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75 Schlafzimmer in der Mommsenstraße

Ab morgen ist am Holocaust-Denkmal in Berlin eine Ausstellung zu sehen unter dem Titel „Deutsche verwerten ihre jüdischen Nachbarn“.

Man sieht diese Zeitungsanzeigen und fragt sich: Was ist wohl in den Köpfen der Leute vorgegangen, die das Familiensilber des Dr. S. gekauft haben – zum Schnäppchenpreis?

 

Gerechtigkeit für Harvey Milk

Ab und zu darf ich in meiner Zeitung auch über die Dinge schreiben, die mir wirklich wichtig sind. Filme zum Beispiel. Ich sehe im Schnitt jährlich weit über 300 Filme. Idealerweise jeden Tag einen.

Und dies hier ist mein Kommentar zur diesjährigen Oscar-Saison aus der morgigen ZEIT:

 

Eine Nachricht an die Damenwelt vorweg: Dieser Oscar-Jahrgang ist ein Triumph der Kerle. Lange gab es nicht mehr so viele interessante Männerrollen. Zwei alte Bekannte – Sean Penn und Mickey Rourke – feiern großartige Comebacks, als schwuler Bürgerrechtler der eine, als abgehalfterter Profi-Wrestler der andere. Zwei Kämpfe um männliche Würde: Dem einen wird sie von der Mehrheitsgesellschaft abgesprochen, dem anderen droht sie beim Abstieg im Alter zu entgleiten. Wenn es mit rechten Dingen zugeht, muss Sean Penn als Harvey Milk, der erste offen schwule Politiker Amerikas, den Oscar bekommen. Und Gus Van Sant für seine historisch genaue und politisch mitreißende Regie gleich noch die Trophäe für den besten Film dazu. 

Milk, der jetzt in unsere Kinos kommt, ist mit Abstand der bedeutendste amerikanische Film des Jahres. Und der einzige, der seine Nominierung wirklich verdient. Wahrscheinlich werden Slumdog Millionaire und Benjamin Button das Rennen machen – zwei Märchen für Erwachsene, die bedeutsam tun, gerade weil sie eher schlicht gestrickt sind. Doch an Milk wird man sich noch lange erinnern. Und Sean Penn ist sein Kraftzentrum: Er hätte den Märtyrer Harvey Milk – erschossen von einem konservativen -Expolitiker – als heiligen Sebastian der Schwulenbewegung spielen können. Das Thema hat einen enormen Sog zum Kitsch, weil Milk längst kein Mensch mehr ist, sondern eine Ikone der schwulen und lesbischen Bürgerrechtsbewegung. Doch Penn zeigt uns den Liebenden, den Empörten, den Mitfühlenden, der das Recht aufs Anderssein erkämpft und doch über die Min-derheitenpolitik hinauswill. Nicht normal sein müssen und doch das Anderssein nicht feti-schisieren: Ohne Angst anders sein, darum
geht es. Das ist kein Minderheiten-, sondern ein Menschheitsthema. 

Mickey Rourke als Wrestler – das klingt nach einer geballten Ladung Camp. Doch in dem ledrig-maskenhaften Fleischklops von einem Mann zuckt ein empfindsames Herz, das durch einen Infarkt sein Recht verlangt. Früher hätte Rourke diesen Typen mit einer Überdosis Pathos und Selbstmitleid gespielt – Marlon Brando auf Anabolika. Irgendetwas ist mit Rourke in der langen Zeit seiner Leinwandabstinenz passiert. Im altern-den Körper des Testosteronmonsters regt sich See-lenhaftes. Ein echter Mann darf keine Angst vor den eigenen Gefühlen haben. Wer Paul Mazurskys The Wrestler (Kinostart: 26. Februar) sieht, wird schmerzlich daran erinnert, dass die weiße Unterschicht aus dem amerikanischen Kino nahezu vollständig verbannt ist. Dass sie ausgerechnet in diesem Krisenjahr mit Rourke zurückkehrt, könnte man für Vorsehung halten.

Noch drei große Männerrollen sind zu erwähnen: Heath Ledger wird zu Recht postum für seinen abgründigen Joker geehrt werden, der im guten Batman das Schlimmste hervorbringt. Frank Langella weiß aus Richard Nixon (Frost/Nixon) einen fast sympathischen, unglücklichen Aufsteiger herauszupräparieren. Und Richard Jenkins, bekannt aus Six Feet Under, hat endlich eine Hauptrolle (The Visitor) als verstockter Professor aus Neuengland, der durch ein Pärchen illegaler Einwanderer seine lange verschüttete Menschlichkeit wiederfindet. 

Um die Frauen muss man sich in diesem Jahr Sorgen machen. Und dafür steht leider der Erfolg Kate Winslets, die auf dem besten Weg ist, sich selbst auf die Verkörperung des attraktiven Opfers festzulegen. Sie ist gleich mit zwei Studien- über zu kurz gekommene Weiblichkeit auf dem Markt: In Revolutionary Road gibt sie eine Ehefrau, die an den engen fünfziger Jahren zuschanden geht, und selbst die NS-Täterin Hannah im Vorleser (Kinostart 26. Februar) gerät ihr zur Studie über zu spät erblühte Weiblichkeit. Das sollte bei einer klugen und schönen Frau, die auch anders kann, den Kitsch-Alarm auslösen.

Debra Winger in den achtziger Jahren

Ob die Akademie den Mumm hat, statt Wins-let die junge Anne Hathaway für ihre Bravourleistung in Rachels Hochzeit zu belohnen? Seit Brokeback Mountain weiß man, dass Hathaway mehr kann als betörend mit ihren Rehaugen funkeln. Sie spielt die Exjunkie-Schwester, die Schuld auf sich geladen hat und nun in Selbsthass und -mitleid zu versinken droht, mit befreiender Energie. Jonathan Demme ist mit diesem Film endlich wieder da. Und er hat die große Debra Winger für eine Nebenrolle mitgebracht (wo war sie bloß?). Das ist kein geringer Trost in diesem eher schwachen Oscar-Jahr. 

… und heute, mit 52 Jahren

 

Ende einer Dienstfahrt – zum Tod von Horst Tappert

Ich kann es mir nicht verkneifen, zum Tod des Derrick-Darstellers hier ein Stück aus meiner ersten Zeit bei diesem Blatt wieder zu veröffentlichen. Es wurde geschrieben, um das Ende der legendären Serie vor 10 Jahren zu bedenken. Auszüge:

Für unsereinen aus der Generation Golf – im steten Flackern der ersten erschwinglichen Farbfernseher herangewachsen (die so stolze Namen trugen wie Rubens, Goya und Rembrandt) – hat die Welt des Herbert Reinecker den Charakter einer unhintergehbaren Wirklichkeit: „Derrick“ war immer schon da. Als „Der Kommissar“ wiederholt wurde, nahmen wir verdutzt zur Kenntnis, daß Assistent Harry Klein bereits ein Leben vor „Derrick“ geführt hatte. Fritz Wepper hatte nämlich auch schon dem Kommissar Keller als Hilfssheriff gedient, in jenen unvordenklichen Tagen des Schwarzweißfernsehens. Wer mit der deutschen Fernsehunterhaltung aufgewachsen ist, hat nolens volens eine starke Dosis Reinecker aufgesogen. Zum Lebenswerk des ewigen Quotenchampions gehören Meilensteine des kollektiven Gedächtnisses wie die „Winnetou“-Serie und die Edgar-Wallace-Filme („Der Hexer“). Jene Enthüllungsjournalisten, die Reinecker vor Jahren seine alten Propagandaschriften aus dem „Dritten Reich“ („Jugend in Waffen“, „Panzermänner an die Front!“) vorhielten, glaubten damit auch seine späteren Arbeiten für Kino und Fernsehen treffen zu können. Sie sind dem Irrtum erlegen, man könne diesem Autor irgendwelche zweifelhaften Kontinuitäten nachweisen. Es ist aber gerade das eigenartig Chamäleonhafte seiner zweiten Karriere, das ihn so bemerkenswert macht. Sein Werk nach dem Krieg steht – vom schönfärberischen Widerstandsdrama „Canaris“ (1954) über klamme Softpornos wie „Unter den Dächern von St. Pauli“ (1969) bis zur Utopie des kollektiven Freizeitparks auf dem „Traumschiff“ – ganz und gar im Zeichen des Abschieds vom jugendlichen Idealismus der „Pimpfenwelt“ (1940), für die er einst getrommelt hatte. Reineckers Leben ist ein langer Abschied von der Hoffnung auf „Die große Wandlung“ (1938), die er als junger Mann propagiert hatte. Man kann zeigen, daß sich die Erfindung Derricks in diese Absetzbewegung einfügt.

An Reineckers größtem Erfolg hat die Kritik in zweieinhalb Jahrzehnten immer wieder ihre Instrumente erprobt. Schon die erste Sendung, am 20. Oktober 1974, wurde heftig verrissen. Aber wie zum Hohn der Kommentatoren stieg die Serie um so höher in der Gunst des Publikums, je mehr die Fernsehkritik auf der Fadheit der Figuren, der Spannungslosigkeit der Handlung, der Öde des ewig gleichen Münchner Milieus herumritt. Der unaufhaltsame Aufstieg „Derricks“ zu einem weltweiten Fernseherfolg – am Ende in nahezu hundert Ländern – wurde von der ohnmächtigen Presse zunächst wütend, dann ironisch und schließlich resigniert zur Kenntnis genommen. Umberto Eco, sonst nicht um erhellende Analysen populärer Mythen verlegen, erklärte schließlich Derricks Beliebtheit aus seiner Durchschnittlichkeit.

Mit solchen Tautologien können wir uns nicht zufriedengeben. Zu unserer bundesrepublikanischen Welt der siebziger und achtziger Jahre gehört Reineckers Figur, ob es uns paßt oder nicht, wie die Tele-Knabberbar, der autofreie Sonntag, Afri-Cola und die funktionale Differenzierung. Wir haben ihn immer belächelt, wir haben Witze gerissen über sein Haarteil, die ölig glänzende proletarische Entenschwanzpomadenfrisur. Aber wenn er im Herbst vorläufig von uns geht, werden wir ihn vielleicht doch noch vermissen. Zeit für eine Bilanz.

Es ist höchst bezeichnend, wie das Ende für die Serie sich im letzten Herbst ankündigte. Nicht der Autor wollte nämlich die Sache beenden, sondern sein Hauptdarsteller, Horst Tappert. Die Serie sei ihm zu „philosophisch“ geworden, bekannte er in mehreren Interviews. In der Tat hatte Reinecker seit Jahren die ohnehin meist ziemlich spannungsfreien Plots nur mehr als Vorwand benutzt, um seinen Helden Leitartikel über die Entfremdung des Menschen, die allgemeine Verrohung der Gesellschaft und die Eitelkeit allen Strebens aufsagen zu lassen. Der Oberinspektor hatte immer noch oft in den Villen des Münchner Vororts Grünwald zu ermitteln; aber die konkreten Leidenschaften der Legion von Lehrer-Triebtätern, Drogen-Jugendlichen, Unternehmer-Vätern, der ehebrecherischen Frauen, schmierigen Witwenmörder und Huren mit Herz durften ihn am Ende weniger und weniger interessieren. Derricks Fälle waren immer blassere Illustrationen der transzendentalen Obdachlosigkeit des modernen Menschen. In Reineckers eigenen Worten, anläßlich seines Achtzigsten geäußert: „Schöner wohnen außen? Schöner wohnen innen muß man. Innen schön wohnen ist ein Problem dieser Zeit, die es allen zunehmend schwerer macht, sich wohl zu fühlen. Mir geht es um Aufklärung, um Seinsmitteilungen. Heidegger hat in einem Seminar gesagt: ,Die Atombombe ist ja längst explodiert, und zwar ganz lautlos, es ist die Entwurzelung der Menschen und im Zusammenhang damit zunehmende Entfremdung.'“ Weiter„Ende einer Dienstfahrt – zum Tod von Horst Tappert“