erkannt.

Die Muslime hätte sie allerdings gerne einbeziehen können. Tut sie aber bezeichnender Weise nicht. Denn Ausgangspunkt der Debatte war ja der Fall eines vierjährigen Muslims. Dass die Oberstaatsanwältin, die den Fall in Köln vor Gericht brachte, auch gegen einen weißbärtigen Mohel vorgegangen wäre, kann ich mir nicht vorstellen. Noch fällt es schwer, sich auszumalen, dass wir demnächst wegen Körperverletzung einen Rabbiner in der Synagoge verhaften.

Nein, wohl eher nicht. Aber einem syrischstämmigen Arzt kann man eben schon mal die Instrumente zeigen. Es fällt in Deutschland einfach leichter, Muslime über ihr „Barbarentum“ zu belehren als Juden.

Jedenfalls noch.

Nun hat man es aber mit der Rabbinerkonferenz und dem Zentralrat der Juden in schönster Einheit mit den islamischen Verbänden zu tun bekommen, und da hört dann der Spaß auf. Eine rechtliche Klärung muss nun her, um Juden das Verbleiben hier zu ermöglichen. Recht hat sie, die Kanzlerin.

Davon dürfen dann die Muslime, die den Anlass für das irre Theater gegeben haben, gerne mit profitieren, ohne dass die Kanzlerin sich nun freilich als deren Schutzpatronin erwischen lassen will.

Deutschland. Zum Auswandern schön.

Ich habe mich lange gegen die Auffassung gewehrt, Islamophobie und Antisemitismus hätten bedeutende Überschneidungsflächen (no pun intended). Ich gebe hiermit offiziell auf. Es ist ein und das Gleiche.

Heute morgen im Deutschlandfunk hören zu müssen, wie wohlmeinende deutsche Ärzte gleich zwei Weltreligionen freundliche Angebote machen, sich endlich bitte, bitte auf das zivilisatorische Niveau des Kölner Landgerichts hinaufhieven zu lassen, das war dann doch sehr erhellend. Jüdische Teilnehmer verwahrten sich gegen die Unterstellung, sie seien traumatisiert. Es half nichts. Der deutsche Therapeut wußte es besser.

Leserbriefschreibern und Kommentatoren quillt der gesunde Menschenverstand aus den Tasten, dass es keine, aber auch gar keine akzeptable Begründung für die „Verstümmelung“ von Knaben durch Vorhautentfernung gebe.

Religiöser Analphabetismus wird mit erstaunlichem Stolz als Common Sense spazieren geführt. Irre, was man so alles an Vergleichen hört: Abtreibung, Ohrfeige, kosmetische Ohrenkorrektur… Das großmütige Angebot, man könne Beschneidung verbieten, aber straffrei lassen, wie eben die Abtreibung. Und dem Vorschlagenden fällt gar nicht mehr auf, dass damit eine Ritualhandlung aufgrund eines religiösen Gebots, die der Aufnahme eines neuen Lebens in die Gemeinschaft dient (und der Feier des Bundes mit Gott), auf die gleiche Stufe mit der Beendigung menschlichen Lebens gestellt wird. Und wie das wohl bei den Betroffenen ankommt, dass ihre Handlung mit einer Tötung verglichen wird.

Ach was, es geht womöglich gar nicht um die Juden und die Muslime. Es ist wieder einmal eine – diesmal knisternd pornographisch aufgeladene –  Orgie der Selbstbestätigung ausgebrochen. Der faszinierte Blick auf den beschnittenen Schlong lässt uns in Gewissheit erstarren, dass wir aufgeklärten Mehrheitsmenschen den Längsten haben.

Mit heiligem Ernst beschäftigt sich ein Land wie Deutschland zwei Wochen lang mit anderer Leute Geschlechtsorganen. Man fasst es nicht. Andererseits: Deutsche wollen die Unversehrtheit jüdischer und muslimischer Penisse per Gesetz garantieren. Irgendwie ein Fortschritt, oder? Wäre da nicht die peinliche Pointe, dass zu diesem Zweck die Eltern und die Ärzte, die an „barbarischen Bräuchen“ festhalten, kriminalisiert werden.

Alle sollen so werden wie wir. Darum gehts es letztlich. Ja, warum auch nicht: Es gibt ja nun wirklich keinen Grund, anders zu sein oder anderes zu glauben, denn wir sind das zwar nicht das auserwählte, aber das aufgeklärte Volk. Indem wir ihre Religion kriminalisieren, geben wir den Juden und den Muslimen eine Chance, sich endlich nach Jahrtausenden von ihren archaischen Praktiken zu distanzieren.

Wir Deutschen sind die Guten: Eine Komiker-Nation im Einklang mit sich selbst.

Komisch nur, dass keiner lacht.

 

 

Die Beschneidung der Religionsfreiheit

Wie um alles in der Welt sind wir denn bloß hierhin gekommen? Ein deutsches Landgericht urteilt, dass das Recht des Kindes auf Unversehrtheit über dem Recht der Eltern steht, aus religiösen Gründen die Beschneidung eines Sohnes vornehmen zu lassen – und innerhalb von Wochen ist von einer der „vielleicht schwersten Attacken auf jüdisches Leben in Europa in der Post-Holocaust-Welt“ die Rede – so der Vorsitzende der Europäischen Rabbinerkonferenz Pinchas Goldschmidt.

Dabei war der Fall eines muslimischen Jungen der Anlass für die Rechtssprechung gewesen. Ein Kölner Arzt hatte im November 2010 den vierjährigen Sohn eines aus dem Irak stammenden Paares beschnitten. Es war, wie Yassin Musharbash in der ZEIT dargelegt hat, zu (durchaus üblichen) Nachblutungen gekommen. Die Mutter war dadurch in Panik geraten, hatte in verwirrtem Zustand um Hilfe gerufen und war mit ihrem Sohn in die Notaufnahme gekommen, wo die kaum des deutschen mächtige Frau Angaben machte (oder so verstanden wurde), dass ihr Sohn „in einer Wohnung mit der Schere“ beschnitten worden sei. Es kam zur Anklage gegen den Arzt, die in erster Instanz niedergeschlagen wurde, in zweiter Instanz aber kam es dann zu dem Urteil mit den folgenschweren Sätzen über den Vorrang der Unversehrtheit.

Beschneidung als Körperverletzung: Aus einem Urteil in Sachen eines vierjährigen Muslims ist nun eine „Attacke auf das jüdische Leben“ geworden. Juden und Muslime erklären vereint, sie sähen ihre Religionsfreiheit gefährdet und gar die Zukunft jüdischen beziehungsweise muslimischen Lebens auf Messers Schneide, wenn dieser unpassende Wortwitz hier erlaubt sei. Aus einer Verkettung von Missverständnissen ist ein Kulturkampf geworden.

Ich glaube nicht, dass das Kölner Urteil Auswirkungen auf eine Jahrtausende alte Praxis haben wird, die konstitutiv für die beiden Religionsgemeinschaften ist. Allein die Anmaßung der treibenden Oberstaatsanwältin und des Landgerichts ist freilich atemberaubend. Das heißt eben nicht, dass es unter den Betroffenen keine Diskussion um diese Praxis gibt. Necla Kelek hat in ihrem Buch über türkische Männer eine extrem scharfe Kritik der Beschneidungsrituale in der Türkei formuliert. Ich teile nicht ihre Folgerungen, aber ihr Impuls, eine Debatte über Männlichkeitsriten anzuregen, ist berechtigt. Junge Juden, die nicht fest in der Orthodoxie verhaftet sind, machen es sich oft auch nicht leicht, wenn sie Eltern werden. Allerdings entscheiden sich die meisten doch für die Beschneidung als Zeichen für den Bund, als Zeichen dafür, dass die jüdische Geschichte weitergeht.

Es gibt übrigens eine eigene Tradition von jüdischen Beschneidungswitzen. Einen besonders drastischen von Oliver Polak habe ich schon einmal in der ZEIT zitiert: „Warum sind jüdische Männer beschnitten? Weil eine jüdische Frau nichts anfasst, was nicht mindestens um 20 Prozent reduziert ist.“ Berühmt ist auch folgende Episode aus der Comedy-Serie „Seinfeld„, in der die Bedenken gegen die Beschneidung auf geniale Weise thematisiert werden. (Allerdings wird auch hier das Kind dann eben doch beschnitten.)

Aber eine interne Debatte um das Für und Wider ist das eine. Und eine über Gerichte und Meinungsumfragen geführte Debatte der Mehrheit über die vermeintlich rückständig-barbarische Minderheit ist etwas anderes. In der deutschen Debatte, die durch das Kölner Urteil aufgekommen ist, irritiert der bierernste Ton der Belehrung und der herablassenden Umerziehung der „archaischen Religionen“, die einfach nicht bereit sind, ihre blutigen Rituale weiter symbolisch zu sublimieren. (Manchmal glaube ich einen Nachhall von dem protestantischen Zetern über die unbelehrbaren Katholen zu hören, die an die Wandlung von Wein zu Blut und Brot zu Fleisch glauben.)

Der aufgeklärte Vorbehalt gegen die Juden – und daraus abgeleitet auch gegen die in ihrer Ritualverhaftetheit verwandten Muslime – ist plötzlich wieder da. Wie anders ist zu erklären, dass breite Mehrheiten hierzulande das Kölner Urteil für richtig halten? Unser Recht soll also jüdische und muslimische Jungen vor einer barbarischen Praxis schützen, der sie ihre „verstockten“ Eltern unterwerfen? Wir kriminalisieren einen religiösen Ritus, der konstitutiv für die Zugehörigkeit zu den beiden abrahamitischen Bruderreligionen ist?
Abenteuerlich, und undenkbar in Gesellschaften, die nicht wie unsere derart vom Gespenst der religiös-kulturellen Homogenität heimgesucht werden. Undenkbar in den USA oder Kanada – Ländern, in denen es weit verbreitet war oder ist, Jungen auch ohne religiöse Gründe zu beschneiden. Dort wird diese Praxis zwar inzwischen in Frage gestellt, doch niemand käme auf die Idee, religiös begründete Beschneidungen zu kriminalisieren.
Es ist eine beängstigende Verspießerung unseres öffntlichen Lebens festzustellen, eine Verspießerung im Zeichen selbstgefälliger Pseudoaufgeklärtheit, die religiöses Anderssein unter der Flagge des Kinderschutzes und der Menschenrechte (im Fall Schächten/Halal: Tierschutz) zu erdrücken droht.
Die Rabbiner hätten nicht gleich das H-Wort bemühen müssen, aber im Kern haben sie recht: Wenn sich diese Rechtsauffassung durchsetzt, ist jüdisches (und muslimisches) Leben in Deutschland bedroht. Schon jetzt ist Schaden entstanden: 70 Jahre nach der Schoah wird in Deutschland traditionelles jüdisches (und muslimisches) Leben kriminalisiert, und der Bürger nickt wohlgefällig mit dem Kopf dazu. Als wäre es nicht Aufgabe des Rechts, die Minderheit vor dem Absolutismus der Mehrheit zu schützen.

 

 

Ägyptens Revolution: It’s All Over Now, Baby

Die Fragen aus meinem Post der letzten Woche über die Lage in Ägypten scheinen vorerst beantwortet: „Wieviel Freiraum wird das Militär dieser Entwicklung gewähren? Wird sich Ägypten mehr in Richtung der Türkei oder mehr in Richtung Pakistan entwickeln?“
Erstens: Keinen Freiraum. Zweitens: Eine Kombination von beiden: Die Auflösung des Parlaments und die folgende Verkündigung über die beschränkten Kompetenzen des kommenden Präsidenten lassen erkennen, dass das ägyptische Militär die Technik des „Soft Coups“ türkischer Provenienz beherrscht, um wie das pakistanische Militär („Military Inc.“) seine massiven (auch wirtschaftlichen) Interessen abzusichern. Klar ist jedenfalls, dass die Generäle beabsichtigen, das Land nicht zu demokratisieren.

Militärs halten seit vielen Jahrhunderten die Macht in den Händen am Nil – mal unter fremder Oberherrschaft, mal als Autokraten – warum sollten sie jetzt freiwillig die Macht abgeben?

Die ägyptische Revolution scheint vorerst abgebrochen. Ob sie auch schon gescheitert ist, weiß man noch nicht. Aber etwas ist zuende gegangen.

Als ich hier zuerst vor 5 Jahren über den ägyptischen Blogger Sandmonkey schrieb, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass er heute, im Sommer 2012, auf eine Revolution zurückblicken würde, die zwar den Diktator Mubarak hinweggefegt hatte, am Regime aber nichts grundsätzlich hat ändern können. Unvorstellbar schien so etwas damals. 2009 besuchte ich mit einer kleinen Delegation des damaligen Innenministers Schäuble Ägypten. Das einzige interessante politische Thema damals war, ob Omar Suleiman Mubarak nachfolgen würde – oder doch Gamal Mubarak, und ob sich damit also auch in Ägypten eine  Diktatorendynastie bilden würde, wie man sie aus Syrien kannte (und wie man sie bald, so vermutete man, in Libyen erleben würde). Die Ägypter, mit denen wir sprachen, schauderten bei der Vorstellung: „Wir sind nicht Syrien!“ Das war für die stolzen Ägypter extrem wichtig: Nicht ein Land zu sein, in dem die Menschen sich vor angemaßter Legitimität einer Fake-Dynastie beugen. Es ist eine Sache – und schlimm genug –, von Generälen oder Ex-Generälen regiert zu werden, und eine andere: von deren Söhnen. Vielleicht ist es das, was von der Revolution bleibt?

Sandmonkey, dessen wahren Namen Mahmoud Salem wir seit der Revolution kennen (immerhin, es gibt weniger Angst in der Gegenöffentlichkeit!), hat nun in einem bewegenden Blogpost das erste Kapitel der Revolution für beendet erklärt.

We went into the revolution with the same thinking that people like me had back in 2005: we must remove Mubarak, stop his son from inheriting us, and get democratic elections. All of us had those goals and not a single vision on what to do afterwards, because the removal of Mubarak was such a pipedream. So, you successfully dethrone a tyrant, and you have neither plan nor vision on what to do afterwards, and no real understanding of the regime itself, then, quite naturally, you fall flat on your face, and we have been doing that for the past 18 months.

Sandmonkey schreibt in seinem Post auch, dass er einen ungültigen Wahlzettel abgegeben hat. Unter den Revolutionären, auch bis in säkular-liberale Zirkel hinein, hatte es vor der Wahl eine Debatte gegeben, ob man dem Muslimbruder Mursi nicht doch den Vorzug vor Achmed Schafik geben müsse, dem letzten Premierminister Mubaraks, und damit einem Kandidaten des Alten Regimes. Sandmonkey weigert sich, sich eine solche Alternative aufzwingen zu lassen.

I invalidated my vote, mainly because I refuse to succumb to fear-politics and thinking that they both suck as candidates. That being said, I have been under continuous attack from many of the revolutionaries for not supporting Morsy. Well, my dear friends, I am sorry that you are a bunch of cowards that let your fear control your political choices. I am not that kind of man. If I attacked Morsy, it’s because I don’t want him being dubbed the revolution’s candidate, because he simply isn’t, and will never be in my eyes. Our revolution called for a civil state: nonreligious, non-military, and this guy will try to form a religious military state. The people who supported Morsy, believing that the MB will change or be democratic, are really 3 groups: 1) People pissing in their pants out of fear, 2) People who made deals with the Brotherhood (…), and 3) people who are stupid enough to believe that the MB will change or not betray them the first chance they got.

Bemerkenswert ist nicht zum ersten Mal die Selbstkritik des Revolutionärs Mahmoud Salem. Er weist seine Freunde darauf hin, dass die „revolutionäre Legitimität“ aufgebraucht ist. Die Menschen wollen Ergebnisse sehen:

If you are a revolutionary, show us your capabilities. Start something. Join a party. Build an institution. Solve a real problem. Do something except running around from demonstration to march to sit-in.

Interessanter Weise ist Sandmonkey „weder deprimiert noch demotiviert“, und er zählt die Errungenschaften des letzten Jahres auf:

      • Hosny Mubarak, his son and his VP are not ruling us.
      • The NDP is broken into many different pieces
      • The next President is chosen through fair, competitive and democratic elections, not matter what the outcome.
      • Freedom of Expression, press and speech.
      • The weakening of the MB, the salafis, the end of using religious speech for political gains (Notice how Morsy didn’t say a single Sharia thing in the past 2 weeks)
      • Serious understanding to the nature of the state we live in and the roots of its problems, which we never really knew before.
      • Interlinking between individuals all over the governorates that would’ve never taken place otherwise.
      • Serious weakening of classism in a classist society
      • Incredible amount of art, music and culture that was unleashed all over the country
      • Entire generations in schools and universities that have become politicized, aware and active.
      • A serious evaluation of our intelligentsia and why they suck.
      • Discovering the difference between symbols and leaders, and our need for the latter than the former.

 

Sandmonkey hat sich seinen sarkastischen Humor bewahrt. In einem seiner Tweets von gestern schreibt er, diejenigen, die sich über die neiden Kandidaten beunruhigt haben – der Islamist gegen den Büttel der Militärs – könnten sich abregen, denn die Militärs hätten dafür gesorgt, dass jeder neue Präsident nicht mehr als ein Grüßonkel sein werde.

 

Keine Todesdrohungen gegen den iranischen Musiker Shahin Najafi !

(Günter Wallraff schickte heute folgenden Text, den ich hiermit dokumentiere.)
Einer Initiative des Grafikers Klaus Staeck, des Komponisten Manos Tsangaris und des Schriftstellers Günter Wallraff zur Unterstützung des vom Tode bedrohten iranischen Musikers Shahin Najafi haben sich mehr als 50 namhafte Künstlerinnen und Künstler als Erstunterzeichner angeschlossen.

Die Solidaritätsadresse dient dem Schutz Najafis und verlangt nach einer starken internationalen öffentlichen Verbreitung. Die verantwortlichen Großayatollahs und die sie stützenden staatlichen Institutionen müssen die Todesdekrete und das ausgesetzte Kopfgeld zurücknehmen.

Die Unterzeichnung des Aufrufs ist mit einer E-Mail oder einem unterschriebenen Fax an die Adressen huber@adk.de / Fax: (030) 20057 1525  oder guenter.wallraff@koeln.de / Fax: (0221) 952 1526 möglich.

Der Aufruf ist auf der Internetseite der Akademie der Künste veröffentlicht: www.adk.de

Ansprechpartnerin in der Akademie der Künste: Bettina C. Huber, Tel.: (030) 20057 1525, huber@adk.de

Und hier der Wortlaut des Solidaritätsaufrufs und die Liste der Erstunterzeichner:

15. Juni 2012

Solidarität mit Shahin Najafi

Der iranische Musiker Shahin Najafi, der seit 2005 im Exil in Deutschland lebt, wird mit dem Tode bedroht, weil er in einem Lied den im Jahr 869 verstorbenen zehnten Imam anruft, auf die Erde zurückzukehren. Sein Text übt mit Satire Kritik an dem diktatorischen Regime. Iranische Großayatollahs erklärten ihn zum Ketzer, der den Tod verdiene. Auf Shahin Najafi wurde ein Kopfgeld von 100.000 Dollar ausgesetzt. Wir haben Respekt vor dem Mut von Shahin Najafi, sich nicht einschüchtern zu lassen und sich weiterhin künstlerisch einzumischen. Denn Kunst muss frei sein. Kunst muss sich entfalten können und provozieren dürfen. Die Freiheit der Kunst ist ein universelles Menschenrecht. Todesdrohungen gegen Künstler und Andersdenkende sind der Tod dieser Freiheit.

Wir solidarisieren uns mit Shahin Najafi und fordern Öffentlichkeit und Politiker dazu auf, unseren Kollegen in jeder Form zu unterstützen und sich für seine Sicherheit einzusetzen.

Frank-Markus Barwasser • Sibylle Berg • Horst Bosetzky • Volker Braun • Fred Breinersdorfer • Campino • Frank Castorf • Pepe Danquart • Friedrich Christian Delius • Doris Dörrie • Andreas Dresen • Egotronic • Valie Export • Harun Farocki • Jürgen Flimm • Hans W. Geißendörfer • Jochen Gerz • Günter Grass • Hans Haacke • Nele Hertling • Klaus Hoffmann • Elfriede Jelinek • Necla Kelek • Navid Kermani • Barbara Klemm • Kirsten Klöckner • Wolfgang Kohlhaase • Uwe Kolbe • Sebastian Krumbiegel • Helmut Lachenmann • Jaki Liebezeit • Jan Josef Liefers • Udo Lindenberg • Frank Lüdecke • Terézia Mora • Björn Peng • Moritz Rinke • Robert Schindel • Volker Schlöndorff • Gerhard Schmidt • Ingo Schulze • Bertold Seliger • Smudo • Mathias Spahlinger • Tilman Spengler • Klaus Staeck • Gerhard Steidl • Johano Strasser • Uwe Timm • Frederik „Torch“ Hahn • Rosemarie Trockel • Manos Tsangaris • Andres Veiel • Nike Wagner • Günter Wallraff • Hannes Wader • Konstantin Wecker • Marius Müller-Westernhagen

 

Die Herrschaft der Bärtigen – und die Außenpolitik des Westens

(Ein paar unsystematische Überlegungen zur Lage, mehr Fragen als Antworten…)

Das größte Ereignis in der Außenpolitik dieses Jahres – jedenfalls unter den vorhersehbaren – hängt wahrscheinlich an der Innenpolitik der USA: Obamas Wiederwahl ist nicht so sicher wie mancher glaubt, nicht nur wegen des Konkurrenten Mitt Romney, sondern auch wegen Faktoren wie der höchstrichterlichen Entscheidung über Obamas Gesundheitsreform. Auch das ist schon interessant.
Obama könnte darüber fallen, dass er die Amerikaner zwingen wollte, sich krankenzuversichern. Ob ihm jemand mal eine Bismarck-Biografie reichen könnte?

Zweite Möglichkeit für Obamas Scheitern: Mehr Chaos in Europa nach der griechischen Wahl,  „Grexit“ (Griechenland verläßt den Euro), Ausweitung der Krise auf Spanien und Italien und in der Folge Deutschland. Dies könnte die amerikanische Wirtschaft empfindlich treffen – und damit den Präsidenten. Chancen für Romney, auf einer No-Bailout-Plattform die Wahl zu gewinnen? So eng hängt das alles zusammen, möglicher Weise.

Aber lassen wir die Krise bis nach dem Wochenende beiseite. Zu ein paar klassischen außenpolitischen Themen:
Der Krieg in Afghanistan verliert in Amerika rapide an Rückhalt. Vielleicht beschleunigt sich der Abzug noch einmal, und damit auch die Bewertung: Alles rückt doch immer näher an ein Vietnam-Szenario, bei dem man schnell noch in den letzten Hubschrauber will.
Dieser Krieg haben wir innerlich längst abgehakt, wir haben schon zu viele andere Dinge in der Region auf der Platte. Amerika ist erschöpft und mit sich selbst beschäftigt. Europa dito. Eine Bilanz der Ära des Interventionismus steht aus.

Isolationismus ist keine Alternative – aber wer sagt denn, dass es nur diese beiden Möglichkeiten gibt? Als Dritter Weg erscheint zur Zeit Obamas Kombination aus „Politik der ausgestreckten Hand“ (gegenüber der muslimischen Welt im allgemeinen, anfangs sogar gegenüber Iran, allerdings mit sehr ernüchternden Ergebnissen) bei gleichzeitiger Eskalation von Drohnenkrieg, Cyberwar und Special Ops (→ exit Bin Laden). Allerdings erscheint diese Kombination selbstwidersprüchlich und unglaubwürdig, je härter der Schattenkrieg geführt wird. Der Präsident, der sich im Oval Office die kill list vorlegen lässt mit den schlimmsten Terroristen, die man dann mttels Drohne wegpusten wird – das ist schon eine extrem ambivalente Vorstellung. Allmacht und amerikanischer Abstieg in  einem Bild: Der Präsident kann und will keine Truppen mehr schicken, aber mit einem Federstrich ist er Staatsanwalt, Richter und Henker in einer Person. Bush brachte Terrorverdächtige noch nach Guantanamo, Obama kann Guantanamo nicht schließen und macht nun erst gar keine Gefangenen mehr.

Für Deutschland ist das Ende des Interventionismus eine merkwürdige Entwicklung, schwer zu verdauen: Man hat in Afghanistan einen Krieg geführt, der erst keiner sein durfte.
Dann hat man sich gerade daran gewöhnt, dass es doch einer war, und da ist es auch schon vorbei und die Sache droht zum Volldebakel zu werden. Wir wollen nur noch raus. War alles umsonst?

Außerdem will man sich nun eine Armee geben, die professioneller und einsatzfähiger sein soll, aber das mit immer weniger Mitteln. Und dies in einem Moment, in dem die Einsätze per se fragwürdig geworden sind und wir eigentlich nie wieder irgendwo mitmachen wollen, wenn’s denn nach uns geht. Dazu am Ende mehr.
Was Afghanistan angeht, könnte 2012 bereits zum Jahr der Wahrheit werden, wenn die Franzosen bei ihren Abzugsplänen bleiben.

Aber womöglich werden wir auch durch andere Konflikte so in Atem gehalten werden, dass die Sache einfach so nebenher ausläuft.

Syrien: Ein Szenario, das dieser Tage immerhin wieder möglich scheint: Dass Assad auf Machterhalt setzt und weite Teile des Landes hält, während er in anderen weniger hart durchgreift. Er könnte seine Unterdrückung unter dem Level halten, das eine Intervention irgendwann nötig machen würde. Als Paria würde er sich auf einige bittere Jahre einstellen, nach denen die Welt dann doch wieder mit ihm dealen muss. So wie früher, vor dem Arabischen Frühling. Da die Euphorie für Demokratisierung einstweilen verflogen ist, vielleicht keine undenkbare Vorstellung für die westliche Politik. Voraussetzung dafür wäre, dass er auf den Annan-Friedensplan im Ernst eingeht und nicht nur aus rein taktischen Gründen, was bisher alle Beobachter glauben. Was passiert, wenn er nicht so schlau ist und einfach weiter auf brutalste Methoden setzt, weiß niemand. Klar ist nur, dass es dann in absehbarer Zeit keine Zukunft mehr mit Assad geben kann. Vielleicht ist das jetzt auch schon so. Wahrscheinlich sogar.

Und damit kommt man zu der Kardinalfrage der kommenden Jahre für diese unsere Nachbarschaft:
Islamismus und Demokratie: Geht das zusammen? Und geht es dort, wo es drauf ankommt – in Ägypten, nicht nur im kleinen Tunesien? Was bedeutet es für die Minderheiten im Land, für die Christen des Orients? Droht ihnen nun dasselbe wie einst den Juden, nachdem die Muslimbrüder und Salafisten überall drankommen? Exil für alle, die es schaffen, die es sich leisten können, die im Westen einen Platz finden wie die irakischen Chaldäer, die wir vor Jahren aufgenommen haben?
Was bedeutet die Herrschaft der Bärtigen für die Frauen? Was bedeutet sie für die Geopolitik der Region?
Die Muslimbruderschaft scheint sich nach neuesten Berichten überraschender Weise eher mäßigend auf die Hamas auszuwirken: Heißt das, die neue politische Verantwortung verändert den Islamismus? Das muss man beobachten.
In der Region ist der führende Konflikt nun einer, in dem nicht Israel gegen die Araber steht, sondern ein despotischer Öl-Islamismus sunnitischer oder schiitischer Provenienz (Saudi-Arabien, Iran) gegen einen demokratisch gewählten sunnitischen Islamismus ohne Öl (MB und Salafis in Ägypten, unterstützt von undemokratischen Autokratien wie Katar und Saudiarabien, die Öl und Gas haben). Ein Subtetxt des Syrien-Konflikts liegt darin: der iranisch-schiitische Öl-und Gas-Islamismus, der die Bombe will, wird bedrängt von den sunnistisch-islamistischen Despoten der Arabischen Halbinsel.

Salafisten mischen überall mit und verweisen die MB auf den ungewohnten Platz der „moderaten Kräfte“. Der Kampf zweier, dreier, vieler Islamismen um die Modernetauglichkeit? Ist das das große Thema?
Wie gehen wir mit den an die Macht drängenden Islamisten um? Wollen wir Dialog? Kooperation? Wo sind die Roten Linien? Wir haben kein Konzept, wir wissen nur, dass wir es nicht so machen können wie mit Hamas nach 2006, als wir Bedingungen genannt haben und – als diese nicht erfüllt wurden –, auf Boykott setzten. Ägypten kann man nicht boykottieren wie Gaza.

Spannend wird es auch sein zu sehen, wie die türkischen Islamisten den Aufstieg der Muslimbrüder in der ganzen Region beobachten: Vielleicht bald mit Schrecken? Als Lehrmeister? Als Modell? Das wäre interessant.
Die Arabische Revolution ist auch im zweiten Jahr nach Beginn der Aufstände nicht abgeschlossen. Was in Tunesien mit der Selbstverbrennung eines Obsthändlers begann, hat unterdessen weite Teile der arabischen Welt erfasst: der Aufstand gegen die alten Autoritäten und der Versuch, neue – repräsentativere und volksnähere – an ihre Stelle zu setzen. In Tunesien scheint der Übergang am besten gelungen, obwohl auch hier radikale Islamisten den Freiheitsgewinn bedrohen, der durch die Überwindung der Militärherrschaft möglich wurde. In Bahrain wurde der Aufstand brutal niedergeschlagen, im Jemen musste der langjährige Herrscher Salih immerhin weichen und ein Nachfolger wurde gewählt. Eine Verfassungsreform steht noch aus.

Für den westlichen Beobachter stellen sich drängende Fragen vor allem mit Blick auf die beiden wichtigsten Länder: Syrien und Ägypten. Beide Länder haben auch die größten nichtmuslimischen und innermuslimischen Minderheitengruppen – damit stellt sich in ihnen die Frage nach der Möglichkeit von Dialog und Pluralismus am drängendsten. Ob der Wandel in den arabischen Ländern gelingt, wird sich nicht zuletzt am Schicksal der Minderheiten in Syrien und Ägypten erweisen.

Es scheint unerlässlich, dass auch in Syrien ein Machtwechsel stattfindet. Das Assad-Regime ist diskreditiert, weil es von Beginn auf brutale Gewalt setzte, um die legitimen Forderungen der Opposition zu unterdrücken. Trotzdem bleibt es dank des Militärs vorerst weiter an der Macht – oder wird nur unter hohem Blutzoll von dort zu vertreiben sein. Wie kann in dem konfessionell gespaltenen Land, das von einer Minderheit, den Alawiten, beherrscht wird, eine neue Ordnung gelingen, die dem religiösen Pluralismus der syrischen Gesellschaft Rechnung trägt?
Bei der christlichen Minderheit herrscht Furcht vor einem sunnitisch-theokratischen Regime als Folge eines absehbaren Zusammenbruchs der Assad-Diktatur. Was kann der Westen in dieser Lage beitragen zu einem Übergang ohne Bürgerkrieg und ohne abermalige Intervention in einem weiteren muslimischen Land? Kann die Weltgemeinschaft helfen, die verfeindeten Gruppen nach einem Ende der Diktatur in einen Friedensprozess zu bringen – ähnlich wie auf dem Balkan?

In Ägypten scheint offener als zuvor, was die neue Ordnung für die Renaissance des politischen Islams nach der Rebellion bedeuten wird. Unbestritten ist, dass das Ende des Mubarak-Regimes die Religion als öffentliche Macht, und die religiösen Parteien als ihre Verkörperung, wieder ins Recht gesetzt hat. Die zuvor unterdrückten Bewegungen des politischen Islams genießen verständlicher Weise die höchsten Glaubwürdigkeitswerte, schon weil sie nicht Teil des korrupten Systems waren. Außerdem sind sie sehr viel besser organisiert als die sakulär-liberalen Kräfte, und verfügen über ein Netzwerk von Moscheen. Muslimbrüder und – überraschender noch: Salafisten – teilen sich den Erfolg an der Wahlurne. Sie konkurrieren auch miteinander, und so darf man im islamistischen Lager in Zukunft weitere Debatten, Abspaltungen und Differenzierungen erwarten.
Der Arabische Frühling, der mit dem Protest der Jugend begann, hat tatsächlich die Farbe Grün angenommen, aber es ist das Grün des Propheten. Die spannende Zukunftsfrage ist, wie ein politischer Islam die wichtigste arabische Gesellschaft prägen wird, der nicht auf Sponsoring durch Öl-Geld beruht (also anders als im Iran oder auf der arabischen Halbinsel). Und vor allem: Wieviel Freiraum wird das Militär dieser Entwicklung gewähren? Wird sich Ägypten mehr in Richtung der Türkei oder mehr in Richtung Pakistan entwickeln?

Wird die absehbare weitere Islamisierung der Gesellschaft religiöse Minderheiten und Säkulare an den Rand drängen? Und in Reaktion darauf: Ist religionsübergreifende Zusammenarbeit die Antwort auf die Herausforderung? Oder steht nun eine Phase der Konfessionalisierung und Zersplitterung der arabischen Gesellschaften an, in der Christen (und auch Schiiten und Bahai) nur auf Minderheitenrechte als Bürger zweiter Klasse hoffen können?
Für christliche Minderheiten und ihre Paten im Westen besteht die Gefahr, in die Falle des Konfessionalismus zu tappen. Soll man sich für Minderheitenrechte einsetzen – oder für gleiche Rechte für alle ägyptischen Bürger im Namen des Universalismus?

Was wird aus dem Christentum Nordafrikas? Kann sich Ägypten (mit seiner tourismuslastigen Wirtschaft) stabilisieren, wenn politische Zerreißproben zwischen Militär und Muslimbrüdern, Muslimbrüdern und Salafisten, Säkularisten und Islamisten, Christen und Muslimen drohen? Und wenn in Syrien ein offener Bürgerkrieg ausbrechen sollte, droht dann die Libanonisierung der gesamten Region, der Zerfall in ethnisch-religiös dominierte Instabilität?

Welchen Kompromiss es in Ägypten zwischen den demokratischen Kräften und den Beharrungskräften im alten Regime geben könne, ist weiter offen. Das Militär ist vor allem an der Stabilität des Landes und der Sicherung der eigenen (auch wirtschaftlichen) Ressourcen interessiert. Wie weit darum die Zugeständnisse an die demokratischen Forderungen gehen könnten, wird auch daran hängen, ob das Militär Macht und Einfluß in den neuen Verhältnissen wahren kann.
Aber: Der demokratische Geist ist aus der Flasche, und niemand wird ihn wieder hinein stopfen können. Ob und in welchen Formen er institutionalisiert werden kann, wird wohl erst in einem langen Prozess deutlich werden.

Die Wetten stehen darauf, dass der Nahostkonflikt eingefroren sei. Niemand weiß weiter. Alle denken freilich, dass es so nicht weiter gehen kann. Niemand hat einen Plan. Die Palästinenser sind die großen Verlierer des arabischen Erwachens. Tolle Sache für Netanjahu und Lieberman, die eh nichts machen wollten.
Warum einen unlösbaren Konflikt anpacken? Obama ist gelähmt bis November, er kann nur verlieren, wenn er nun wieder mit dem Thema Siedlungen und Verhandlungen käme. Das Thema Iran ist doch viel wichtiger zur Zeit.
So offensichtlich das scheint, ich habe den Verdacht, dass diese Politik der Vermeidung bald auffliegen wird. Sie hängt an der Fiktion einer Machbarkeit der „Zweistaatenlösung“: Wenn nur erst Obama wiedergewählt ist! Wenn nur erst die palästinensische Versöhnung vorankommt! Wenn nur erst das Iranproblem gelöst ist! Wenn Ägypten einen Präsidenten hat, wenn die Lage in Syrien klarer ist, wenn die Palästinenser gewählt haben, wenn die UNO Vollversammlung über die Mitgliedschaft Palästinas befunden haben wird… Wenn, wenn, wenn.

Währenddessen sagen viele, dass die Zeit für eine Zweistaatenlösung längst vorbei ist und die Welt daran eigentlich nur noch festhält aus horror vacui. Was sonst hätte man anzubieten?
Es gibt aber unterdessen glaubhafte Stimmen, die sagen, man müsse endlich von dieser Fiktion Abschied nehmen, weil sie eigentlich nur dafür sorgt, dass alles immer so weiter gehen kann.
Wir stellen die Sache meistens so da, dass es die Wahl zwischen Ein- und Zweistaatenlösung gebe. Die Einstaatenlösung wäre dabei synonym mit dem Ende Israels als demokratischer und jüdischer Staat, weil die Demographie der arabischen Bevölkerung eine Mehrheit verleihen würde. Manche Verteidiger der Einstaatenlösung streben dieses Ziel ganz offen an, die meisten tun es etwas oberschlau heimlich, wohl wissend, was die Konsequenzen wären, wenn ihre Wünsche wahr würden. Das gilt für weite Teile der Boykott- und Sanktionsbewegung. Sie wollen Israel abschaffen, in einem demokratischen Mehrheitspalästina auflösen.

Die Zweistaatenlösung hingegen, das bedeutet – Rückzug Israels aus der Westbank, Abzug der meisten Siedler hinter die “Grüne Linie”, Austausch von Gebieten im Ausgleich für die verbleibenden Siedlungen, Entmilitarisierung des palästinensischen Staates, Teilung Jerusalems in zwei Hauptstädte für zwei Völker, Rückkehr einer symbolischen Zahl von Flüchtlingen und globale Entschädigung für den Rest; im Gegenzug dafür sofortige Anerkennung Israels durch 57 arabische und islamische Staaten wie in der arabischen Initiative festgelegt. Sie gilt in der offiziellen Politik Israels und in der gesamten internationalen Community als einzige gangbare Möglichkeit, Israel langfristig als jüdischen und demokratischen Staat zu erhalten.
Wenn es aber so ist, wie die Vertreter der Zweistaatenlösung behaupten, dass nur sie das Überleben eines demokratischen jüdischen Staates garantieren kann, dann muss man sich die Frage stellen, warum sie bloß so halbherzig verfolgt wird. In Wahrheit geht die Entwicklung “am Boden” immer mehr in die Richtung einer Einstaatenlösung. Seit dem Oslo-Prozess, der eigentlich das Ende der Siedlungstätigkeit einläuten und die palästinensische Souveränität vorbereiten sollte, ist die Population in den besetzten Gebieten um das Zweieinhalbfache gewachsen. Es wächst schon die dritte Generation heran, die als Besatzer geboren wurde. Und auf der anderen Seite die dritte Generation von Palästinensern unter der Besatzung. “Temporär” ist das nicht.
Es wird, glauben selbst ihre Anhänger, keine Zweistaatenlösung geben. Warum?
Weil es einen Bürgerkrieg in Israel heraufbeschwören würde, die Siedlungen zu räumen; weil Israel zur Zeit (vom Iran-Problem abgesehen) eine Phase der Sicherheit, Prosperität und Stabilität durchläuft; weil Israel seiner gesamten Umgebung (die derzeit eine unabsehbare Phase von Revolte und Umbruch durchmacht) so weithin überlegen ist wie noch nie zuvor (von Iran abgesehen, aber vielleicht auch in dieser Hinsicht); weil die diplomatischen Kosten der Besatzung noch nie so gering waren wie heute; weil die palästinensische Führung gespalten und geschwächt ist und das Thema “Palästina” die Araber nicht mehr vordringlich beschäftigt; weil es in Israel aus allen diesen Gründen kein politikfähiges Friedenslager mehr gibt; weil die kontinuierliche Entwicklung der israelischen Gesellschaft hin zu einer konservativeren und religiöseren politischen Identität die Institutionen bis ins Militär hinein verändert hat. Aus all diesen Gründen ist der Status Quo (keine schöne, aber) die optimale Option für das Land. Die überragende Popularität von Netanjahu ist der Ausdruck dieser Lage, sein breite parlamentarische Mehrheit, sein Kabinett der nationalen Einheit inklusive Kadima macht es ihm möglich, weiterhin nichts zu tun.
Ich habe den Eindruck, dass auch in dieser Hinsicht dieses Jahr ein Jahr der Wahrheit werden könnte.
Das Jahr, in dem die Fiktion eines verhandelten Friedens offenbar wird. Was dann? Alle zittern vor diesem Moment.

Vom unwahrscheinlichen Frieden noch schnell zum wahrscheinlichen Krieg: Krieg mit Iran?
Das hängt nun sehr von Iran selber ab. Gespräche über das Atomprogramm haben begonnen. Zur Zeit sind sie schon wieder in einer Krise. Wenn Iran sich abermals stur stellt oder nur allgemein rumquatscht wie letztes Mal, dann könnte die Diplomatie scheitern. Diesmal wäre das ernst, denn die Sanktionsmöglichkeiten sind nahezu ausgereizt. Eine Eskalation wäre dann kaum noch zu verhindern.
Für die beteiligten 5+1 heißt das umgekehrt: Sie müssen in den Verhandlungen scharf genug sein, um beim Iran eine Verhaltensänderung zu mehr Transparenz zu bewirken. Und wenn sie zu scharf sind und das ganze auf eine öffentliche Demütigung Irans rausliefe (in den Augen des Irans, und da geht das schnell), dann könnten sie eine Logik auslösen, nach der Iran sich nur zurückziehen kann: Denn dort sind im kommenden Jahr Präsidentschaftswahlen, und da kann sich keiner der Kandidaten leisten, sich gegenüber den „Mächten der Arroganz“ nachgiebig zu zeigen.
Israel wird das alles beobachten. Die Stimmung im Land ist widersprüchlich: Nur ein Drittel ist dafür, alleine loszuschlagen. Aber vor die Alternative gestellt, mit der iranischen Bombe zu leben oder einen Krieg zu riskieren, sind zwei Drittel zum Krieg bereit.
Diejenigen, die einen Krieg für wahrscheinlich halten, rechnen im letzten Jahresviertel damit.
Deutschland müsste dann noch einmal die Frage beantworten, was „Staatsräson“ eigentlich genau bedeutet.

 

Israelhass als Popkultur

Ein ägyptischer Rapper namens Amr El Masry macht aus Israelhass einen eingängigen Song.
Dank an Peter Beinart dafür, dass er auf diesen Clip aufmerksamn gemacht hat.

 

Streitgespräch mit einem Salafisten und einer liberalen Muslimin

Mit der Kollegin Özlem Topçu zusammen habe ich ein Gespräch zwischen einem Salafisten und einer liberalen Muslimin moderiert. Aus der ZEIT von heute, S. 4:

Lamya Kaddor, 35, ist Lehrerin für Islamkunde an einer Schule im niederrheinischen Dinslaken. Sie ist Mitbegründerin des Vereins Liberal-Islamischer Bund und Autorin von Büchern wie »Der Koran für Kinder und Erwachsene« und »Muslimisch, weiblich, deutsch«.
Abdurrahman Malik heißt eigentlich anders, ist Anfang 20, Student und bekennender Salafist. Seinen richtigen Namen möchte er aus Angst vor Morddrohungen aus der extremistischen Salafistenszene nicht nennen. Wir treffen die beiden in einem Duisburger Hotel zum Gespräch. Malik weigert sich, Lamya Kaddor mit Handschlag zu begrüßen.

 

DIE ZEIT: Herr Malik, Salafisten werden mit Intoleranz, Gewalt und Terror in Verbindung gebracht. Warum sind Sie Teil dieser Bewegung?

Abdurrahman Malik: Für mich ist das Wort »Salafist« kein Schimpfwort. Es geht auf die Muslime der ersten Stunde zurück, die im Islam großes Ansehen genießen. Salafisten orientieren sich stark an Koran, der Sunna, der Lebensweise des Propheten Mohammed und Religionsgelehrten, zumeist aus Saudi-Arabien. In der deutschen Debatte assoziiert man den Begriff mit gewalttätigem Extremismus. Diese Pauschalisierung lehne ich ab, genauso wie die radikal-militanten Salafisten und ihre Ideologie.

ZEIT: Warum haben Sie diese rückständigste Form des Islam gewählt?

Malik: Was heißt rückständig? Die Gesetze meiner Religion umzusetzen ist für mich kein Hardcore-Islam. Der Islam ist eine Gesetzesreligion, und ich befolge die Gesetze.

ZEIT: Frau Kaddor, die Salafisten dominieren im Moment das Islambild in Deutschland, sie verteilen Korane und demonstrieren gegen Islamkarikaturen – teilweise gewalttätig. Sie versuchen mit Ihrer Arbeit, ein liberales Islambild zu vermitteln. Stehlen Ihnen die Fundamentalisten die Show?

Lamya Kaddor: Sie machen mir meine Arbeit kaputt. Ich will den Islam weiterdenken und dabei auch zu neuen Schlüssen kommen. Das bedeutet: weniger Dogma und mehr Spiritualität. Die Salafisten machen das zunichte, weil sich dank ihrer Auftritte die Diskussion nun vor allem darum dreht, ob Muslime generell rückständig und gewaltbereit sind. Ich fühle mich um mindestens 20 Schritte zurückgeworfen.

Abdurrahman Malik* (Name geändert) und Lamya Kaddor                     Foto: Michael Dannemann für DIE ZEIT

ZEIT: Sind Salafisten nicht spirituell?

Kaddor: Jede unorthodoxe Form, Gott näherzukommen, sehen Salafisten als Ketzerei an. Sie sagen, es habe mit der »reinen Lehre« nichts zu tun. Das erschreckt mich. Sie tun so, als kennten sie allein die Wahrheit. Doch kein Mensch kann das für sich in Anspruch nehmen – nur Gott. Ich komme aus einem konservativen Elternhaus, aber es gab dort keinen Zwang. Meine Eltern haben meinen beiden Schwestern und mir das Kopftuch empfohlen, aber uns nicht unter Druck gesetzt. Ich kannte als Kind schon etliche Koranverse. Aber mir reichte das nicht, irgendwann kamen die Fragen: Warum machen wir das so? Wozu all diese Regeln? Es fehlten zeitgemäße Antworten. Für Salafisten sind bereits Fragen tabu, sie überlassen alles den Gelehrten. Was Scheich XY sagt, ist Gesetz.

ZEIT: Halten das nicht auch viele Mainstream-Muslime so?

Kaddor: Ja, aber das kritisiere ich eben: Warum soll jemand, der Tausende Kilometer weit entfernt ist, uns in Deutschland sagen, was wir zu tun haben? Die Fixierung auf einen Gelehrtenspruch verhindert, dass man seinen eigenen Verstand einschaltet.

Malik: Moment mal: Auch Salafisten können zu eigenen Schlüssen kommen. Ja, es gibt eine starke Abhängigkeit von den Religionsgelehrten. Das heißt aber nicht, dass wir nicht die Verhältnisse zum Beispiel in Saudi-Arabien kritisieren. Warum darf eine Frau dort nicht Auto fahren, wenn Aischa, die Ehefrau des Propheten, auf einem Kamel geritten ist? Für mich passt das nicht zusammen. Da unterscheiden Frau Kaddor und ich uns nicht wesentlich.

Kaddor: Doch! Weil ihr euch solche Fragen überhaupt noch im Ernst stellt. Der Einfluss dieses engherzigen Verständnisses von Religion macht mir Angst. Warum beispielsweise dürfen Frauen Ihrer Meinung nach nicht vorbeten?

Malik: Die Gelehrten haben so geurteilt – diskutabel ist es aber.

Kaddor: Da sind meine Schüler weiter. Ich habe im Unterricht mal gefragt, ob jemand Probleme hätte, wenn ich ein gemeinsames Gebet leiten würde. Die Jungs meinten: Kein Problem.

Malik: Wenn Sie es theologisch begründen können – o.k. Ich bin auch nicht für eine Geschlechter-Apartheid. Mann und Frau können ganz normal miteinander umgehen, sich beim Gespräch in die Augen sehen. Die Grenze ist die Berührung.

Kaddor: Sie sind ja richtig gemäßigt! Ein strenger Salafist würde eine Frau nicht mal ansehen.

Malik: Ich nenne es reformatorisch-konservativ.

ZEIT: Das müssen Sie unseren Lesern erklären.

Malik: Reformatorisch-konservativ bedeutet: Wir richten uns nach dem Koran und der Sunna, aber wir wählen nicht, anders als die Hardcore-Salafisten, die strengste Variante der Auslegung, sondern versuchen, liberalere Standpunkte zu vertreten, ohne die Rechtsquellen zu ignorieren oder zu um-gehen, was wir Liberalen wie Ihnen vorwerfen.

Kaddor: Sie haben aber einen massiven Missionsanspruch.

Malik: Missionsanspruch, ja, aber zieht das Gewalt nach sich? Die salafistische Szene hat sich kollektiv – mit Ausnahme der Radikal-Militanten – gegen die jüngsten Ereignisse in NRW aus-gesprochen.

ZEIT: Sicherheitsbehörden sehen aber eine besondere Nähe der Salafisten zu Gewalt und Terror. Alle Dschihadisten, die sich von Deutschland aus aufgemacht oder in Deutschland zugeschlagen haben, hatten Kontakt zu salafistischen Netzwerken. Sie selbst werden von Glaubensbrüdern bedroht.

Malik: In der salafistischen Szene gibt es einen klaren ideologischen Bruch zwischen Moderaten und Radikal-Militanten, die Ge-walt gegen Muslime wie Nichtmuslime legitimieren und mit Al-Kaida sympathisieren. Wenn sich moderate Salafisten dagegen-stel-len, werden sie im schlimmsten Fall mit dem Tod bedroht – was auch mir passiert ist. Und wenn ich in letzter Zeit Zorn verspürte, dann nicht wegen liberalen Muslimen oder Nichtmuslimen, sondern wegen der Radikal-Militanten, die mei-ne Religion in den Dreck ziehen. Mit diesen »Brüdern« verbindet mich gar nichts.

ZEIT: Dennoch haben Gewalttäter geistige Führer, die sie anstiften. Ist jemand wie Frau Kaddor in Ihren Augen eine richtige Muslima?

Malik: Es gibt liberale Muslime in Frau Kaddors Verein, die ich aus meinem theolo-gischen Verständnis heraus zu Nichtmuslimen erklären müsste, da sie in einigen Punkten fundamental von der Glaubenslehre abweichen.

Kaddor: Woher nehmen Sie sich das Recht, darüber zu urteilen? Das kann nur der Allmächtige.

Malik: Wenn Positionen vertreten werden, die mit dem islamischen Recht nicht kompatibel sind, ist die Sache klar. Beispielsweise wenn homosexueller Geschlechtsverkehr legitimiert wird, ohne jede theologische Begründung.

ZEIT: In der deutschen Gesellschaft sind gleichgeschlechtliche Beziehungen heterosexuellen gleich-gestellt. Wie lebt man mit der öffentlichen Toleranz der »Sünde« als deutscher Salafist?

Malik: Wir müssen es tolerieren und einen vernünftigen Umgang mit diesen Menschen finden. Zum einen hat die Scharia hier keine staatliche Rechtsgültigkeit, und zum anderen kommen auch die Rechtsschulen des Islam
zu verschiedenen Urteilen, von der Ermahnung bis hin zur Todesstrafe. Der Salafistenprediger Pierre Vogel hat sich in dieser Frage klar zur Ermahnung bekannt. Ich selbst sehe das anders.

ZEIT: Sie plädieren für körperliche Strafe?

Malik: Nach islamischem Recht, ja.

Kaddor: Dafür gibt es im Koran keine Regelung. Es steht noch nicht einmal eindeutig irgendwo geschrieben, dass man als Schwuler in die Hölle kommt. Gott erwähnt auch an keiner Stelle, was mit Frauen passiert, die kein Kopftuch tragen – woher also diese ständige Strafandrohung?

ZEIT: Das ist aber doch das Merkmal des Salafismus hierzulande. Wer kein Muslim wird, kommt in die Hölle.

Malik: Nach der islamischen Glaubenslehre werden Nichtmuslime das Seelenheil nicht -erreichen. Von Teilen der Salafisten wird dies aber als systematische Angstpädagogik verwendet.

Kaddor: Beispielsweise gegen Juden und Christen – für Sie doch Ungläubige, die in Hölle kommen.

Malik: Für mich sind Juden wie auch andere Nichtmuslime Ungläubige.

Kaddor: Warum? Mit welcher Begründung?

Malik: Der Islam erhebt wie jede andere Religion einen Wahrheitsanspruch, der von Andersgläubigen nicht anerkannt wird. Diese Einstellung ist nicht speziell salafistisch.

ZEIT: Wegen solcher Ansichten wirft der Bundesverfassungsschutz Salafisten vor, einen Gottesstaat errichten zu wollen, in dem Grundrechte unserer Verfassung nicht gelten.

Malik: Es sind religiöse Überzeugungen, die un-sere persönliche Meinung darstellen und aus -unserer Sicht besser für die Gesellschaft sind.

ZEIT: Muss nicht jeder Salafist einen islamischen Staat anstreben?

Malik: Nach meinem Verständnis sollte ein Mus-lim das tun, ja. Es beginnt mit der einfachen Arbeit in der Gesellschaft, wie die Muslimbruderschaft es auch getan hat. Wir müssen an der Basis anfangen. Wir können es nicht von oben mit Gewalt durchsetzen. Übrigens ist ein islamischer Staat und die Anwendung der Scharia kein Patentrezept dafür, dass alles besser wird. Siehe Iran.

Kaddor: Da gehen bei mir alle Lampen an, wenn ich so etwas höre.

Malik: Es ist eine Utopie, in Deutschland zumindest.

Kaddor: Utopie? Schauen Sie sich doch die sogenannten islamischen Staaten an – wo bitte fördern die »islamische Werte«? Nicht islamische Staa-ten, die die Menschenrechte achten, sind für mich »islamischer« als die angeblich schariakonformen Staaten, die sie mit Füßen treten.

ZEIT: Herr Malik, müssten Sie mit Ihrem Wunsch nach einem Schariastaat nicht nach Saudi-Arabien auswandern?

Malik: Ja, da ist etwas dran. Aber die Gelehrten sagen: Wenn ihr in einem nicht muslimischen Staat eure Religion frei ausleben könnt, dann müsst ihr nicht zurückkehren. Deswegen wehre ich mich immer dagegen, wenn gesagt wird, in Deutschland gebe es eine Islamhetze. Die Muslime können ihre Religion frei ausleben, wir können hier unsere Moscheen bauen, Frauen können Kopf-tücher tragen, auch wenn es gewisse Repres-sionen im Alltag gibt. Aber wir können hier -wesentlich besser und freier leben als in vielen muslimischen Staaten.

ZEIT: Wäre es dann nicht besser, Ihre Glaubensgenossen würden statt des Korans mal das Grundgesetz verteilen?

Kaddor: … einige Muslime machen das ja schon.

Malik: Ich habe nichts dagegen, denn man muss sich an die Gesetze des Landes halten. Das schreibt die Scharia klar vor.

Kaddor: Das ist ja die Ironie: Nach der Scharia muss er zwar die Demokratie achten – aber nur, weil er hier lebt.

ZEIT: Aber unser Grundgesetz schreibt ja auch vor, dass niemand wegen seiner Rasse, seines Geschlechts, seines Glaubens oder seiner Sexualität diskriminiert werden darf.

Malik: Dementsprechend haben wir uns auch daran zu halten.

Kaddor: Finden Sie nicht, dass wir Muslime Besseres zu tun haben, als über Kopftücher zu diskutieren? Es kann doch nicht bloß darum gehen, die Jugend durch Verbote und Strafen zu besonders frommen Muslimen zu erziehen!

Malik: Es fehlt an Bildung, da stimme ich zu. Aber auch an religiöser Bildung.

Kaddor: Ja, eben. Und da sollten wir uns zu-sammentun. Wir leben in einer modernen Gesellschaft, die Globalisierung schreitet voran – und wir träumen uns eine kleine, muslimische Welt zusammen, die es so gar nicht gibt und nie gegeben hat.

Malik: Dem kann ich mich klar anschließen.

 

Die Fragen stellten Jörg Lau und Özlem Topçu

 

Warum es richtig ist, dass Deutschland atomwaffenfähige U-Boote nach Israel liefert

Mein Leitartikel aus der ZEIT vom 6. Juni 2010, S. 1:

Seit vier Jahren fragt sich die Welt, was genau Angela Merkel mit dem berühmten Satz vor der Knesset meinte, die Sicherheit Israels sei »Teil der deutschen Staatsräson«. Der Satz wird immer rätselhafter, je länger er dasteht. Der neue Bundespräsident Joachim Gauck hat sich auf seiner Israel-Reise geweigert, ihn nachzusprechen. Israels Sicherheit sei »bestimmend« für die deutsche Politik, verschlimmbesserte Gauck Merkel. Bestimmend?

Was heißt das? Eine mögliche, die handfeste Antwort liegt in Kiel im Dock, sie ist 57 Meter lang und wird bald an Israel ausgeliefert. Deutschland verkauft an Israel U-Boote, wohl wissend, wie jetzt der Spiegel berichtet, dass die Dolphins neben konventionellen Waffen auch Atomraketen tragen werden. Verbieten unsere Rüstungsexportrichtlinien nicht die Lieferung von Waffen in Krisenregionen? Und darf ein Land, das sich der atomaren Abrüstung verschrieben hat, atomwaffenfähige U-Boote an -Israel verkaufen?

Die Antwort ist Ja. Es ist richtig, dass Deutschland Israel U-Boote liefert – selbst dann, wenn diese mit strategischen Atomraketen ausgestattet werden. Israel ist in der nüchternen Sprache der Militärstrategen ein one-bomb country, also mit einer einzigen Bombe auszulöschen. Deutsche U-Boote verleihen dem winzigen Land eine »Zweitschlagfähigkeit«: die Möglichkeit, einen Gegner auch nach einem vernichtenden Schlag noch zu treffen. Deutschland sichert Israels Existenz, indem es dem jüdischen Staat zu glaubwürdiger Abschreckung verhilft. Boote mit nuklearen Marschflugkörpern verdeutlichen den Feinden des jüdischen Staates den Preis einer Aggression. Israels Atomrüstung ist der Reflex auf eine existenzielle -Be-drohung, die bei allen Fortschritten der Nahostpolitik geblieben ist. Das anzuerkennen bedeutet nicht, die Tagespolitik der Regierung Netanjahu gutzuheißen.

Wer Israels Sicherheitsgefühl erhöht, verhindert hoffentlich den Erstschlag

Aber verträgt sich der Waffendeal mit den Warnun-gen deutscher Politiker vor einem Präventivschlag Israels gegen Irans Atomanlagen? Unterhöhlt er nicht die Iran-Diplomatie? Im Gegenteil. Die deutschen Boote wären militärisch-technisch ungeeignet für einen Angriff auf Irans Atomanlagen. Sie geben Israel aber die »strategische Tiefe«, die die Geografie dem Land zwischen Mittelmeer und Jordan verweigert.

Wer Israels Sicherheitsgefühl durch plausible Abschreckung erhöht, macht den Erstschlag unwahrscheinlicher – und zugleich wahrscheinlicher, dass die Menschen in Tel Aviv und Jerusalem aus einer Position der Stärke der Diplomatie im Iran-Konflikt eine Chance geben. Der U-Boot-Deal hat eine übersehene Pointe, weil er Benjamin Netanjahus apokalyptischer Iran-Rhetorik zuwiderläuft: Ein Israel mit Atom-U-Booten, vor denen die Staaten der Region sich fürchten, steht nicht wehrlos vor einem »zweiten Auschwitz«, wie der Premierminister gern suggeriert.

Es steckt eine weitere gute Nachricht in der U-Boot-Lieferung, die der offiziellen Doktrin widerspricht: der Kern für ein Containment Irans, für eine Eindämmungspolitik, die in Israel noch als Tabu behandelt wird. Weil wir Deutschen seit zwei Jahrzehnten nur noch von Freunden umgeben sind, haben wir die Lehren des Kalten Krieges vergessen. Eine lautet: Wer den Gegner für abschreckbar hält, unterstellt ihm eine Rationalität, die zunächst Eindämmung und Verhandlungen und dann schließlich Koexistenz möglich macht. Wer mit strategischen Waffen droht, sieht die andere Seite als berechenbaren Gegner, dem an Machtentfaltung und Selbsterhaltung mehr liegt als an dem apokalyptischen Ziel, »Israel aus den Annalen der Geschichte zu tilgen« (Ahmadinedschad).

Warum aber eigentlich jetzt erst die Aufregung? Die deutsche U-Boot-Politik ist ja nicht neu: Unter Helmut Kohl wurden bereits drei Dolphins ausgeliefert, Gerhard Schröder bewilligte zwei weitere, und Angela Merkel sagte dann schließlich ein sechstes zu. Doch erst Merkel muss eine Politik rechtfertigen, die man ihren Vorgängern noch stillschweigend durch-gehen ließ.

Es gibt offensichtliche Gründe: Ein israelischer Schlag gegen den Iran ist wahrscheinlicher geworden. Die aktuelle israelische Regierung treibt durch hartleibige Siedlungspolitik selbst Freunde zur Verzweiflung. »Völkerrechtswidrig« hat Angela Merkel die Siedlungen genannt. Netanjahus Unwilligkeit zu Friedensverhandlungen hält sie für selbstzerstörerisch. Trotzdem lässt sie zu Recht weiter Boote liefern, denn die haben strategische und keine tagespolitische Bedeutung.

Die deutsche Opposition fordert nun, die Lieferungen an israelisches Wohlverhalten in der Palästinafrage zu knüpfen. Falsch: Nichts würde den Palästinensern mehr schaden, als ihr Schicksal mit dem israelischen Trauma zu verbinden, dass der Judenstaat im Zweifelsfall immer allein dasteht.

Deutsche Regierungen – linke wie rechte –  haben seit Jahrzehnten in Israels Sicherheit investiert. Sie sollten selbstbewusst dazu stehen. Insofern schadet es nicht, dass beim sechsten U-Boot endlich richtig öffentlich diskutiert wird.

Deutsche Staatsräson kann aber nicht bedeuten, selbstschädigende israelische Politik zu stützen. Im Gegenteil: Für Israels Sicherheit eintreten bedeutet, Netanjahu zu Siedlungsstopp und Friedensverhandlungen zu drängen – noch stärker als bisher. Deutschland hat nicht zuletzt durch die U-Boot-Deals verdient, als kritischer Freund ernst genommen zu werden.

 

Warum nur Muslime den Salafismus besiegen können

Im folgenden dokumentiere ich einen beeindruckenden Beitrag von Ahmad Mansour, seit Herbst 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei dem Projekt „Astiu“ (Auseinandersetzung mit Islamismus und Ultranationalismus) beim „Zentrum demokratische Kultur“.  Voher hat er sich bereits als Gruppenleiter bei dem Projekt „Heroes“ engagiert, das sich gegen „die Unterdrückung im Namen der Ehre und für Gleichberechtigung“ einsetzt.

Ahmad Mansour ist Palästinenser und studierte in Tel Aviv Psychologie, Soziologie und Anthropologie. Seit 8 Jahren lebt er in Berlin und beendete sein Studium 2009 an der HU als Diplom-Psychologe. Mansour ist Mitbegründer des 2010 entstandenen Netzwerkes europäischer liberaler Muslime für Demokratie und Menschenrechte.

Hier sein Aufruf:

 

„Vorab möchte ich etwas klar stellen: Ich bin Muslim, aber Salafisten sind nicht meine Brüder, und ich bin auch kein Teil von irgendeiner imaginären, weltweit unterdrückten muslimischen Gemeinde, der so genannten Umma. Salafismus repräsentiert mich als Individuum und als Menschen nicht. Sie repräsentieren den Islam nicht – nicht wie ich ihn verstehe! Im Gegensatz zu ihnen sind für mich Meinungsfreiheit, Demokratie, Menschenrechte und Toleranz keine Einbahnstraße und kein Instrument, um hierzulande Hass frei zu verbreiten!

 

Es wurde viel über den Salafismus geschrieben und berichtet. Leider habe ich in dieser aktuellen Debatte die muslimischen Stimmen vermisst! Vereine und Verbände erkennen die Gefahren des Salafismus nicht und handeln aus sehr eingeschränkter Sicht. Manche versuchen das Problem zu verharmlosen. Manche stehen sogar mit Salafisten auf einer Bühne – wie der Rat der Muslime in Bonn – während Polizisten angegriffen und schwer verletzt werden und wundern sich, dass es ihnen nicht gelingt, diese Gewalt zu stoppen. Und für manche sind Salafisten Brüder und Schwestern im Islam!

 

Das ist keine Überraschung: Denn Salafismus ist letztendlich nur die Zuspitzung von Inhalten, die für viele muslimischen Vereine, Verbände und Mitbürger Teil ihres Glaubens sind.

 

Auch wenn die salafistische Szene sehr gespalten ist, und auch wenn die so genannten Dschihadisten, die zum bewaffneten Kampf aufrufen und ihn legitimieren, die Minderheit bei den Salafisten ausmacht, bin ich der festen Überzeugung, dass der Salafismus als Ideologie im Widerspruch zu unserem Rechtsstaat steht. Gewalt fängt nicht erst da an, wo Menschen im Namen der Religion auf andere schießen. Für mich sind Polygamie, Geschlechtertrennung, Exklusivitätsanspruch, die Ablehnung der Demokratie und des demokratischen Rechtssystems, sowie der Glaube, Menschen vor ihrem gotteslosen und elenden Leben retten zu müssen, schon eine Form der Gewalt, welcher Einhalt geboten werden muss.

 

Um dem Salafismus Einhalt gebieten zu können, müssen wir die Gründe für die rasante Verbreitung solchen Gedankenguts und der Gewaltexzesse der letzten Wochen verstehen. In den letzten Jahren haben sich immer mehr gewaltbereite und gewaltverherrlichende Menschen dieser Strömung angeschlossen. Der Salafismus bot ihnen eine Bühne, auf der sie ihre Aggressionen politisch und religiös ausleben können. Jene Anhänger, die sich immer gern als Beleidigte und Entrechtete darstellen, haben sich über die Provokation der Pro NRW gefreut. Für sie war dies die große Chance, ihre vom Opferstatus geprägte Weltanschauung zu bestätigen und sich und ihren Anhängern noch einen Grund zu liefern, gegen diese Gesellschaft zu rebellieren.

 

Wir müssen begreifen, wieso das salafistische Gedankengut insbesondere auf manche Jugendliche eine magnetische Anziehungskraft ausübt. Es liegt nicht nur an der gescheiterten Integration, wie manche gerne behaupten, um die Schuld von der eigenen Community weg zu schieben. Wir Muslime müssen vielmehr die Gründe in unseren eigenen Reihen suchen. Der Salafismus hat schließlich nichts Neues erfunden, sondern ein weit verbreitetes Islamverständnis in eine extreme Form gegossen.

 

Ausgrenzung, Entfremdung, die Pflege der Opferrolle, Aufwertung der eigenen Anhänger und Abwertung aller anderen, die Behauptung, die absolute und einzige Wahrheit zu besitzen, das Verbot, Aussagen zu hinterfragen, die Ablehnung neuer zeitgemäßer oder wissenschaftlicher Islaminterpretationen, die Tabuisierung der Sexualität, eine einschüchternde Pädagogik, die die Angst vor der Hölle über alles setzt, der Anspruch, auf alles eine Antwort zu haben und das Leben des Propheten buchstäblich nachahmen zu müssen – das alles sind Aspekte, die bei den Jugendlichen sehr gut ankommen. Der Salafismus bietet ihnen den Schein der Sicherheit durch eine glasklare Unterscheidung zwischen richtig und falsch. Was die Sache schwierig und zugleich dringlich macht: Es geht hier um Aspekte, die auch zentrale Bestandteile des Islamverständnisses eines „Mustafa-Normal-Muslims“ sind. Kontroll-orientierte Erziehungsmethoden, die auf Kollektivität und Respekt vor Autorität abzielen, wirken hier als Verstärker und begründen die Anfälligkeit von Jugendlichen für die Argumentationen der Salafisten. Mit ihren klaren Verhaltensvorgaben geben sie Halt und erleichtern scheinbar das Leben.

 

Um solchem Gedankengut Einhalt zu gebieten, brauchen wir starke und überzeugende islamische Vorbilder, die in der Lage sind, die Debatte über islamische Werte jenseits von Opferrolle und Diskriminierung zu führen. Wir brauchen eine mutige und zeitgemäße Islaminterpretation mit klaren Positionen im Hinblick auf unsere demokratischen Werte und unser Grundgesetz. Wir brauchen eine Islaminterpretation, die kritikfähig und in der Lage ist, einen demokratiefähigen Islam theologisch zu begründen!

Wo sind diese Vorbilder?“