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Warum Hisbollah endlich auf die EU-Terrorliste gesetzt werden muss

Meine Analyse aus der ZEIT von heute:

Erst war es nur ein Verdacht, als letztes Jahr im Juli sechs israelische Touristen und ein bulgarischer Busfahrer ermordet wurden: Dahinter steckt die libanesische Hisbollah, und hinter ihr wahrscheinlich der Iran.

Jetzt ist die erste Vermutung bestätigt worden: Im Touristenort Burgas an der bulgarischen Schwarzmeerküste haben zwei Hisbollah-Agenten das Attentat vorbereitet. Der Innenminister Tzvetan Tzvetanov hat das in Sofia verkündet. Das wird Folgen haben – für die europäische Nahoststrategie und auch für die deutsche Antiterrorpolitik.

Dass die libanesische Islamistengruppe in Europa Israelis umbringt, macht eine stillschweigende Abmachung hinfällig. Sie ging so: Wir setzen euch nicht auf die Terrorliste. Ihr haltet euch dafür in Europa zurück.

Hisbollah hatte zwar schon vorher außerhalb des heimischen Libanon Anschläge begangen: Zwei Mal wurden in den neunziger Jahren in Buenos Aires verheerende Attentate auf israelische beziehungsweise jüdische Einrichtungen verübt: über 100 Tote und 500 Verletzte waren die Folge. Seither wuchs der Druck vonseiten der Israelis und der Amerikaner auf die Europäer, Hisbollah auf die Liste der Terrororganisationen zu setzen. Deutschland, Frankreich und Spanien haben sich dem aber bisher immer widersetzt: mit dem Argument, Hisbollah habe eine doppelte Natur; als militante Gruppe einerseits, die man bekämpfen müsse, und als legitime Partei andererseits (im Libanon), mit der man reden und verhandeln könne.

Das war nie ganz überzeugend: Denn verhandeln kann man – siehe Hamas – auch mit verbotenen Organisationen (wenn auch nur heimlich). Und die Vorstellung, bei Hisbollah zwischen militärischem und friedlichem Flügel unterscheiden zu können, war naiv: Hisbollah verhielt sich hier nur darum ruhig, weil sie Deutschland als Rückzugsraum nutzen konnte – um Propaganda zu treiben und Spenden zu sammeln. Als gemeinnützige Vereine getarnt (»Waisenkinderverein Libanon«), können Hisbollah-Gruppen hierzulande bis heute Geld eintreiben. Etwa tausend Aktivisten leben in Deutschland. Die Behörden beobachteten sie –und ließen sie gewähren, weil sie vermeintlich keine Gefahr »für uns« darstellen. Diese Haltung stand merkwürdig quer zum deutschen Bekenntnis, der Sicherheit Israels verpflichtet zu sein.

Nach den Enthüllungen über das Attentat von Burgas ist der faule Deal mit Hisbollah geplatzt. Eine Gruppe, die in Europa Menschen in die Luft sprengt, gehört auf die Liste der Terrororganisationen. Ausreden gibt es jetzt nicht mehr, und Deutschland wird das Mauern aufgeben müssen.

Und damit auch die bequeme Theorie über die doppelte Natur von Hisbollah: Sie sei militante Gruppe und zugleich Wohlfahrtsorganisation und Partei, mit erheblichem Einfluss auf die libanesische Regierung. Um den fragilen Frieden des Libanons nicht zu gefährden, dürfe man die Schiitenmiliz nicht in die Ecke treiben.

Da hat sie sich nun selbst hinbefördert. Es geht bei all dem übrigens nicht nur um Israel, die »zionistische Einheit«, der Hisbollah Vernichtung geschworen hat. Der Arabische Frühling und seine regionalen Folgen haben längst gezeigt, dass Hisbollah auch jenseits des Konflikts um Israel eine destruktive Kraft ist. Im syrischen Bürgerkrieg stellt Hisbollah sich ohne jede Rücksicht auf die Seite von Baschar al-Assad. Sie unterstützt seinen Krieg gegen das eigene Volk mit Kämpfern und Material, so wie Assad Hisbollah immer unter Waffen gehalten hat.

Deutschland verurteilt Assads terroristische Methoden der Kriegsführung. Es wird nun auch Hisbollah ächten müssen, die ihrem Paten zur Seite steht.

 

Stalingrad und meine Familie

Überall Stalingrad-Gedenken. Ich kann das nicht lesen, nur überfliegen. Stalingrad hat meine Familie kaputt gemacht. Jedenfalls die eine Hälfte davon. Ich hatte das Glück, in der anderen aufzuwachsen.

Mein Onkel ist im Januar vor 70 Jahren mit der 6. Armee in Gefangenschaft geraten. Es war der Anfang vom Ende für Hitlerdeutschland, und erst der Beginn des großen Tötens in den deutschen Vernichtungslagern, wo man gerade begonnen hatte, mit Gas als Mordmittel zu experimentieren.

Er war ein einfacher Infanteriesoldat. Er kam erst nach vielen Jahren Gefangenschaft zurück nach Deutschland. Mehrere Zehen hat er in Sibirien gelassen, und auch sonst noch vieles. Er war ein eher kleiner, drahtiger Mann, obwohl er mir als Kind natürlich groß und stark und furchteinflößend schien. „Die Großen und Sportlichen sind alle tot. Die haben bloß ein paar Wochen überlebt“, hat er einmal gesagt, in Erinnerung an die Gefangenschaft.

Er war mein Feind, seit ich anfing selber zu denken. Nicht so werden wie er, bloß nicht so werden. Es war ungerecht, es war die reine Abwehr dem Horror gegenüber, den er mit sich herumtrug.

Zu spät habe ich verstanden, dass Viktor, wie er ironischer Weise hieß, ein geschundener, betrogener, wütender Verlierer war – ein Opfer. Er wollte keins sein, er hat sich geschämt für den verlorenen Krieg. Und so gerierte er sich lieber als Überzeugungstäter für eine gute Sache. Bis zum Ende verteidigte er die Nazi-Zeit und den Krieg. Er las die National-Zeitung. Das ideologische Gedröhne war kein Ersatz für alles das, was er nicht erzählen konnte: Er war überwältigt von den Erfahrungen des Todes, des Tötens, des Hungerns, der Verzweiflung in den langen Jahren der Gefangenschaft.

Er hatte keine Worte dafür. Die Rechthaberei über Hitler, die Nazis, den Krieg, trat an die Stelle der wirklichen Erlebnisse, die gelegentlich nur aufblitzten. Er konnte nicht darüber reden, ich wollte nicht zuhören. Seine Geschichten vom Töten, vom Beerdigungskommando im Lager mit den gefrorenen Leichen (die ein Geräusch wie Holz machen, wenn man sie vom Wagen ablädt), von Kameradschaft und Verrat – ich wollte sie nicht hören. Das machte ihn wütend, und so schrieen wir uns an, bis ich ihm nur noch aus dem Weg ging. Selbst noch seine Zärtlichkeiten waren brutal – Kopfnüsse, Schwitzkasten, freundschaftliche Schläge auf den Oberarm, nach denen blaue Flecke blieben.

Ich wünschte, ich hätte zugehört: Der katholische Junge aus dem Eifeldorf, den seine erste Reise gleich an die Ostfront und dann in den sibirischen Gulag führt – was ging in ihm vor? Einmal sagte einer seiner Freunde, auch er ein Ostfront-Veteran: „Natürlich war es nicht einfach, auf Menschen zu schießen. Beim ersten Mal hast du nachher geheult. Und dann hast du doch auf sie geschossen wie die Hasen.“ Ich hatte den beiden gerade trotzig gesagt, ich werde den Wehrdienst verweigern. Das hatte sie wütend gemacht: „Ihr macht es euch leicht, wir hatten die Möglichkeit nicht.“ Damals habe ich diese Kommentare gehasst, heute weiß ich, dass die bitteren alten Männer natürlich auch Recht hatten.

Der Schmerz über das Erlebte, verdoppelt dadurch, dass es im Rahmen eines Menschheitsverbrechens im Vernichtungskrieg stattfand: wie sollte er davon erzählen? Es ging nicht. Er ist tot, seit vielen Jahren schon. Vor kurzem war ich wieder an seinem Grab, hoch oben auf dem Bergfriedhof über unserem Dorf. Es tut mir leid, ihn nicht angehört zu haben. Niemand hörte zu. Keiner von uns hielt damals diese Geschichten aus. Nicht einmal seine Frau, vielleicht sie sogar am wenigsten. Die Einsamkeit der Soldaten.

Seine beiden ältesten Söhne, meine lieben Vettern, mit denen ich als Kind viel gespielt habe, sind auch bereits tot. Sie haben sich auf verschiedene Weise aus dem Leben geschafft, der hoch begabte und sensible Achim zuerst und auf die grausamste Art. Jeder Mensch stirbt im Geheimnis, und meine Vettern werden verschiedene Gründe gehabt haben, nicht mehr leben zu wollen. Bernd, der Älteste, hat den florierenden Bäckereibetrieb meines Onkels, von dem auch mein Teil der Familie jahrzehntelang sehr gut gelebt hat, systematisch heruntergewirtschaftet. Es ist fast, als hätte er das Lebenswerk seines Vaters auslöschen wollen. Und das hat er ja auch getan, sich selbst am Ende eingeschlossen. Die Wut und den Hass des Vaters hat er nach innen gerichtet. Gibt es so etwas: Scheitern als Rache und Wiedergutmachung?

Ich weiß, es ist heikel, so zu spekulieren. Es ist jetzt schon Wochen her, seit ich an dem Grab meines Vetters gestanden habe, der nur zwei Jahre älter war als ich. Aber wenn ich heute über Stalingrad lese und den Untergang und die Kapitulation der Sechsten Armee – 3300 Kilometer von dem Ort, an dem ich aufgewachsen bin – , dann ist mir, als sei das meine Geschichte.

 

Mursi in Berlin: Lehrjahre eines Antizionisten

Wenn ein ehemaliges Mitglied einer radikalen Gruppe in ein politisches Amt kommt, ist es unvermeidlich, dass seine Vergangenheit durchleuchtet wird. Joschka Fischer hätte Mohammed Mursi darüber sicher ein paar interessante Hinweise zu geben.

Ich bin der Meinung, entscheidender für die Beurteilung eines Politikers ist, was er heute sagt, als was er früher einmal gesagt hat. Noch wichtiger: Wie er heute handelt. Das ist der Prüfstein, und nicht so sehr, was er früher für Sprüche geklopft hat. Ob er etwa beim PLO-Kongress 1969 dabei war, wie der spätere deutsche Außenminister, wo doch damals vom „Endsieg“ der Palästinenser über Israel geträumt wurde. In Israel hat man ihm das gerne nachgesehen – er war jung und brauchte den Thrill, und später wurde er dennoch einer der verlässlichsten Freunde Israels in der deutschen Linken (wo es davon nicht gerade wimmelt).

Ich will die Parallele nicht zu sehr strapazieren, aber beim Anhören des Vortrags von Mursi vorgestern abend im Berliner Humboldt-Forum mußte ich doch sehr an Fischer denken. So sehr nämlich die von Memri dokumentierten Äußerungen Mursis die israelische Öffentlichkeit erregen – so cool bleibt einstweilen die israelische Politik und Diplomatie.

Nach dem Motto: Was erwartet Ihr denn, Leute! Der Typ ist Muslimbruder, und die sind imprägniert mit „Antizionismus“. Das ist nun mal seit Jahrzehnten ein Hauptgeschäftsgebiet dieser Truppe! Und zwar um so mehr, als seit Sadat, fortgeführt von Mubarak, der Kalte Frieden zwischen uns herrscht, inklusive einer ziemlich guten Sicherheitskooperation! Die Glaubwürdigkeitslücke zwischen inoffizieller Kooperation und öffentlicher Israelkritik in Ägypten haben die Brüder immer ausgenutzt. Sie haben Mubarak und die Seinen, aber auch die PA und Abbas als Geschöpfe Israels und der USA angeprangert und den „Widerstand“ (i.e. Hamas) glorifiziert. Genau das tut Mursi ja auch in den betreffenden Videos, und dann würzt er das Ganze noch mit einer Prise koranischem Antijudaismus, „Affen und Schweine“ inklusive.

So machen es halt die Religiösen. Nur soll niemand glauben, dass der säkulare Israelhass harmloser ist. Glauben Sie etwa, ein Mubarak hatte etwas für Israel übrig? Er hat immer wieder hetzen lassen, wenn es ihm passte. Das Ressentiment gegen den jüdischen Staat ist weit verbreitet. Mursi ist noicht mehr als Mainstream. Es ist eben nicht leicht, mehrere Kriege zu verlieren. (Deutsche kennen sich damit aus.) Der israelisch-arabische Konflikt: die eine Seite kann nicht glauben, dass sie gewonnen hat, während die andere Seite nicht zur Kenntnis nehmen kann, dass sie verloren hat. Und dann noch zuzusehen, wie ein kleines Land voller Einwanderer in Wohlstand und Freiheit und Pluralismus  lebt, obwohl die ganze Nachbarschaft ihm mehrfach schon das Lebenslicht auszublasen versucht hat: not an easy one.

What else is new?

Viel wichtiger für die israelische Sicht (und auch die deutsche) ist, dass Mursi beim letzten Gaza-Krieg sehr hilfreich war, Hamas und die anderen, noch radikaleren Gruppen, in die Schranken zu weisen. Er hat den Konflikt eben nicht angefacht, wie es die Iraner getan hätten, er hat vermittelt und Israel damit geholfen, die Sache zu begrenzen. Übrigens: Was die anti-schiitische Allianz angeht, die sich gegen Teheran und Damaskus aufbaut, war er auch sehr klar, Islamist hin oder her. Er ist zwar nach Teheran zum Treffen der Blockfreien gefahren, was schon einige Ängste schürte, aber dort hat er dann Ahmadinedschad und Assad den Kopf gewaschen, vor laufenden Kameras. Klar, das Kalkül geht auf einen Sieg der Muslimbrüder auch in Syrien gegen die herrschenden Alawiten, aber für Israel war es dennoch erleichternd zu sehen, dass Ägypten sich nicht in die „Achse des Widerstands“ einordnet.

Der israelische Botschafter in Berlin war bei Mursis Rede anwesend. Er saß gleich in der dritten Reihe und machte sich Notizen. Er ist ein Spezialist für die arabische Welt, hat dort viel Zeit verbracht und spricht die Sprache. Es muß ihm gefallen haben zu hören wie Mursi bei jeder Gelegenheit in Berlin auf seine Äußerungen von 2010 angesprochen wurde. Mursi war sehr genervt und sagte, er habe „heute schon fünf mal“ auf diese Fragen geantwortet.

Man konnte dann einen Mann erleben, der gerade Bekanntnschaft mit der Bürde seines Amtes macht. Die Zeit ist vorbei, als er ohne Konsequenzen Sprüche klopfen konnte. Er ist ohne das erhoffte Geld, nur beladen mit guten Ratschlägen, aus Berlin abgefahren. Er hat niemanden mit seinen Ausflüchten überzeugt, die Äußerungen seien „aus dem Kontext gerissen“ worden.

Sein Versuch einer Erklärung hat alles noch schlimmer gemacht. Kurz gesagt lief der darauf raus zu sagen, er habe nichts gegen Juden (schon aus religiösen Gründen, Buchbesitzer und so), seine Äußerungen hätten den „Zionisten“ gegolten. Er sprach weiter von den „Zionisten“ und ihren Verbrechen. Er verfing sich in Geschichten über bombardierte Schulen und angegriffene Züge, in denen Zivilisten zu Schaden kamen. Es sprach nicht von „israelischen Verbrechen“ oder von „Exzessen des israelischen Militärs“. Nein, Zionismus sagt er, weil er das Wort Israel nicht in den Mund nehmen will. Die Dämonisierung der „Zionismus“ als Ideologie, die aus harmlosen Juden Verbrecher macht, ist politisch schlimmer als ein altes Vorurteil gegen eine andere Religion.

Darum haben mich seine Versuche einer Einordnung überhaupt nicht beruhigt. Mursis politisiches Handeln – oder das seines Apparates – ist bisher (!) weitaus realistischer und pragmatischer als seine Ideologie.

Immerhin: Er hat seine Äußerungen nicht wiederholt. Er hat nicht einmal behauptet, dass sie so noch gelten. Zu sagen, sie seinen aus dem Kontext gerissen worden, ist ja nur eine gesichtswahrende Form zuzugeben, dass sie so nicht mehr gesagt werden können.

Bleibt das Problem mit dem „Zionismus“-Begriff Mursis. Mit dem Kopf steckt dieser überforderte Mann noch mitten in der Geisteswelt der islamistischen Opposition.

Mag sein, dass ihn bald die nächste Revolution hinwegfegt. Vielleicht aber auch nicht. Es wird spannend sein zu sehen, was passiert, wenn die  Ideologie auf die Realität trifft, wie hier in Berlin.

 

 

Another Brick in The Wall. Antisemitismus und Pop-Kultur

Cartoon-Sunday-Times

Dieser Cartoon ist am Sonntag in der Londoner Sunday Times erschienen – am internationalen Holocaust-Gedenktag, mit dem der Befreiung des Lagers Auschwitz gedacht wird.

Benjamin Netanjahu baut eine Mauer, in der arabisch aussehende Menschen elendig zugrunde gehen. Der Zement dieser Mauer ist das Blut dieser (palästinensischen?) Opfer. Die Darstellung des wahrscheinlich auch nächsten israelischen Premiers erinnert an alte antisemitische Klischees.

Es ist schockierend, dass eine einstmals seriöse Zeitung wie die Times ein solches Stück Hasspropaganda veröffentlicht. Nachdem einige jüdische Organisationen protestiert haben, verteidigt sich die Times mit dem merkwürdigen Argument, es handele sich zwar um eine „typisch robuste“ Karikatur von Gerald Scarfe, aber ihr Erscheinen am Holocaust-Gedenktag sei „rein zufällig“. Schwer zu glauben, denn die Times enthält einen anderen Beitrag zum Gedenktag (in dem der Antisemitismus des Holocaustleugners David Irving kritisiert wird). In Wahrheit sei das hier ein Beitrag zu den israelischen Wahlen in der Vorwoche.

Es gibt aber überhaupt keinen Bezug zu den Wahlen. Dass Netanjahu durch das Ergebnis geschwächt hervorgeht und eine neue Koalition bilden muss, ist nicht Thema. Nein, er baut eine Mauer mit dem Blut der Palästinenser. Das ist eine kranke Verdrehung der Tatsachen: Die israelische Sperrmauer ist errichtet worden, um nach der Erfahrung der „Zweiten Intifada“ das Einsickern palästinensischer Terroristen nach Israel zu verhindern – ganz offenbar erfolgreich, wie die Bilanz der letzten Jahre zeigt. Dass der Verlauf dieser Mauer auch teilweise problematisch ist, weil sie palästinensisches Gebiet durchkreuzt („land grab“) ist wohl wahr. Aber auch das ist hier nicht Thema.

Nein: Das Thema „Mauerbau“ wird hier mit einer der ältesten antisemitischen  Legenden vermischt, mit dem Ritualmordmythus vom  „Blut in den  Matzen“. Die Times hätte diese Karikatur nicht drucken dürfen.

Gerald Scarfe ist ein Promi unter den Karikaturisten. Er ist weltberühmt durch die Cover Art für Pink Floyds „The Wall“. Offensichtlich hat er hier seine eigene Ideenkiste geplündert : „Another Brick in the Wall“, ein Emblem der Popkultur, ist nun verschmolzen mit antisemitischer Propaganda. Man kann hier musterhaft sehen, wie „linker“ Antizionismus mit schierem, altmodischem Antisemitismus fusioniert.

Roger Waters, der Pink-Floyd-Kopf, hat in den letzten Jahren seinerseits durch ein Spiel mit antisemitischen Symbolen auf sich aufmerksam gemacht, das natürlich im Geiste politisch korrekter Israelkritik daherkam. Die Animation zum Lied „Goodbye, Blue Sky“ aus „The Wall“ zeigte Flugzeuge, die (neben anderen totalitären oder religiösen Symbolen) Davidsterne und Dollarzeichen als Bomben abwarfen.

Ich muss sagen, dass ich „The Wall“ immer abstoßend und dumm fand, und die Animationen von Gerald Scarfe abscheulich. Die Glorifizierung der unschuldigen Kindheit, das krude anti-zivilisatorische Ethos („education=thought control“), die primitive Faschismustheorie (mother built a wall around me), das Schillern zwischen Faszination durch den Totalitarismus und primitiv-anarchistischer Ablehnung jeglicher Autorität: ein unerträglich pompöses, humorloses und dämliches Machwerk des Art Rock in seiner Spätphase.

Gerald Scarfes Entgleisung mit seiner Netanjahu-Karikatur bestätigt diese Abneigung. Aber was heißt schon Entgleisung? Eigentlich war der Hass schon in seiner Arbeit für Pink Floyd angelegt. Antizivilisatorisches Ressentiment endet allzu oft im Antisemitismus.

 

Der saudische Autor Turki Al-Hamad muss freigelassen werden!

Turki Al-Hamad ist schon seit vielen Jahren einer meiner Lieblingsautoren. Lange vor dem so genannten Arabischen Frühling hat der saudische Liberale – ja, sowas gibt es – fulminante Plädoyers für eine kulturelle, religiöse und politische Öffnung gehalten. Immer war die Notwendigkeit einer arabischen Selbstkritik sein Thema. Seine Romane über die Entwicklung des Helden Hisham Al-Abir gehören zu den aufregendsten der arabischen Gegenwartsliteratur. Leider konnte ich nur die ersten beiden aus seiner Trilogie lesen, die es auch auf Englisch gibt (der erste – „Adama“ ist sogar mal ins Deutsche übersetzt worden, eine Schande, dass die beiden anderen nicht folgten).

Turki

Ich habe vor Jahren auch einmal versucht, Kontakt aufzunehmen und Turki Al-Hamad als Autor zu gewinnen. Leider kam keine Reaktion. Ich schloss daraus, dass die Lage vielleicht zu heikel war. Es ist eines, die Situation in der arabischen Presse zu kritisieren, die ja vielfach auch aus saudischen Quellen finanziert wird. Und ein anderes, das in ausländischen Medien zu tun.

Nun ist Turki Al-Hamad verhaftet worden. Am 24.12.2012 haben die saudischen Behörden ihn festgenommen. Es gibt keine öffentliche Anklage. Aber man muss annehmen, dass eine Reihe von Tweets den Hintergrund der Verhaftung abgeben. Qantara.de berichtet:

Nicht zuletzt wandte sich al-Hamad in seinen Tweets gegen die in seiner Heimat dominierende, extrem strikte wahhabitische Doktrin: „Weil ich ein Muslim in der Nachfolge Mohammeds bin, lehne ich den Wahhabismus ab“, lautete eine seiner Botschaften, eine andere, noch wesentlich brisantere postulierte: „So wie unser geliebter Prophet einst gekommen ist, um den Glauben Abrahams wieder ins Lot zu bringen, ist nun die Zeit gekommen, da wir jemanden brauchen, der den Glauben Mohammeds wieder ins Lot bringt.“

Provokation und politische Herausforderung für das saudische Herrscherhaus: „Weil ich ein Muslim in der Nachfolge Mohammeds bin, lehne ich den Wahhabismus ab“, ließ Turki al-Hamad per Twitter verlautbaren. Anderweitig hatte al-Hamad sich scharf über den Aufstieg islamistischer Parteien in der arabischen Welt geäußert: „Ein neues Nazitum erhebt sein Gesicht über der arabischen Welt, und sein Name ist Islamismus. Aber die Zeit des Nazismus ist vorüber, und im Osten wird wieder die Sonne aufgehen.“

Die Bundesregierung ist dabei, dem saudischen Königshaus bei der Aufrüstung zu helfen. Sie sollte deutlich machen, dass solche Geschäfte der deutschen Öffentlichkeit schwer zu vermitteln sind, wenn das Land die Menschenrechte mit den Füßen tritt.

Klingt naiv? Ich denke, der vermeintliche „Realismus“ der Stabilitätspolitik hat sich in den letzten Jahren als naiv erwiesen. Im Nahen Osten steht kein Stein mehr auf dem anderen, weil wir auf die falschen Stabilisatoren gesetzt haben.

Da diese Regierung das freiwillig natürlich nicht tun wird, muss die Öffentlichkeit ihr klar machen, dass es nicht gleichgültig ist, ob Autoren wie Turki Al-Hamad mundtot gemacht werden. Das ist eine Lektion zwei Jahre nach dem Beginn des Arabischen Frühlings: Man kann Bücher verbieten, Twitterer wegsperren und Dissidenten foltern. Am Ende nützt es nichts.

p.s. Wer sich über den Autor und seine öffentlichen Interventionen ein Bild machen will, guckt hier.

 

Rückt Israel wirklich in die Mitte?

Die israelische Linke freut sich, und die Kommentatoren im Ausland stimmen ein: Israel „rückt nicht nach rechts, sondern zurück in die Mitte“ – das soll das Wahlergebnis vom Dienstagabend bedeuten. So werden die Verluste von Netanjahu und Lieberman, die Gewinne von Yair Lapids neuer „Zukunftspartei“, das zwar sehr gute, aber nicht überwältigende Abschneiden von Naftali Bennetts Nationalreligiösen und die Zugewinne der linken Meretz zusammengefasst.

Die politischen Lager, so zeigen es die  Grafiken, liegen äußerst knapp beieinander. Netanjahu wird wahrscheinlich mit der Regierungsbildung beauftragt, aber: Statt eines „Rechtsrucks“ triumphieren  die „Moderaten“, also steigen die Chancen auf eine diplomatische Lösung des Iran-Konflikts und einer friedlichen Einigung mit den Palästinensern.

Wirklich? Ich habe das Gefühl, dass diese Deutung des Ergebnisses mehr über die Frustration und die Wünsche des Mitte-Links-Lagers aussagt als über die reale Lage.

Bis auf weiteres scheint mir alles dagegen zu sprechen. Ob und wie der Iran-Konflikt eskaliert, liegt sehr viel weniger in der Hand der israelischen Politik als diese gerne suggeriert. Iran war bezeichnender Weise kein Thema bei diesen Wahlen, also ist das Wahlergebnis auch kein Votum dazu.

Neue, substantielle Verhandlungen mit den Palästinensern sind keineswegs wahrscheinlicher geworden. Der Überraschunsgssieger Lapid hat bewusst kaum etwas zum Thema Palästina gesagt. Die Vermeidung dieses Themas ist ja ein erheblicher Teil seines Erfolgs. Was er gesagt hat, liegt auf der Linie des Mainstreams, der nicht mehr an eine diplomatische Lösung glaubt, ohne eine Alternative zu haben.

Er hat sich zwar im Prinzip für Verhandlungen ausgesprochen und für eine Trennung von den Palästinensern. Er hat Netanjahu kritisiert, wenn jener sagte, es „gebe keinen Partner“. Aber dann hat er auch selbst gesagt, „die Palästinenser wollen keinen Frieden“. Jerusalem zu teilen komme nicht infrage. Ebenso werde es kein Rückkehrrecht geben. Und die großen Siedlungsblöcke würden auf jeden Fall bei Israel bleiben. Seine außenpolitische Rede hat er bezeichnender Weise in der Siedlung Ariel in der Westbank gehalten – ein Kotau vor den Siedlern, die er „gute Leute“ nannte. Lapid hat schlichtweg kein Programm zu diesem Thema, das über Gemeinplätze hinausgeht. Alles was er sagt, läuft in der Konsequenz maximal auf eine Besatzung mit menschlichem Gesicht hinaus. Dass er so großen Erfolg hatte zeigt, wie wenig wichtig dem Publikum die Palästinafrage geworden ist.

Lapids eigentliches Thema war die Belastung der säkularen Mittelklasse durch Wohnungs- und Nahrungspreise, hohe Steuern und die als ungerecht empfundenen Ausnahmeregelungen für die Ultraorthodoxen (beim Militärdienst und bei den staatlichen Subventionen). So konnte er einen Teil des Geistes der Proteste von 2011 auffangen, bei denen es ja auch ausschließlich um innenpolitische Gerechtigkeitsfragen gegangen war.

Für Netanjahu ist es eigentlich sehr willkommen, wenn er seine Koalition mit jemand anreichern kann, der etwas softer rüberkommt und einen Sinn für die sozialen Beschwernisse der Mittelklasse hat. So bleibt ihm mehr Zeit, sich selbst weiter um die harten Themen zu kümmern: Iran, Siedlungen, Palästina. Soll Lapid ruhig neue Verhandlungen anmahmen, weil das in den Augen der Welt nötig ist, um Israels drohende Isolation zu verhindern: Nichts spricht angesichts von Lapids Liste der Vorbedingungen (Jerusalem, Rückkehrrecht, Siedlungsblöcke) dafür, dass solche Verhandlungen etwas bringen könnten. Für Netanjahu wäre dies entlastend: Dann kann die Welt nicht mehr sagen, es habe an seinem Unwillen gelegen.

Verhandlungen waren für alle israelischen Regierungen (egal welcher Richtung) der letzten beiden Jahrzehnte kein Hindernis beim Siedlungsbau. Im Gegenteil, die Zahlen zeigen, dass seit Oslo das Wachstum der Siedlungen unvermindert oder gar beschleunigt voranging. Lapid wird allerhöchstens das Wachstum in den Outposts eingrenzen, zum „natürlichen Wachstum“ der großen Blöcke hat er sich schon bekannt.

Auf der Seite der Palästinenser wird sich im übrigen auch nichts zum besseren wenden: Der Verfall der PA schreitet voran, und wenn es tatsächlich einmal eine „Versöhnung“ der Fatah mit der Hamas gibt, wird auch dies gegen Verhandlungen sprechen. Die PA scheint unterdessen entschlossen, unilaterale Schritte weiter zu verfolgen: Sie hat angekündigt, wegen des E1-Projekts vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu ziehen. Bekanntlich teile ich die Kritik an dem E1-Projekt. Trotzdem sehe ich der Ersetzung von Diplomatie durch „Lawfare“ mit einem gewissen Grausen entgegen.

Ich würde mich freuen, von der Ereignissen eines besseren belehrt zu werden. Aber dieses Wahlergebnis verstärkt meinen Pessimismus. Eine TV-Celebrity ohne die geringste politische Erfahrung kommt im Stand von Null auf 19 Knesset-Sitze: Das spricht für großen Frust angesichts der etablierten Parteien. Und darüber hinaus erst einmal für: nichts. Für Netanjahu muss das nicht schlecht sein. Die Nachrufe scheinen mir verfrüht. Er ist der letzte erfahrene Politiker auf der Bühne, weder  Lapid noch Bennett können ihm das Wasser reichen.

Ein forscher Radikalinski mit einem New-Economy-Hintergrund wie Bennett stemmt seine nationalreligiöse Partei von 7 auf 12 Sitze (unter Soldaten hat er offenbar auch gut abgeschnitten): Das ist das gleich post-politische Phänomen wie Lapid, nur mit anderem politischem Geschmack.

Die linksgrüne Meretz-Partei feiert nun, dass sie sechs Sitze bekommen wird, was eine Verdoppelung bedeutet. Das sind kaum fünf Prozent: Ich weiß nicht, was daran zu feiern ist.

Tzipi Livni, deren Kadima einmal über 28 Sitze verfügte und damit nichts anzufangen wußte, freut sich nun über 6  Sitze.

Die Arbeitspartei hat immerhin 15, aber es interessiert niemanden, weil sie sich durch programmatische Feigheit vor der Wahl irrelevant gemacht hat.

Die ganze Idee, Israels politische Landschaft sei in der Mitte geteilt, ist wishful thinking des linksliberalen Establishments, das nicht erkennen will, wie der Wandel es immer mehr an den Rand drängt.

Lapid selbst ist alles andere als ein Linker, er ist ein postideologischer Wohlfühl-Kandidat, der alle harten Fragen vermeidet, und sein einziges Gerechtigkeitsthema betrifft die Umverteilung zwischen Säkularen und Ultraorthodoxen.

Das ganze Blockdenken ist illusionär, was sich schon daran zeigt, dass der „Linken“ dabei die arabischen, antizionistischen Parteien (11 Sitze) zugeschlagen werden, die niemals Teil einer Regierungskoalition werden können.

Der Schwerpunkt der israelischen Politik liegt heute sehr weit „rechts“, wenn dieser Begriff überhaupt noch Sinn hat (weil es eine relevante Linke nicht mehr gibt): Likud-Beitenu ist durch eine innere Revolte stark dominiert von extremen Kräften, und Bennetts Partei bewegt sich noch weiter „rechts“ von diesen. Im Kern der wahrscheinlichsten neuen Regierungskoalition werden diejenigen das Sagen haben, deren erstes Ziel die Verhinderung einer Zwei-Staaten-Lösung ist, weil sie sie für schädlich halten.

Ob ein Lapid daran etwas ändern kann und ob er das überhaupt will, scheint mir fraglich.

 

 

 

Warum ich blogge

Achtung: Pathoswarnung.

Ich bin Journalist geworden, weil ich an das Prinzip der Öffentlichkeit glaube. Es ist zwar nicht erwiesen, dass die Menge weiser ist als der einzelne. Es gibt sogar genug Beispiele, die das Gegenteil plausibel erscheinen lassen. Nicht nur in der Geschichte: Es gibt auch heute immer wieder Hetzmassen, shit storms, Konsensdruck und Einheitsdenken – viele Phänomene, gegen die der mutige, unangepasste Einzelne (der wir oft genug nicht sind) hochgehalten und geschützt werden muss.

Aber ungeachtet dessen ist das Prinzip der Öffentlichkeit ein hoher Wert. Die Rationalität politischer und gesellschaftlicher Entscheidungen hängt daran, dass deren Gründe öffentlich zur Debatte gestellt und die Folgen frei diskutiert werden können. Ohne Öffentlichkeit keine Selbstkorrektur unserer Gesellschaft. Wir bilden uns Kenntnisse über Personen, Verfahren, Institutionen, Motive, Programme, Kosten und Konsequenzen in der Öffentlichkeit (durch die Medien). Wir verständigen uns über Absichten, Mittel und Ziele unseres gemeinsamen Handelns, aber auch und gerade über Divergenzen und Interessengegensätze.

Ich arbeite seit genau 20 Jahren im klassischen Medium der Öffentlichkeit: der Zeitung mit ihren uralten Formen des Leitartikels, des Feuilletons, der Kritik, der Reportage. Ich habe schon mehrere Zeitungskrisen überlebt und bin darum etwas abgebrüht angesichts der jetzigen: Vertriebswege und Formen werden sich ändern, aber die Funktion der freien Öffentlichkeit ist so elementar für jede freiheitliche Gesellschaft, dass mir um den Journalismus nicht bang ist.

Seit fast zehn Jahren tummele ich mich auch in neuen Formen der Öffentlichkeit, dank meinem Arbeitgeber, der es duldet und die Sache finanziert. Über 1.800 Beiträge sind auf diesem Blog veröffentlicht worden, und dazu sind über 170.000 Kommentare erschienen. Bei den Seitenaufrufen liegen wir satt über 4 Millionen, und dabei ist nicht einmal von Anfang an gezählt worden. Es ist eine andere, aufreibende Form von Öffentlichkeit, die ich zu schätzen gelernt habe, auch wenn manches daran gewaltig nervt.

Man wird hier gezwungen, sich viel direkter mit Einsprüchen und Widersprüchen auseinanderzusetzen. Als ich letztens auf einer Reise Kommentare zu einem Blogeintrag las, dachte ich: es ist ein wenig, als ob das deine inneren Stimmen sind. Diese Kommentatoren bringen deine Selbstzweifel zum Ausdruck, und zwar viel krasser, als du es je tun würdest. Ist doch gut so! Manche von denen benutzen dich als punching bag für ihre eigenen Aggressionen. Sie schlagen auf dich ein, um an deinem Exempel ihre eigenen Selbstzweifel niederzukämpfen. Manche scheinen dich regelrecht zu hassen, aber dennoch kommen sie jeden Tag wieder, um sich an dir (oder was sie dafür halten) abzuarbeiten. Eigenartig.

Anonymität ist ein Problem, da sie in unseren Verhältnissen nicht zum Schutz der Meinungsfreiheit vor irgendwelchen Autoritäten (staatlich, familiär, traditionell) nötig ist. (Im Iran, in China, in weiten Teilen der arabischen Welt ist sie natürlich unabdingbar.) Allzu oft wirkt sie als Ermächtigung zur ungehemmten Aggression, zum Heckenschützen-Gepöbel. Aber wir üben ja alle noch mit diesem neuen Medium, ein Comment wird sich herausbilden. Die Exzesse werden verschwinden und uns allen mächtig peinlich sein.

Das Internet ermöglicht starke Selbstselektion. Man sucht und findet nur noch seinesgleichen und klopft sich im Kreis auf die Schulter. Das ist das Problem solcher Blogs wie „Achse des Guten“ und stärker noch „PI“. Linke Pendants gibt es wahrscheinlich, sie fallen mir aber bezeichnender Weise nicht ein. Das Internet ist eher ein „rechtes Medium“, wie mir scheint. Anti-elitär, anti-intellektuell, die Neigung zu selbstselektionierenden Meinungsverstärkung fördernd – nicht so sehr den Zweifel, den Einspruch, das Ausprobieren und Ausloten anderer Gedanken. Das ist ein bisschen schade, denn es gibt ja doch so viel zu entdecken. Sagenhaft, in welche Denk-Welten man da eintauchen kann. Aber vielleicht passiert ja auch gerade das auf diese agonale Weise, die hier in den Kommentarspalten üblich ist.

 

Manchmal muss ich tageweise wegschauen, um mich nicht zuviel aufzuregen und unproduktiv zu werden.  Man ist als Blog-Betreiber sehr exponiert. Fehler, Meinungsumschwünge, Inkonsistenzen werden einem gnadenlos vorgehalten. Ist schon in Ordnung: Es schärft die Selbstwahrnehmung. Man muss sich dann öfter entscheiden, auch gegen den Mainstream bei einer Position zu bleiben. Oder aber einzuräumen, dass man sich getäuscht hat, oder von einem Eindruck aus der Kurve getragen wurde. Lernen auf offener Bühne ist schmerzhaft und greift die natürliche Eitelkeit an, ohne die sich niemand derart exponieren würde.

Das Bild mit den „inneren Stimmen“ ist natürlich eine Frechheit meinerseits. Es soll ja auch nur die Wirkung des Kommentarbereichs auf mich beschreiben. In Wahrheit sind da viele sehr eigene Stimmen dabei, die sich oft auch gar nicht an mich richten, sondern untereinander Streit austragen, der für mich wiederum lehrreich ist. Oft genug gebe ich hier nur den Anlass für eine Konversation ab, die sich dann von mir und dem Blogtext entfernt. Auch das ist ok.

Ich will weiterhin nahezu nichts löschen, niemanden dauerhaft blockieren und ein maximal großes Meinungsspektrum zulassen, bis an den Rand des Justitiablen. Persönlich beleidigende, saudumme oder meine Zeitung (die es möglich macht, dass wir uns treffen) herabsetzende Kommentare lösche ich ohne weitere Begründung. Wir sind hier liberal, aber nicht doof, oder feige.

Und ich möchte die Gäste in diesem Debatten-Partykeller durch solche Eingriffe auch sanft daran erinnern, dass wir hier nicht unter uns sind, sondern dass wir eine neue Form der Öffentlichkeit bauen, Stück um Stück, Post um Post, Kommentar um Kommentar.

Dieses Blog wird viel gelesen – und von vielen Lesern ernst genommen -, was mich überaus freut. In der letzten Woche erst habe ich zwei Mal Post von der VGWort bekommen, aus der hervorging, dass (alte) Texte aus diesem Blog in Schulbüchern (!) bzw. Unterrichtsmaterialien-Heften nachgedruckt worden sind. Cool. Dies auch zur Erinnerung an die lieben Mitblogger: das Imperium liest mit.

Die Erfahrung, die ich mit dem Medium Blog mache, sind in einem Zitat von Margret Boveri, der großen Journalistin, sehr schön aufgehoben. Darum stelle ich es hier ans Ende, auch wenn es etwas pathetisch klingt:

„Ich fühle mich fähig, entgegengesetzte Elemente in mir zu beherbergen und jedem zu seinem Recht zu verhelfen. Der Preis dafür ist, daß ich auf die Frage, ob ich links oder rechts, konservativ, liberal oder revolutionär sei, keine Antwort weiß. Die Koinzidenz der Gegensätze ist mir als eine immer neu zu bewältigende Aufgabe klargeworden. Wenn ich mich zu einer Partei bekennen soll, dann zu der, die nicht das Entweder-Oder, sondern das Sowohl-als-Auch bejaht. Das ist nicht die Bereitschaft zu einer Abfolge von faulen Kompromissen. Es entspringt der Überzeugung, daß wir im Ausharren in der Polarität der Gegensätze die unauflösliche Tragik des menschlichen Lebens erfahren können, die nicht mit gutem Willen und nicht mit dem Verstand aufzulösen ist, in der wir aber, sofern wir sie anerkennen, wenn auch noch so selten einmal den Schlüssel finden mögen, der die Gegensätze bindet und löst.“

 

 

 

 

Was die Geiselbefreiung in Algerien bedeutet

 

Hussein_Assad_Bouteflika_Khaddam

Der Mann halb rechts im Bild, im Nadelstreifenanzug, ist Abdel-Asis Bouteflika. Heute ist er Präsident Algeriens, damals war er Außenminister.

Dass er zum neuen Freund des Westens aufsteigen würde, ist eine überraschende Entwicklung, die man nach genau zwei Jahren der Arabischen Revolten so vielleicht nicht erwartet hätte. Er ist einer der letzten aus der Riege der arabischen Nationalisten alten Schlages. Überall in der Region sind Leute wie er gerade aus dem Amt gefegt worden – oder es steht ihnen bevor, wie dem Sohn des freundlich lachenden Herrn in der Mitte des Bildes. Überall treten die Muslimbrüder und ihre Ableger an die Stelle der alten Autokraten, und die Welt beginnt sich damit abzufinden.

Nein, nicht überall: Algerien ist anders, es hat seinen unfaßlich blutigen Konflikt mit dem radikalen Islamismus schon hinter sich. 60.000 bis 150.000 Tote waren im Bürgerkrieg zu beklagen. Die Zahlen schwanken je nach politischem Interesse. An der Brutalität der Auseinandersetzung gibt es keinen Zweifel. In Algerien gab es als Reaktion auf einen drohenden Wahlsieg des islamistischen FIS einen Staatstreich, der im blutigsten Bürgerkrieg der letzten Jahrzehnte endete. Bouteflika ist ein Exponent des Systems, das den politischen Islam unterdrückte, auch wenn unter seiner Herrschaft als Präsident (ab 1999) eine Politik der Amnestie und Versöhnung versucht wurde.

Bouteflika hat Frankreich die Überflugrechte nach Mali gewährt, ohne die es wohl schwer gewesen wäre, den Vormarsch der Islamisten auf Bamako (vorerst) zu stoppen. Und in den letzten Tagen hat er das algerische Militär losgelassen, um die Geiseln aus dem Gasfeld Ain Amenas zu befreien, darunter mindestens 107 Ausländer, viele auch aus dem Westen. Fast 700 algerische Angestellte waren ebenfalls unter den Befreiten. Es scheint auch viele Dutzend Tote gegeben zu haben, zur Zeit laufen noch die Aufräumarbeiten und die Zahlen sind nicht verläßlich.

Was man jedoch sagen kann: Algerien hat mit entschlossener Gewalt eine Geiselnahme durch dschihadistische Kräfte beendet, die offenbar von langer Hand vorbereitet worden war. Deren Kalkül: Da Frankreich in Mali gegen die Islamisten vorging, unter stiller Duldung von Bouteflikas Regime,  sah man offenbar die Zeit gekommen, das Messer an Algeriens Lebensader anzusetzen: an den Gasvorkommen, die existenziell für das Land und seine Wirtschaft sind. Algeriens Regierung, den Dschihadisten ohnehin verhasst, sollte als Helfershelfer der französischen Neokolonialisten entlarvt und in die Ecke gedrängt werden. Die Geiselnehmer hatten offenbar vor, mit dieser Aktion auch internationale islamistische Terroristen frei zu pressen.

Mit diesen Leuten gab es nichts zu verhandeln, wie alle bisherigen Berichte über deren Vorgehen belegen. Nichtmuslime wurden offenbar aus der Gruppe der Geiseln heraus selektiert. Japanische Gasarbeiter wurden exekutiert. Mehrere Entkommene berichten, man habe sie gezwungen, Sprengstoff zu tragen und so zu lebenden Bomben gemacht. Das Gelände wurde teilweise vermint, offenbar bereitete man sich auf einen blutigen Kampf vor. In französischen Berichten ist die Rede von schweren Waffen wie RPGs. Niemand kann ausschließen, dass die algerischen Sicherheitskräfte Fehler begangen haben. Dennoch erstaunt die Kritik aus westlichen Hauptstädten, noch während die Operation lief. Man sei nicht gut genug informiert worden. Solche Einlassungen hätte man sich für einen späteren Zeitpunkt aufheben können. Algerien hat schließlich einige Erfahrungen im Kampf gegen brutale Dschihadisten.Dass der Kampf der Bouteflika-Regierung gegen die einheimischen Islamisten auch mit Mitteln geführt wurde, die abzulehnen sind, mag hier den Hintergrund abgeben.

Doch zunächst einmal ist anzuerkennen, dass hier algerische Soldaten ihr Leben auch für die Mitarbeiter ausländischer Firmen riskiert haben. Die Geiselnahme hunderter Unbeteiligter Arbeiter und Angestellter auf dem Gasfeld musste so schnell wie möglich gestoppt werden.

Die nächsten Tage werden weitere Details ans Licht bringen, die dann hoffentlich eine umfassende Bewertung der Befreiungsaktion ermöglichen.

Was sich jetzt schon feststellen lässt, ist, dass genau zwei Jahren nach dem Beginn der Arabischen Revolten die volle politisch-moralische Komplexität der Lage sich zu zeigen beginnt: Frankreich hat den Kampf gegen die Dschihadisten aufgenommen, die sich den Niedergang der Staatlichkeit in Libyen und Mali zunutze machen wollen, um in Afrika Fuß zu fassen. Deutschland wird sich an diesem Kampf beteiligen müssen, mit mehr als zwei Transportmaschinen.

Dabei finden wir uns jetzt im gleichen Boot mit zweilichtigen Figuren wie Präsident Bouteflika und seinem Regime, während wir doch zuvor dem Untergang vergleichbarer Regime applaudiert haben.

Die New York Times bringt es auf den Punkt:

Algeria’s authoritarian government is now seen as a crucial intermediary by France and other Western countries in dealing with Islamist militants in North Africa. But the Algerians have shown reluctance to become too involved in a broad military campaign that could be very risky for them. International action against the Islamist takeover in northern Mali could push the militants back into southern Algeria, where they started. That would undo years of bloody struggle by Algeria’s military forces, which largely succeeded in pushing the jihadists outside their borders.

The Algerians also have little patience with what they see as Western naïveté about the Arab spring, analysts say.

“Their attitude was, ‘Please don’t intervene in Libya or you will create another Iraq on our border,’ ” said Geoff D. Porter, an Algeria expert and founder of North Africa Risk Consulting, which advises investors in the region. “And then, ‘Please don’t intervene in Mali or you will create a mess on our other border.’ But they were dismissed as nervous Nellies, and now Algeria says to the West: ‘Goddamn it, we told you so.’ ”

 

 

Das Ende der Zwei-Staaten-Lösung

Aus der ZEIT vom 17.1.2013, S. 3:
In diesem einen Wort schnurrt die gesamte Nahostpolitik der letzten Jahrzehnte zusammen: Zwei-Staaten-Lösung. Auf Konferenzen von Madrid über Oslo bis nach Annapolis rangen Präsidenten, Premiers und Kanzler darum. Nahostquartette, Sonderbeauftragte, Roadmaps – alles richtete sich immer auf dieses Ziel. Hier bestand ein seltener Konsens der Weltgemeinschaft, geteilt von Amerikanern, Europäern, Russen, Chinesen: Wir wissen vielleicht nicht, wie wir dahin kommen, aber wir wissen, was beim »Friedensprozess« zwischen Israelis und Palästinensern herauskommen muss: zwei Staaten für zwei Völker.
Weil diese Idee so evident klingt und so allgemein anerkannt ist, fällt es schwer, sich vorzustellen, dass die Zeit über sie hinweggehen könnte – ohne dass es eine überzeugende Alternative gibt. Doch genau das passiert gerade. Das Fundament der Nahostdiplomatie zerbröselt.
Diese Idee hat den überkomplexen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern auf einen schlichten menschlichen Kern zurückgeführt: Die anderen gehen nicht weg, sie bleiben da und haben das Recht, nach eigenem Gusto zu leben. Und das geht nun mal am besten in zwei Staaten.
Widerstand dagegen hat es immer gegeben. Kein Wunder: Die vermeintlich göttlich sanktionierten Ansprüche beider Seiten, Leid, Vertreibung, Terror, die Tragik von hundert Jahren Kampf – all das soll in der Idee von den zwei Staaten versachlicht und entgiftet werden. Von den Palästinensern verlangt dies, sich von der Illusion zu verabschieden, Israel sei ein Irrtum der Geschichte, der sich wieder korrigieren ließe. Für die Israelis heißt es, zu erkennen, dass ihr Staat nur dann jüdisch und demokratisch bleiben kann, wenn sie die Besatzung beenden und das Land teilen. Die Zwei-Staaten-Lösung war stets eine Zumutung für die Träumer des Absoluten, von denen es im Heiligen Land auf beiden Seiten allzu viele gibt.
Das Oslo-Abkommen vom September 1993 hat sie offiziell zum international akzeptierten Programm ausgerufen. Neuerdings aber klingen die Bekenntnisse verräterisch mau: Es gelte, »die Möglichkeit einer Zwei-Staaten-Lösung offenzuhalten«, betonten die Außenminister Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands Ende letzten Jahres im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.
Und dann geschah etwas, womit niemand rechnete: Die israelische Regierung handelte genau entgegengesetzt. Sie konterte die Sorgen ihrer Partner mit der Genehmigung weiterer Siedlungen in besonders sensiblen Gebieten.

Bildschirmfoto 2013-01-18 um 12.16.36

(Diese Karte zeigt die Zerklüftung des Westjordanlands in Autonomiezonen, die den Palästinensern teils allein (A, dunkelgrün) oder auch in geteilter Verantwortung mit den Israelis (B, hellgrün) unterstehen. Die Zonen C, in denen allein Israel die Verantwortung hat und die Siedlungen liegen, sind als Wasser dargestellt: Es gibt nur Inseln der Autonomie, das Westjordanland ist ein Archipel. Quelle: Strange Maps.)

Das war ein Schock für die israelfreundliche Bundesregierung, die eben noch Netanjahus Militärschläge gegen die Terroristen in Gaza verteidigt hatte: eine Demütigung auf offener Bühne. Wer sich umhört, trifft bei Berliner Diplomaten seither auf einen verbotenen Gedanken: Kann es sein, dass die Zwei-Staaten-Idee tot ist? Und wenn sich das herumspricht: Was dann?
Es gibt derzeit täglich neues Futter für solchen Defätismus. Am kommenden Dienstag wird in Israel gewählt. Der Wahlkampf gibt den Blick auf einen radikalen Wandel der politischen Kultur in Israel frei. Der Schriftsteller Amos Oz, Doyen der Friedensbewegung, mahnt, diese Wahl sei von »existenzieller Bedeutung«. Doch der »Friedensprozess«, für den Oz wirbt, ist ein Verliererthema geworden, das politische Karrieren vernichtet. Für keine Partei außer der Splittergruppe Meretz – Oz’ politische Heimat – steht die Lösung des Konflikts überhaupt noch auf der Tagesordnung. Es gibt in Israels Parteienlandschaft keine relevanten Kräfte mehr, die für ein Abkommen mit den Palästinensern eintreten.
Die Arbeitspartei hat sich ganz auf Wohnungs- und Käsepreise verlegt. Jedes Mal wenn die ehemalige Außenministerin Zipi Livni zaghafte Andeutungen macht, man solle verhandeln, sinken ihre Umfragewerte weiter. Die politische Mitte – von den Linksliberalen bis zu den moderaten Rechten – ist implodiert. An ihre Stelle drängt eine neue, kraftvolle Rechte, angetrieben vom Erfolg der nationalreligiösen Siedlerlobby. Ihre Positionen galten einmal als extrem. Nun sind sie Mainstream. Die Nationalreligiösen haben es geschafft, sich als das neue spirituelle Zentrum des Landes darzustellen. Ihr wichtigstes Projekt ist die Verhinderung der Zwei-Staaten-Lösung.
Dieses Projekt hat ein neues, frisches Gesicht. Der Star des Wahlkampfs ist der 40-jährige Ex-Unternehmer und Elitesoldat Naftali Bennett, Chef der Siedlerpartei »Jüdische Heimat«. Er spricht fließend Englisch, hat in Amerika als erfolgreicher Softwareunternehmer Millionen gemacht und war Offizier in einer prestige-reichen Antiterroreinheit der israelischen Armee. Er gibt einem extremen Programm ein modernes Flair, das ihn für junge Konservative anschlussfähig macht. Er hat einen eigenen Friedensplan, der ganz ohne Beteiligung der Palästinenser auskommt. Der Bennett-Plan sieht vor, dass Israel jene Gebiete im Westjordanland formell annektiert, die seit dem Oslo-Abkommen bereits unter israelischer Militärkontrolle stehen. 60 Prozent des Landes, auf dem ein palästinensischer Staat entstehen soll, würden damit offiziell Teil Israels. Im verbleibenden Rest dürfen sich die Palästinenser lediglich selbst verwalten: keine Souveränität, keine Staatlichkeit, kein Zugang nach Jerusalem. Bennett hat sein politisches Handwerk im Büro von Benjamin Netanjahu gelernt, dessen Stabschef er war. Seinen ehemaligen Chef treibt er jetzt vor sich her. 25 Prozent der Likud-Wähler hat er bereits für sich gewonnen.
Im Vergleich mit Bennett wirkt Netanjahu moderat, und das ist im heutigen Klima gefährlich. 2009 hatte Netanjahu auf amerikanischen Druck hin erklärt, einen Palästinenserstaat zu akzeptieren. Selbst dieses taktische Zugeständnis gilt nun schon als Ausweis mangelnder Härte. Der Likud-Chef rückt darum immer weiter nach rechts. Er macht Wahlkampf in illegalen Siedlungen und präsentiert sich als Verteidiger der Besatzung gegen internationalen Druck.
Der Rechtsruck in Israel hat seine Entsprechung auf der palästinensischen Seite. Die arabischen Revolten bringen überall in Israels Nachbarschaft den politischen Islam an die Macht – wie in Ägypten, so vielleicht schon bald in Syrien und Jordanien. Es ist möglich, dass Israel demnächst vollständig von islamistisch dominierten Staaten umgeben sein wird. Dass der Muslimbruder Mohammed Mursi, der neue starke Mann in Kairo, im letzten Gazakrieg mit Hamas vermittelte, hat man in Israel mit Erleichterung aufgenommen.
Unvergessen bleibt aber, dass Mursi noch 2010 von Israelis als »Kriegshetzern« und »Abkömmlingen von Affen und Schweinen« gesprochen hat. Und Hamas, als Ableger der Bruderschaft entstanden, scheint weit davon entfernt, ihre jahrzehntelange Israelfeindschaft zu revidieren. Den Aufstieg des Islamismus in der Region sieht sie als Zeichen, dass die Geschichte für sie arbeitet. Hamas-Politbürochef Khaled Meschal erging sich bei der Siegesparade nach dem Gazakrieg vor Zigtausenden Anhängern in Vernichtungsdrohungen: »Palästina gehört uns ganz, vom Norden bis zum Süden, vom Meer bis an den Jordan. Es wird keinen Zentimeter an Zugeständnissen geben. Wir werden Israel nie anerkennen.« Meschal hat Chancen, eines Tages in Ramallah als erster islamistischer Präsident aller Palästinenser zu regieren.

Dass das Siedlungsprojekt in der Mitte der israelischen Gesellschaft Unterstützung findet und dass bei den Palästinensern die Islamisten tonangebend werden – beide Prozesse stehen für eine Abkehr von der Zwei-Staaten-Idee. Es besteht die Gefahr, dass sie sich wechselseitig verstärken. Um diesen Mechanismus zu verstehen, muss man die widersprüchlichen Erzählungen betrachten, die in Israel und in Palästina über das Scheitern des »Friedensprozesses« entstanden sind. Sie laufen auf die gleiche Pointe hinaus: dass es mit denen da drüben keinen Frieden geben wird.
Die israelische Variante lautet: Wir haben verhandelt und Angebote gemacht, und wir haben den Palästinensern Autonomie gegeben. Doch sie haben mit Terror reagiert. Wir sind aus dem Libanon und aus Gaza abgezogen, und zum Dank hat es Raketen geregnet. Wer garantiert, dass das nicht auch passiert, wenn wir uns aus dem Westjordanland zurückziehen?
Die palästinensische Variante geht so: Die Israelis haben uns in Oslo Autonomie gegeben und einen eigenen Staat versprochen. Aber seither bauen sie immer neue Siedlungen, um diesen Staat zu verhindern. Heute gibt es doppelt so viele Siedler wie vor zwanzig Jahren. Wie können wir glauben, dass sie jemals abziehen werden?
Beide Versionen sind einseitig. Hier wird der Terror ausgeblendet, dort fehlen die Siedlungen. Aber beide Geschichten sind nicht ganz falsch. Und das macht Verhandlungen so fruchtlos.
Die jüngsten Schachzüge beider Seiten zeigen, dass die Zeit nach dem Friedensprozess schon begonnen hat. Die Ankündigung der israelischen Regierung, im Gebiet »E1« östlich von Jerusalem zu bauen, steht dafür. Die neue Siedlung würde das Westjordanland entzweischneiden und den Zugang zu Ostjerusalem, der designierten palästinensischen Hauptstadt, erschweren. Der Palästinenserstaat wäre von E1 wie durchgestrichen.
Der palästinensische Präsident Abbas droht im Gegenzug, den Israelis »die Schlüssel« für seine Behörde zurückzugeben und seine Regierung aufzulösen. Israel müsste dann offen über die Palästinenser herrschen, und Abbas wäre den Ruf los, ein »Kollaborateur« der Besatzer zu sein. Macht er seine Drohung mit dem politischen Selbstmord wahr, käme das Ergebnis Bennetts Plan erstaunlich nahe.
Unabhängig davon wachsen zugleich die Siedlungen und die palästinensische Bevölkerung unter der Besatzung. 42 Prozent des Landes werden heute schon von Sicherheitskorridoren der Armee beansprucht. Mehr als eine halbe Million Israelis leben auf Grund und Boden, den Palästinenser als ihren ansehen. 2016 werden die Bevölkerungszahlen der Araber in Israel und den palästinensischen Gebieten mit denen der Juden erstmals gleichziehen, 2020 wird es mehr Araber als Juden im Heiligen Land geben: Demografie gegen Demokratie.
45 Jahre dauert die Okkupation bereits. Die dritte Generation Besatzungssoldaten steht heute der dritten Generation Besetzter gegenüber. »Temporär« ist das nicht. Mit jedem Tag, an dem nicht verhandelt wird, verfestigt sich die Ein-Staat-Realität, und die Zwei-Staaten-Lösung wird Geschichte.
Was soll die Diplomatie ohne ihre Leitidee machen? Es gibt keinen Plan B, nur bange Erwartungen beim Gedanken an den Augenblick, in dem der Bluff auffliegt. Naftali Bennetts Eintritt in Netanjahus Regierungskoalition könnte dieser Moment sein. Die deutsche Regierung blickt mit trotziger Hoffnung auf Obama, der – bitte! – in seiner zweiten Amtszeit noch einmal kräftig auf den Tisch hauen möge. Nichts spricht dafür. Obama hat schon einmal versucht, Verhandlungen anzubahnen, und wurde von Netanjahu schmerzlich gedemütigt. Er glaubt seither, wie er an den Nahostexperten Peter Beinart durchstechen ließ, dass Netanjahu »nur die Fassade eines Friedensprozesses braucht, um sich von internationalem Druck abzuschirmen«. Dabei will die amerikanische Regierung nicht mehr mitspielen. Die deutsche sollte das auch nicht tun.
Der internationale Druck wird wachsen, auf beide Seiten. Deutschland wird sich nicht mehr bedingungslos vor Israel stellen. Das war die -eigentliche Botschaft hinter der deutschen Enthaltung bei den Vereinten Nationen, wo die Palästinenser im vorigen November um die symbolische Stärkung ihrer Staatlichkeit kämpften: Gegen diese Initiative zu stimmen wäre ein Votum gegen die eigene Politik gewesen, die an der Zwei-Staaten-Lösung festhält. Israel, glaubt die Bundesregierung, braucht einen Palästinenserstaat fast noch dringender als die Palästinenser. Eine »Ein-Staat-Lösung« liefe auf das Ende jüdischer Selbstbestimmung oder auf ein Apartheidregime hinaus.
Es kommt eine Zeit des Durchwurstelns. Was an ihrem Ende stehen kann, ist ungewiss – aber um überhaupt nach neuen Wegen zu suchen, braucht es erst einmal Ehrlichkeit: Die Zwei-Staaten-Lösung ist eine Hoffnung von gestern. Sie rhetorisch zu konservieren, während man ihr real keinen Inhalt mehr zu geben vermag, ist keine Erfolg versprechende Politik.
Ein Kollaps der Autonomiebehörde, ein Sieg der Islamisten sind wahrscheinlicher geworden. Kann sich Präsident Abbas behaupten und die Palästinenser auf den Weg des gewaltfreien Protests führen, wird die Welt ihn unterstützen. Ohne die Perspektive der zwei Staaten wird die Lage in jedem Fall gefährlicher, vor allem für Israel: Denn in der trügerischen Hoffnung auf eine Lösung, die nach der nächsten Verhandlungsrunde zu warten schien, ließ es sich mit vielem leben – Unterdrückung und Besatzung, Unsicherheit und Terror erschienen als Geburtswehen normaler Staatlichkeit.
Wenn dieses Ziel auf lange Sicht, wenn nicht gar für immer, unerreichbar scheint, ist damit nicht die Nahostpolitik zu Ende. In gewisser Weise fängt sie erst an: Deutschland muss zugleich druckvoller und flexibler agieren. Das kann zum Beispiel heißen, sich einerseits einem Boykott israelischer Güter entgegenzustellen, zu dem jetzt schon Briten und Dänen aufrufen. Eine Isolierung hilft ja wieder nur den Extremisten, die von Europa ohnehin das Schlimmste erwarten. Keine Handbreit denen, die Israels Existenzrecht bestreiten: Daran gibt es nichts zu rütteln, mögen die Muslimbrüder auch noch so erfolgreich sein. Andererseits muss Deutschland jeden friedlichen Kampf der Palästinenser für ihre Bürgerrechte viel kraftvoller unterstützen.
Schwindet die Hoffnung, dass diese Rechte in einem eigenen Staat realisiert werden können, wird der Druck auf Israel wachsen, sie hier und jetzt zu gewähren.

 

Warum wir wieder über Iran reden müssen

Einer der erstaunlichsten Züge des israelischen Wahlkampfes ist die nahezu völlige Abwesenheit eines Themas, das vor kurzem noch das ganze Land beschäftigte: Iran. Seit dem letzten Gaza-Einsatz geht es wieder – wenn es denn überhaupt um Außenpolitik geht – um die Palästinafrage und die Zweistaatenlösung.
Ich finde das insofern beruhigend, als diese Frage in langer Sicht für Israel die entscheidende ist. (Beunruhigend sind allerdings die extremen Töne, die mittlerweile Mainstream geworden sind – siehe Naftali Bennett, der Shooting Star dieser Wochen, der mit der Auskunft Furore machte, er werde als Reserveoffizier den Befehl verweigern, wenn von ihm verlangt werde, eine Siedlung zu räumen.)
Man lasse sich aber durch den Wahlkampf nicht täuschen, es ist nur eine Frage der Zeit, bis Iran wieder auf die Tagesordnung zurückkehrt. Und dies zu Recht, denn die Lage Irans hat sich verändert, und die Zentrifugen summen munter weiter. In wenigen Wochen sind neue Gespräche der EU 3+3 (auch bekannt als 5+1, die fünf Sicherheitsratsmitglieder USA, Russland, China, Frankreich, Großbritannien – und Deutschland) mit dem Iran zu erwarten. Die israelische Sicht auf diesen Prozeß wird hierzulande kaum noch rational diskutiert. Sie ist höchstens gut für reißerische Soundbites eines ebenso überforderten wie überschätzten Kommentators wie Jakob Augstein, und für unsägliche Grass-Gedichte. Über derlei uninformierte und verzerrende bis verhetzende Äußerungen („Gängelband“) kann man dann trefflich und lustvoll debattieren. So passiert es ja auch. Aber das ist kein Ersatz für eine strategische Debatte.
Ich möchte daher versuchen, hier einmal die Perspektive der Israelis auf die Iran-Verhandlungen einzunehmen und dafür zu werben, deren legitime Bedenken über die Verhandlungsführung und die Erfolgsaussichten zur Kenntnis zu nehmen.

Man kann die Sache ungefähr so zusammenfassen: Iran ist unter einem nie dagewesenen Druck, und das ist gut so. Die Sanktionen wirken, selbst die Regierung in Teheran kann das nicht mehr verleugnen. Darum ist sie jetzt wieder bereit zu verhandeln.
Auch das ist gut so, aber nur, wenn der Sanktionsdruck weiter erhalten wird. Denn die Iraner wollen eigentlich nicht über ihr Atomprogramm verhandeln, sondern über die Erleichterung der Sanktionen und die Anerkennung der Legitimität ihres Standpunktes. Darauf darf sich der Westen keineswegs einlassen. Schon mehrfach wurde der Fehler begangen, zweitweilige Konzessionen Irans eilig als „Erfolg“ der Diplomatie zu verbuchen und seinerseits Konzessionen zu machen – in der Meinung, so entstehe „Vertrauen“, das dann am Ende zu einer friedlichen Lösung des Konflikts führen könne.

Was aber entstanden ist, ist in Wahrheit nur das Vertrauen der Iraner in die Naivität und Gutgläubigkeit der Europäer (die Amerikaner haben den Ansatz immer nur widerwillig mitgetragen). Das jahrelange Katz- und Maus-Spiel bei den Verhandlungen, bei gleichzeitigem Vorantreiben des Atomprogramms, belegt dies.

Sanktionen funktionieren, wenn sie so scharf gefasst sind wie die letzte Runde, die sich gegen Banken und Ölwirtschaft richteten. Diese sind aber nur zustande gekommen, weil es eine ernst zu nehmende militärische Drohung der israelischen Seite gab; weil Israel darauf bestanden hat, im Notfall auch alleine zu handeln. Das wird gerne beiseite geschoben, es ist aber die Wahrheit.
Nicht zuletzt um eine unerwünschte Militäreskalation zu verhindern, hat auch Deutschland letzte Reserven gegen harte Wirtschaftssanktionen aufgegeben. Besser wäre gewesen, man hätte dies aus eigener Initiative vorangetrieben. Nun kommt es darauf an, dass Deutschland und die anderen Europäer sich nicht gegen Israel und die USA ausspielen lassen, was die Iraner noch jedesmal verucht haben.
Dazu gehört auch, dass die öffentliche Infragestellung der Legitimität israelischer Selbstverteidigung gegen Irans Atomprogramm unterbleibt. Gerade denen, die den Krieg verhindern wollen, ist nicht damit gedient, die militärische Option vom Tisch zu nehmen.
Die Iraner wollen am Ende die Anerkennung durch die USA. Die USA, der Große Satan, sind ironischer Weise letztlich die einzig zählende Macht für die Iraner. Die USA sollen sich entschuldigen (ja, auch dazu gäbe es manchen Grund), die USA sollen Iran in der Völkergemeinschaft willkommen heißen. Wenn sie das nicht freiwillig tun, muss man sich ihnen eben aufzwingen.
Das Atomprogramm ist Teil dieser Aspiration, denn als Großer unter Großen braucht man eben Massenvernichtungswaffen. Iran sieht sich als regionale Großmacht, Auge in Auge mit den ganz großen Spielern (und dazu noch mit Jahrtausende alter Kultur). Das als Illusion und Größenwahn abzutun hilft nichts, denn es ist eine politische Realität, mit der zu rechnen ist. Die Europäer sind in diesem Rahmen nur ein Mittel, um „Normalisierung“ zu erlangen. Darum sind die Iraner so interessiert an jeder Form des Austauschs, die „normalisiserend“ wirkt – wie etwa dem Besuch von hochrangigen Delegationen.
Europäer haben Schwierigkeiten, sich in dieses Denken überhaupt noch hineinzuversetzen, weil sie glauben, bereits in einer anderen Welt zu leben, in einer postimperialen, postheroischen Welt, in der militärische Drohgesten eigentlich nur zeigen, wie sehr man bereits von der Geschichte überholt worden ist. Für die Iraner ist das aber nicht so. Sie haben noch sehr lebhaft in Erinnerung, wie Saddam Hussein ihre Städte bombardierte. Der Krieg der Amerikaner in Afghanistan und dann im Irak – in zwei Nachbarländern! hat die inhärente Paranoia des Regimes angestachelt, man sei als nächstes dran.
Die Iraner sind umgeben von amerikanischen Basen und von ihnen feindlich gesinnten sunnitischen Autokraten. Sie haben in den letzten Jahren bei jenen selbst erheblich Eindruck gemacht durch eine Politik des ruchlosen Terrors und der Subversion. Für einige Jahre waren sie es, die im Nahem Osten über ihre „Proxies“ über Krieg und Frieden mitentschieden (während die Araber nur hilflos zugucken konnten): über Hisbollah und Hamas konnten sie 2006 und 2008 die gesamte Region in Atem halten und „die Zionisten“ herausfordern, mit denen alle anderen im Grunde ihren Frieden gemacht hatten.
Ein System, das solche Mittel rücksichtslos einsetzt und erfährt, dass seine Gegner ebenso diese Mittel einsetzen – wie wird es sich wohl am Verhandlungstisch mit den netten Europäern verhalten? Es wird mit allen Mitteln seinen Vorteil suchen, um Zeit für das Atomprogramm gewinnen, mit dem es sich unangreifbar machen will. Irrational ist das nicht. Trotzdem gefährlich.
Die letzten Jahre liefen mies für den Iran: 2009 wurde die Grüne Bewegung platt gemacht. Der „Erfolg“ bei der Aufstandsbekämpfung hatte einen hohen Preis: Jeder konnte nun sehen, wie dieses Regime selbst noch mit loyalen Oppositionellen umgeht. Die „ausgestreckte Hand“ Obamas wirkte nun fast obszön. Der iranische Anspruch, auf Seiten des „Widerstands“ gegen die „Mächte der Arroganz“ zu kämpfen, wurde vom Regime selbst zuhause ad absurdum geführt.

Dann kamen die arabischen Aufstände, die man anfangs als „islamisches Erwachen“ zu kapern versuchte. Das ging nach hinten los, nicht nur bei den Säkularen, die eh keinen Gottesstaat wollten – sondern vor allem bei den tatsächlichen Islamisten unter den Revolutionären, den Muslimbruderparteien, die sich schiitische Vereinnahmung verbaten.

Spätestens mit dem Aufstand gegen Assad, dem Klienten Irans in Syrien, wurde klar, dass Iran nun auf der Seite eines Gewaltherrschers stand und nicht auf der des Volkes. Die Muslimbrüder der Hamas hatten sich, dieses Problem antizipierend, bereits aus Damaskus abgesetzt und sich neue Sponsoren in Qatar gesucht.

Die Sanktionen im letzten Jahr vollendeten die weitgehende Isolation Irans. Das Regime ist unter Druck. Seine terroristischen Aktivitäten werden seither auf eine ungewohnt schlampige Weise ausgeführt: Der Anschlag auf den saudischen Botschafter in den USA, die Attacken auf die israelischen Botschaften – Rohrkrepierer, zum Glück.

Es gibt aus israelischer Sicht durchaus einen Fortschritt, auch wenn das Iranproblem immer noch eskalieren kann: Der Misserfolg der Diplomatie seit 2003, die kaltschäuzige Unterdrückung der Opposition 2009, die Enthüllungen über geheime Anlagen und die Rolle des Irans in den arabischen Revolten haben zu einer nüchternen, realistischen Sicht auf Seiten der Europäer geführt.
Immer noch scheint es zwar ein Mißverständnis darüber zu geben, wie bedeutend das Atomprogramm für die Iraner ist. Es ist und bleibt ein zentraler Bestandteil ihres Großmachtstrebens. Dass es unsinnig ist, einem Land sein zentrales strategisches „Asset“ durch Körbe voller kleiner „Incentives“ wegverhandeln zu wollen, scheint sich immerhin als Einsicht durchzusetzen.
Iran ist unter Druck – durch die regionale Situation, durch die Sanktionen, durch die Einigkeit Israels und der USA, eine Bombe zu verhindern, im Zweifel auch durch militärische Schläge. Bei den kommenden Gesprächen kommt es darauf an, sich nicht wieder durch Scheinkonzessionen der Iraner einlullen und gegeneinander ausspielen zu lassen.