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Zur Debatte um die Wende im Irak: 600 Leichen in Bagdad in einem Monat

Wende im Irak? Nach einem moderat positiven Spiegel-Titel über die Lage im Land wird auch bei uns debattiert, ob es im Irak gar nicht so desaströs aussieht, wie es in den letzten Jahren schien.
Hier Material zu der beginnenden Debatte, ob das Desaster noch abgewendet werden kann.
In nur einem Monat – zwischen dem 18. Juni und dem 18. Juli 2007 wurden in Bagdad mindestens 592 oftmals verstümmelte Leichen gefunden – Opfer schiitischer und sunnitischer Todesschwadrone. Hier die anschauliche Statistik des Grauens:
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Irakkriegsbefürworter Ignatieff: Wie konnte ich so daneben liegen?

Michael Ignatieff, der kanadische Historiker, Essayist und (neuerdings) Politiker, geht angesichts des Desasters in Irak in sich und fragt sich in einem traurigen und schönen Text, wie er – als Kriegsbefürworter – so schief liegen konnte. Der ganze Text im New York Times Magazine:

„We might test judgment by asking, on the issue of Iraq, who best anticipated how events turned out. But many of those who correctly anticipated catastrophe did so not by exercising judgment but by indulging in ideology. They opposed the invasion because they believed the president was only after the oil or because they believed America is always and in every situation wrong.

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Der Intellektuelle im Wahlkampf: Ignatieff in Ontario Foto: Ignatieff Campaign

The people who truly showed good judgment on Iraq predicted the consequences that actually ensued but also rightly evaluated the motives that led to the action. They did not necessarily possess more knowledge than the rest of us. They labored, as everyone did, with the same faulty intelligence and lack of knowledge of Iraq’s fissured sectarian history. What they didn’t do was take wishes for reality. They didn’t suppose, as President Bush did, that because they believed in the integrity of their own motives everyone else in the region would believe in it, too. They didn’t suppose that a free state could arise on the foundations of 35 years of police terror. They didn’t suppose that America had the power to shape political outcomes in a faraway country of which most Americans knew little. They didn’t believe that because America defended human rights and freedom in Bosnia and Kosovo it had to be doing so in Iraq. They avoided all these mistakes.

I made some of these mistakes and then a few of my own. (…)“

p.s.: In eigener Sache: Ignatieff sagt in seinem Text auch, er werde nicht mehr den Fehler machen, sich von verfolgten Menschen, mit denen er sympathisiert, agitieren zu lassen. Das bezieht sich auf die irakische Opposition im Exil, die für den Sturz Saddams geworben hatte.
Auch ich habe mich von den Argumenten der Exilanten beeindrucken lassen. Ich habe vor dem Krieg ein grosses Interview mit Kanan Makiya geführt, dem Autor von „Republic of Fear“ dessen Engagement mich sehr für die Sache der Demokratisierung des Irak eingenommen hat. Mein Interview mit ihm ist hier nachzulesen. Zum Glück ist meinen skeptischen Fragen nicht anzusehen, wie sehr auch ich damals schief gelegen habe mit meinen Hoffnungen, für die andere den Preis bezahlen.

 

Das Ende des Interventionismus

Ich fürchte, John Gray (Professor an der London School of Economics) hat recht, wenn er die geplanten amerikanischen Waffenverkäufe an die „moderaten“ arabischen Regime so kommentiert:

The era of liberal interventionism in international affairs is over.

Die USA haben die Demokratisierung des Nahen Ostens aufgegeben und kehren zu eben jenem „Realismus“ zurück, den sie zuvor für überholt erklärt haben.

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John Gray Foto: LSE

Gray begrüßt dies ausdrücklich und zieht eine Schreckensbilanz des Irak-Abenteuers:
Der Staat Irak ist Geschichte, was nur noch im Weissen Haus und der Phantasiewelt der Grünen Zone Bagdads geleugnet werde.
Die USA können aus dem Irak nicht einfach verschwinden wie aus Vietnam, weil Irak nicht an der Peripherie der Weltökonomie liegt und weil es keine funktionierende Regierung wie seinerzeit in Nordvietnam gibt, die übernehmen könnte. Sie bleiben gebunden in den Krieg um die Ressourcen und um die damit verbundene strategische Bedeutung des Landes und seiner Nachbarn.
Dies hier ist der finsterste Teil seiner Bilanz:

„The most important – as well as most often neglected – feature of the conflict shaping up around Iraq is that the US no longer has the ability to mould events. Whatever it does, there will be decades of bloodshed in the region. Another large blunder – such as bombing Iran, as Dick Cheney seems to want, or launching military operations against Pakistan, as some in Washington appear to propose – would make matters even worse.

The chaos that has engulfed Iraq is only the start of a longer and larger upheaval, but it would be useful if we learned a few lessons from it. There is a stupefying cliche which says regime change went wrong because there was not enough thought about what to do after the invasion. The truth is that if there had been sufficient forethought the invasion would not have been launched. After the overthrow of Saddam – a secular despot in a European tradition that includes Lenin and Stalin – there was never any prospect of imposing a western type of government. Grotesque errors were made such as the disbanding of the Iraqi army, but they only accelerated a process of fragmentation that would have happened anyway. Forcible democratisation undid not only the regime but also the state.

Liberal interventionists who supported regime change as part of a global crusade for human rights overlooked the fact that the result of toppling tyranny in divided countries is usually civil war and ethnic cleansing. Equally they failed to perceive the rapidly dwindling leverage on events of the western powers that led the crusade. If anyone stands to gain long term it is Russia and China, which have stood patiently aside and now watch the upheaval with quiet satisfaction. Neoconservatives spurned stability in international relations and preached the virtues of creative destruction. Liberal internationalists declared history had entered a new stage in which pre-emptive war would be used to construct a new world order where democracy and peace thrived. The result of these delusions is what we see today: a world of rising authoritarian regimes and collapsed states no one knows how to govern.“

 

Ein Deal zwischen Teheran und Washington?

Eine brisante Analyse des saudischen Kommentators Daoud Shirian in der liberalen aranischen Tageszeitung Al Hayat. Bei der Irak-Konferenz in Scharm-El-Scheich sollen die Iraner den Amerikanern einen Deal unterbreitet haben:

The Iranians seemed to have an attitude rejecting any US presence and advocating the need to liberate Iraq from the oppressive US occupation.

But the reality is quite different. For the items in the Iranian paper submitted in the Sharm el-Sheikh conference depict a different picture; indicate a possible Iranian-American deal, and reflect an Iranian desire to get a foothold in Iraq with American approval.

The Iranians are giving insinuations to the US administration that they will accept the US occupation and assume the role of a policeman to protect this presence if Washington is willing to reach an agreement with them on the nuclear file and reconsider its position towards the Lebanese crisis and Hizbullah weapons. In return, Tehran is ready to reject any unplanned withdrawal of US troops and support the presence of these forces in bases and camps inside Iraq.
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Zufallsbegegnungen in Scharm-El-Scheich

Scharm El-Scheich, 4. Mai

Es ist nicht leicht, Zufälle zu inszenieren, zumal bei einer internationalen Konferenz von solcher Dichte, bei der sich die Aussenminister ohnehin in den Gängen des Kongresscenters auf die Füsse treten. 60 Nationen sind in Scharm El-Scheich zugegen. Es ist schwierig, unter solchen Umständen Zufallsbegegnungen zu vermeiden. Wie viel schwerer aber, eine sorgsam kalkulierte Begegnung so zu dramatisieren, dass sie ungeplant und unverbindlich aussiseht.
In Scharm El Scheich traf die amerikanische Aussenministerin Condolezza Rice auf den iranischen Aussenminister Mottaki, den die geschickten Zufallsregisseure beim Essen in der Nähe von Rice plaziert hatten. Man tauschte Höflichkeiten aus. Es ging dem Vernehmen nach um die unterschiedlichen Verfahren zur Herstellung von Speiseeis in Iran und Amerika.
Für den syrischen Aussenministerkollegen Walid Moallem hatte Rice sich sogar eine halbe Stunde Zeit genommen. Das Gespräch wurde nachher als professionell und „business-like“ bezeichnet. Rice hob hervor, weder habe sie den syrischen Kollegen „belehrt“, noch umgekehrt er sie. Das sind, hoffen Beobachter, vorsichtige erste Schritte in einem neuen Gesprächsprozess. Und vielleicht stehen sie gar für einen Paradigmenwechsel: Die Politik des Regime Change gegenüber den beiden Schurkenstaaten ist damit auf unspektakuläre Weise beendet.
Wenn die amerikanische Aussenministerin sich bemüht, den syrischen und iranischen Kollegen zu treffen, ist das ein Eingeständnis, dass die Amerikaner den Irak auf eigene Faust nicht so weit befrieden können, dass ein geordneter Rückzug möglich wird. Mit dem Syrer hat Rice vor allem über die Schließung der irakisch-syrischen Grenze für Dschihadisten gesprochen.

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Bundesaussenminister Steinmeier in Scharm-El-Scheich. Foto: Lau

Bundesaussenminister Steinmeier, der die EU-Ratspräsidentschaft bei der Konferenz vertritt, ist sehr bemüht, keine vorschnelle Euphorie aufkommen zu lassen – wie es seinem Naturell entspricht. Von einem „Durchbruch“ mag er nicht reden: Aber „die direkte Begegnung der Amerikaner mit den Syrern und Iranern ist immerhin ein kleines Zeichen der Hoffnung“, so Steinmeier heute in Scharm-El-Scheich.
Auch die EU-Aussenkommissarin Benita Ferrero-Waldner stimmte ein: „Allein die Anwesenheit von Syrien und Iran bei dieser Konferenz ist enorm wichtig.“

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Ferrero-Waldner. Foto: Lau

Für die Europäer, und speziell für die Deutschen, gibt es Grund zur Genugtuung: Steinmeiers Versuche, Syrien in den Nahostprozess einzubeziehen, wurden vor Monaten noch mit grosser Skepsis gesehen. Jetzt haben die Amerikaner selbst einen Gesprächskanal eröffnet.

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Rice nach dem Politikwechsel in Scharm-El-Scheich. Foto: Lau
Auch die Demokraten in Washington werden diesen Schritt mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen. Nancy Pelosi, Mehrheitsführerin im Kongress, hatte sich vor einem Monat noch heftige Kritik für ihre Reise nach Damaskus gefallen lassen müssen. Jetzt folgt Rice der Politik der Oppositionsführerin. Das Dementi des Regierungssprechers Tony Snow, es handele sich nicht um einen Politikwechsel, wirkt wenig überzeugend angesichts der vorherigen ideologischen Verhärtung gegenüber direkten Kontakten mit Syrien und Iran, die sich auf einmal in Nichts aufgelöst zu haben scheint.
Für die Iraker hängt viel am Erfolg der Konferenz über den Compact. Sie treten hier erstmals als Akteure auf der diplomatischen Weltbühne auf. Sie haben die Einladungsliste und die Konferenzagenda bestimmt, und sie hoffen, mit ihrer ehrgeizigen Selbstverpflichtung die Nachbarstaaten und die internationale Gemeinschaft stärker in den Wiederaufbau des Landes einzubinden: Entwaffnung der Milizen, nationale Versöhnung, Verfassungsreform, Stärkung der Menschenrechte durch Aufbau eines Rechtsstaates, gerechte Verteilung der Öleinnahmen unter Sunniten, Schiiten und Kurden sind die wichtigsten innenpolitischen Elemente des Fünf-Jahres-Plans namens Iraq Compact.
Ein weitgehender Schuldenerlass von 80 Prozent, in Aussicht gestellt bei weiteren internen Reformen des Iraks, scheint zu signalisieren, dass die Maliki-Regierung sich im Prinzip auf die Unterstützung der arabischen Staaten berufen kann. Saudi-Arabien hat auf der Konferenz zwar keine Zahlen genannt, aber doch signalisiert, substantiell helfen zu wollen. Nur die Kuweitis lehnen einen Schuldenerlass weiterhin ab – eingedenk der Zerstörungen bei der Invasion durch Saddam Husseins Truppen.
Die Saudis drückten bei der Konferenz allerdings auch grosse Skepsis gegenüber der Entschlossenheit der Maliki-Regierung aus, Sicherheit und nationale Versöhnung zwischen den verfeindeten Gruppen voranzubringen. Für eine abschliessende Einigung sei es noch zu früh, sagte der saudische Entsandte Prinz Saud. Die Saudis wollen sich offenbar stärker im Irak engagieren, um den Teheraner Einfluss im Land zu begrenzen. Sie machen ihr Engagement aber von deutlichen Fortschritten bei der Sicherheit und bei der Formierung eines „nationalen Konsenses“ abhängig. Die schiitisch geführte Maliki-Regierung wird weiter unter Druck gehalten, die Sunniten stärker an der Macht und den Ressourcen des Landes zu beteiligen.
Ob man an schon an einen veritablen Paradigmenwechsel der Amerikaner glauben darf? Immerhin ist die Politik der Isolation gegenüber Syrien und Iran stillschweigend beendet worden. Der saudische Druck in Richtung auf innere Reformen des Irak und die vorsichtige amerikanische Öffnung gegenüber den Nachbarstaaten sind mehr als „kleine Hoffnungszeichen“.
Aussenminister Steinmeier reist unterdessen weiter in die palästinensischen Gebiete und nach Israel. Mitten hinein in eine israelische Regierungskrise, die zarte Hoffnungen auf eine Wiederbelebung des Nahost-Friedensprozesses für lange Zeit zunichte machen könnte.