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Zum Erfolg der Islamisten bei den Wahlen

Im Wechsel mit Alaa Sabet, Chefredakteur der Al-Ahram Abendzeitung (Ägypten), habe ich gestern auf DW-TV Arabic die jüngsten Ereignisse in Tunesien, Libyen und Ägypten kommentiert. Zentralthema: Aufstieg der Islamisten bei den Wahlen. Sabet erwartet auch für Ägypten einen großen Erfolg der Muslimbrüder.

Hier in der Mediathek (leider nur auf Arabisch).

 

Die arabische Demokratie wird islam(ist)isch sein

Eine unvermeidliche Folge der arabischen Freiheitsbewegung wird die Islamisierung der Politik sein. Denn die repressive Säkularisierung (ja, ich weiß, ein problematischer Begriff, denn klar säkularistisch war keines dieser Regime, überall gab es die Einmischung des Staates in die Angelegenheiten der Religionen) durch autoritäre Herrschaft ist am Ende. Das heißt nicht, dass für alle Zeiten kein Säkularismus in der islamischen Welt möglich sein wird – der interessante Fall ist hier die Türkei. Aber zu einem Modell – oder zu Modellen – der Koexistenz von Staat und Religion wird man nur durch eine Phase der Renaissance des politischen Islams kommen.

Zunächst einmal ist das Ende der repressiven Säkularisierung für freiheitsliebende Menschen eine gute Nachricht. Die Unterdrückung der (politischen) Religion, mitsamt Folter, Entrechtung, Mord, ist vorbei. Eine Form der Religionsfreiheit – die Freiheit zur Religion im öffentlichen Leben – wird entsprechend Aufwind haben. Jedenfalls für die Mehrheitsreligion, den sunnitischen Islam. Aber: Das Schicksal der religiösen Minderheiten ist damit zugleich ungewisser geworden. Und wie es mit dem anderen Aspekt der Religionsfreiheit steht – der Freiheit von der Religion (von der Mehrheitsreligion, oder von jeglicher Religion im Fall von Atheisten) – das ist eine große Frage für alle Übergangsregime der arabischen Welt. Ausgang: offen.

Es gibt Anlässe zur Sorge: Wenn etwa der Vorsitzende des Übergangsrats in Libyen die Proklamation der Befreiung mit folgenden Sätzen krönt – „Männer, ihr könnt wieder vier Frauen heiraten! Denn so steht es im Koran, dem Buch Gottes. Ihr könnt beruhigt nach Hause gehen, denn ihr müsst nicht eure erste Frau fragen.“ Zinsen sollen übrigens auch verboten werden, weil sie unislamisch seien, so Mustafa Abdul Dschalil in Bengasi am letzten Wochenende. Oder wenn in Tunesien ein TV-Sender wegen der Ausstrahlung des Films „Persepolis“ angegriffen wird und der Senderchef um sein Leben fürchten muss angesichts eines aufgehetzten Mobs. Wenn in Kairo Dutzende Kopten massakriert werden und das Staatsfernsehen „ehrliche Ägypter“ auffordert, gegen Christen loszuschlagen. Wenn der Mörder der Kopten von Nag Hammadi, der für seine Bluttat zum Tode verurteilt wurde, als Held gefeiert wird: Was wird aus den religiösen (und anderen) Minderheiten in der befreiten arabischen Welt?

Trotzdem hilft alles nichts: Der politische Islam wird Teil des postrevolutionären politischen Spektrums in allen Ländern sein, die sich vom Joch befreien. Wie könnte es auch anders sein? Jahrzehntelang haben die Anhänger der islamistischen Bewegungen unfassliche Entrechtungen erlitten. (Man lese etwa die Romane von Ala Al-Aswani, der wahrlich keine Sympathien für den politischen Islam hat, aber dennoch die Märtyrer-Geschichten der Islamisten erzählt, die sich in Mubaraks Kerkern abspielten.) Wahr ist auch, dass sie machmal von den autoritären Regimen benutzt wurden: Man hat sie gewähren lassen, um die Linke und andere säkulare Kräfte zu schwächen. Man hat ihnen Spielraum gegeben, um sie dann immer wieder in Repressionswellen kleinzuhalten. Aber:  Sie haben unter schwierigsten Bedingungen überlebt, ihre Netzwerke aufrecht erhalten und sich in vielen Ländern um die Ärmsten gekümmert. Jetzt werden sie erst einmal als glaubwürdige Alternative dafür den Lohn einfahren.

Dass es auf Dauer ein Durchmarsch wird, ist nicht gesagt: Wo es andere Parteien gibt, ist das alte Spiel der Islamisten vorbei, sich als einzige Alternative zur autoritären Modernisierung von oben zu präsentieren. Und: Es ist nun nicht mehr mit Sprüchen wie „Der Islam ist die Lösung“ getan. Jetzt müssen Vorschläge vorgelegt werden, wie eine Wirtschaftspolitik, eine Sozialpolitik, eine Bildungspolitik aussehen würde, die die Länder aus dem Elend führt. Polygynie und Zinsverbot sind nicht die Antwort auf die Alltagsprobleme der Bürger, selbst der frommen.

Für die Beobachter in Europa stellt sich die Frage, wie sinnvoll der Begriff „Islamismus“ noch ist, wenn er Phänomene wie die türkische AKP, die tunesische Ennahda, die jemenitische Islah-Partei (mitsamt der Friedensnobelpreisträgerin), die ägyptischen Muslimbrüder ebenso wie die ihnen feindlich gesinnten Salafisten und möglicher Weise auch noch gewalttätige Dschihadisten von Hamas bis Al-Shabab bezeichnet. Zu erwarten sind noch weitere Differenzierungen im Laufe der kommenden Ereignisse. Der neue Parteienmonitor der Adenauer-Stiftung verzeichnet für die ägyptischen Wahlen alleine 13 (!) religiöse Parteien, und die Listen sind noch nicht geschlossen. (Sehr viel mehr säkulare und sozialistische, übrigens, was aber wieder nichts über die Wahlchancen der jeweiligen Lager aussagt.)

Ein instruktives Paper über die islamistischen Oppositionsbewegungen in Jordanien, Ägypten und Tunesien hat Karima El Ouazghari von der HSFK vorgelegt. Wie schwierig die Lage-Einschätzung selbst für Forscher ist, die vor Ort Gespräche führen, zeigt sich in dem Satz über die Ennahda-Partei. Weil sie in den Wochen des Umbruchs keine gewichtige Rolle gespielt habe, werde sie zwar versuchen, „ihren Platz im neuen Tunesien zu finden, doch wird sie dabei keine gewichtige Rolle spielen“. Das wurde offensichtlich schon vor Monaten geschrieben. Nach dem Wahlsonntag würde man das wohl kaum noch so sehen. Es kommt hier eine Täuschung zum Tragen, der viele Beobachter erlegen sind, und ich auch: Weil die Revolutionen nicht islamistisch geprägt waren, würden auch die Folgen dies nicht sein. So einfach ist das nicht. Islamisten werden eine wichtige Rolle spielen, und zwar wahrscheinlich in jedem Land eine andere. Eine Wiederholung des iranischen Falls ist wenig wahrscheinlich, wo die Islamisten schließlich alles übernahmen und die restliche Opposition terrorisierten, ermordeten und außer Landes drängten. Dies schon allein deshalb, weil der Iran als Modell so grandios gescheitert ist und die Parole vom Islam als Lösung diskreditiert hat.

Die interessanten Debatten der kommenden Zeit werden sich wahrscheinlich zwischen den verschiedenen Strängen des Islamismus – oder politischen Islams, oder islamisch geprägter Politik – abspielen, und nicht zwischen Islamisten und Säkularen (wie ich zunächst erwartet hatte). Soll es in Ägypten einen religiösen Rat der Ulema geben (eine Art religiösen Wächterrat der Politik), und wie weit sollen seine Kompetenzen gehen? Sollen tatsächlich Frauen von hohen Ämtern ausgeschlossen sein, wie es die konservativen Kräfte in der MB 2007 forderten? Oder passt das nicht mehr in die Post-Tahrir-Welt? Kann ein Kopte theoretisch Präsident von Ägypten werden?

Ein sprechender Moment der letzten Wochen war Erdogans Besuch in Kairo. Dort hat er für das türkische Modell eines säkularen Staates geworben. Die MB waren nicht sehr amüsiert. Das ist interessant: Der Vertreter eines modernen politischen Islams wirbt für die Trennung von Religion und Staat, und wird dafür von den Islamisten kritisiert, die sich sehr viel mehr Verschränkung von Religion und Staatlichkeit wünschen. Der im Westen als Islamist verdächtigte Erdogan findet sich plötzlich in der Rolle, von konservativeren Brüdern für seine paternalistische Einmischung kritisiert zu werden. Von den Türken will man sich kein Gesellschaftsmodell aufdrängen lassen. Zu westlich. Willkommen in unserer Welt, Bruder Recep! (Auch den äpyptischen Militärs, die anscheinend mit den MB schon hinter den Kulissen koalieren, ist das türkische Modell sicher nicht so sympathisch, seit Erdogan das Militär immer weiter zurückgedrängt hat.) Zur entscheidenden Rolle des türkischen Modells gibt es ein sehr aufschlußreiches Interview auf Qantara.de mit der Soziologin Nilüfer Göle. Darin  sagt sie:

Göle: Ich denke, dass das, was Erdoğan zuletzt in Kairo in Bezug auf den Säkularismus sagte, ein sehr wichtiges Signal ist. Ich kann die Frage, ob seine Aussagen aufrichtig oder Teil einer versteckten Agenda sind, nicht beantworten, weil das hieße, sich auf bloße Verdächtigungen zu stützen; ich glaube aber, dass es ein wichtiger Moment in dem Sinne war, dass es ihm darum ging, nicht zu einem populistischen Diskurs beizutragen.

Wenn Erdoğan sagt, dass wir den Säkularismus neu interpretieren und wir ihn als post-kemalistischen Säkularismus verstehen müssten, dann erscheint dieser Säkularismus viel offener und kann alle unterschiedlichen Glaubenssysteme umfassen. Eine solche Definition des säkularen Staates erfordert die gleiche Distanz des Staates zu allen Glaubenssystemen, mit der die religiöse Freiheit auch für Nicht-Muslime gesichert werden kann. In Erdoğans Kairoer Rede sehen wir seinen Versuch, mit den Mitteln des Säkularismus einen Rahmen für die Rechte der Nicht-Muslime in der arabischen Welt zu definieren. Und in diesem Sinne hat diese Definition des laizistischen Staates, der eben nicht nur eine Reproduktion des kemalistischen Laizismus ist, durchaus das Potenzial, die autoritären Züge, die ihm eigen sein können, zu überwinden und die Tür zu einem post-säkularen Verständnis der religiös-laizistischen Kluft zu öffnen.

 

Ebenfalls in Qantara.de schreibt Khaled Hroub über Erdogans Moment in Kairo:

Erdogan hat den Islamisten in Kairo mitgeteilt, dass der Staat sich nicht in die Religion der Menschen einzumischen habe und zu allen Religionen denselben Abstand halten solle. Er müsse säkular sein, wobei Säkularismus nicht Religionsfeindlichkeit bedeute, sondern der Garant für die freie Religionsausübung aller sei. Der Staat, den die arabischen Islamisten im Sinn haben, ist ein religiöser Staat, der jedem Individuum die Religion aufzwingt und natürlicherweise nur eine einzige Auslegung der Religion kennt.

Welcher der von den heutigen Muslimbrüdern oder Salafisten vorgeschlagenen islamischen Staaten würde denn die völlige Freiheit der anderen Religionen und Überzeugungen, wie Christentum, Judentum, Hinduismus oder Sikhismus akzeptieren? Welche dieser Staaten würden den islamischen Konfessionen, die den jeweils herrschenden Islamisten nicht passen, wie z.B. den diversen schiitischen Schulen, den Ismailiten, der Bahai-Religion, der Ahmadiyya-Bewegung usw., Freiheit und Sicherheit gewähren?

Ist es nicht eine Schande, dass im Westen unter den Bedingungen des Säkularismus die Muslime aller Konfessionen in Frieden und gegenseitiger Achtung miteinander leben, während sie in jedem ihrer islamischen Länder daran scheitern, sozialen Frieden zu schaffen und sich gegenseitig zu achten?

Der Vorsitzende der Ennahda in Tunesien, Rachid Ghanouchi, beruft sich immer wieder auf das türkische Modell. Seine Partei will er im Sinne der AKP als moderne, demokratische Partei verstanden wissen, die analog zu den Christdemokraten ihre Werte aus der Religion zieht, aber keine Theokratie und kein Kalifat anstrebt und den Pluralismus bejaht. Allerdings waren das bisher alles Bekenntnisse aus der Opposition heraus, unter der Notwendigkeit, sich gegen den Verdacht zur Wehr zu setzen, man habe eine versteckte Agenda, die sich erst nach Wahlen zeigen werde. One man, one vote, one time? Bald wissen wir mehr.

 

 

 

 

Was Libyenkrieg und Irakintervention unterscheidet

Marc Lynch erklärt in seinem Blog auf Foreign Policy, warum es falsch war und ist, mit der Erfahrung des Irakkrieges gegen die Nato-Intervention in Libyen zu sein. Ich kann nur hoffen, dass in der deutschen Regierung solche Quellen gelesen werden. Denn es ist offensichtlich, dass die Deutschen bei ihrer Enthaltung voll in die Irak-Falle gelaufen sind. Merkel hatte einst in der Washington Post Schröder für seine Zurückhaltung gegenüber den amerikanischen Invasionsplänen kritisiert, nun wollte sie offenbar selber ihre Unabhängigkeit von Amerika demonstrieren.

Nie wieder Truppen für ein humanitäres Abenteuer in der arabisch-islamischen Welt, das war ihre (falsche) Schlussfolgerung aus dem Fehler, Bush gegen Schröder unterstützt zu haben:

The Arab public embraced the Libyan uprising in February, which began less than a week after Mubarak’s fall. They saw the Libyan revolution as part of their own common story of peaceful, popular challenges to entrenched authoritarian rule. They watched in horror as Qaddafi responded with brutal military force, and as his forces advanced on Benghazi they desperately called for the world to help.

I heard a lot of skepticism about this Arab demonstration effect after the NATO intervention began. Skeptics pointed out, quite correctly, that the regimes in Bahrain, Yemen, and Syria seemed undeterred by the NATO show of force. But they generally ignored, or just didn’t care about, the overwhelmingly positive response at the time in most of the Arab public. The Arab public, watching the battle unfold on al-Jazeera and online, understood that a massacre had been prevented by the intervention.

A significant portion of American and Western commentators were quick to assume that Arabs would view the Libya intervention through the lens of Iraq. I assumed that too, at first. But the debate that I saw unfold in the actual Arab public sphere was entirely different and forced me to change my mind. While there were certainly Arab voices warning of imperialism and oil seizures and Israeli conspiracies, the overwhelming majority actively demanded Western intervention to protect the Libyan people and their revolution. The urgency of preventing the coming massacre mattered more to them, and despite all the legacies of  Iraq they demanded that the United States and the international community take on that responsibility.

As for the demonstration effect on regimes, it is worth recalling that both Syria and Yemen saw significant escalations at exactly that moment which hardly seem a coincidence. The Syrian uprising really began to take root after the regime’s heavy handed response to rising protests in Deraa on March 18.  Its violence in Deraa set in motion the cycle of repression and mobilization, which has brought hundreds of thousands of Syrians into the streets and turned Assad’s regime into an international pariah. The repertoire of escalating international condemnation, targeted sanctions, and International Criminal Court referrals now being deployed against Assad’s regime debuted in Libya.

March 18 was also Yemen’s „Bloody Friday,“ when  Ali Abdullah Saleh’s forces opened fire on a large demonstration at Sanaa University. Over the following days, massive protests erupted across the country, al-Jazeera broke away from its wall to wall Libya coverage to focus on Yemen, and the defection of Major General Ali Muhsin and a host of government officials, ruling party members, and military officers made it appear that the regime’s end was near. Saleh refused to step down and Yemen descended into the grinding political stalemate it’s in today. But that shouldn’t make us forget how close Yemen was to real change in those weeks. Perhaps now there will be one final chance to push toward closure in Yemen before Saleh returns.

Libya lost its central place in the Arab public sphere as the war dragged on. Even if al-Jazeera continued to cover the war heavily, the agenda fragmented and darkened. Arab attention was consumed by new setbacks and stalemates, from the brutal repression in Bahrain to the incomprehensible stalemate in Yemen, to the escalating brutality in Syria. But over the last two days, Arab attention refocused on Libya. Arabs from Yemen, to Syria, to Morocco experienced Qaddafi’s fall as part of their own story. And they are clearly inspired, galvanized and energized.

Arab activists across the region will now likely try to jump-start protest movements which had lost momentum. Some will succeed, others won’t. (…)

 

Die Top Ten der Mythen über den Libyen-Krieg

Während die Welt sich darüber freut, dass die Deutschen (Russen und Chinesen) Unrecht zu behalten scheinen mit ihren Annahmen über Libyen, ist es an der Zeit, die Irrtümer über den Konflikt in Nordafrika aufzuarbeiten.

Der linke Nahostexperte Juan Cole hat viel Gegenwind aus dem eigenen Lager zu spüren bekommen, weil er den Krieg der NATO gegen Gadhafi unterstützt hat. Cole sieht sich durch den bevorstehenden Fall des Diktators bestätigt.

Gadhafis rapiden Sturz erklärt Cole sich damit, dass der Oberst nur noch auf Gewalt setzen konnte, weil seine Herrschaft bei weiten Teilen der libyschen Bevölkerung den  Rückhalt verloren hatte.

Seine Liste der 10 schlimmsten Irrtümer über die libysche Revolution ist lesenswert:

Given the controversies about the revolution, it is worthwhile reviewing the myths about the Libyan Revolution that led so many observers to make so many fantastic or just mistaken assertions about it.

1. Qaddafi was a progressive in his domestic policies. (…)

2. Qaddafi was a progressive in his foreign policy.

3. It was only natural that Qaddafi sent his military against the protesters and revolutionaries; any country would have done the same. No, it wouldn’t, and this is the argument of a moral cretin. In fact, the Tunisian officer corps refused to fire on Tunisian crowds for dictator Zine El Abidine Ben Ali, and the Egyptian officer corps refused to fire on Egyptian crowds for Hosni Mubarak. (…)

4. There was a long stalemate in the fighting between the revolutionaries and the Qaddafi military. There was not. This idea was fostered by the vantage point of many Western observers, in Benghazi.

5. The Libyan Revolution was a civil war. It was not, if by that is meant a fight between two big groups within the body politic. There was nothing like the vicious sectarian civilian-on-civilian fighting in Baghdad in 2006. The revolution began as peaceful public protests, and only when the urban crowds were subjected to artillery, tank, mortar and cluster bomb barrages did the revolutionaries begin arming themselves. (…)

6. Libya is not a real country and could have been partitioned between east and west. (…) I don’t understand the propensity of Western analysts to keep pronouncing nations in the global south “artificial” and on the verge of splitting up. It is a kind of Orientalism. All nations are artificial. (…)

7. There had to be NATO infantry brigades on the ground for the revolution to succeed. (…) But there are not any foreign infantry brigades in Libya, and there are unlikely to be any. Libyans are very nationalistic and they made this clear from the beginning. Likewise the Arab League. NATO had some intelligence assets on the ground, but they were small in number, were requested behind the scenes for liaison and spotting by the revolutionaries, and did not amount to an invasion force. The Libyan people never needed foreign ground brigades to succeed in their revolution.

8. The United States led the charge to war. There is no evidence for this allegation whatsoever. (…)  Secretary of Defense Robert Gates, the Pentagon, and Obama himself were extremely reluctant to become involved in yet another war in the Muslim world. It is obvious that the French and the British led the charge on this intervention, likely because they believed that a protracted struggle over years between the opposition and Qaddafi in Libya would radicalize it and give an opening to al-Qaeda and so pose various threats to Europe. French President Nicolas Sarkozy had been politically mauled, as well, by the offer of his defense minister, Michèle Alliot-Marie, to send French troops to assist Ben Ali in Tunisia (Alliot-Marie had been Ben Ali’s guest on fancy vacations), and may have wanted to restore traditional French cachet in the Arab world as well as to look decisive to his electorate. Whatever Western Europe’s motivations, they were the decisive ones, and the Obama administration clearly came along as a junior partner (something Sen. John McCain is complaining bitterly about).

9. Qaddafi would not have killed or imprisoned large numbers of dissidents in Benghazi, Derna, al-Bayda and Tobruk if he had been allowed to pursue his March Blitzkrieg toward the eastern cities that had defied him. But we have real-world examples of how he would have behaved, in Zawiya, Tawargha, Misrata and elsewhere. His indiscriminate shelling of Misrata had already killed between 1000 and 2000 by last April,, and it continued all summer. (…)

10. This was a war for Libya’s oil. That is daft. Libya was already integrated into the international oil markets, and had done billions of deals with BP, ENI, etc., etc. None of those companies would have wanted to endanger their contracts by getting rid of the ruler who had signed them. (…)

 

Gadhafis Endkampf ums eigene Bild

Wir haben kein Bild von Osama bin Ladens Ende. Kathryn Bigelow arbeitet zwar an einem Film, für den sie offenbar vom Weißen Haus mit Informationen über den Hergang der Nacht von Abottabad versorgt wird. Aber wir werden in absehbarer Zeit wahrscheinlich kein Bild des toten Führers der Kaida sehen. Für den größten Bilderproduzenten des neuen Jahrhunderts (die Zerstörung der Twin Towers wird uns bald wieder – zum nahen 10. Jahrestag – heimsuchen) ist das ein bitteres Ende – diese Bilderlosigkeit seines Todes. Die amerikanische Regierung hat gut daran getan, den Bilderkrieg mit den Terroristen so weiterzuführen. Osamas Anhänger versuchen nun, mit 100 Attentaten zu Ehren ihres Chefs wieder in die Vorhand zu kommen. Das ist eine Strategie, die sich selbst besiegt.

Ich warte unterdessen gespannt auf das Schlußbild zu der wahrlich auch bilderreichen Karriere Muammar Gadhafis. Wie wird der Mann, der Zeit Lebens die Bildwelt des verrückten, mörderischen Clowns variierte, sich in die Ikonografie des Tyrannensturzes einfügen? Wenn man seiner Rhetorik und seiner Selbstinszenierung in den letzten Monaten folgt, schwebt ihm ein Endkampf im Führerbunker vor, allerdings wahrscheinlich ohne Zyankali-Kapseln.

Zwei Bilder, die er sicher zu vermeiden suchen wird, haben in den letzten Jahren zwei andere einst starke Männer der arabischen Welt geliefert.

Saddam Husseins Zahnuntersuchung markierte den Nullpunkt seiner Macht. Es hätte der späteren Bilder von seiner Hinrichtung nicht mehr bedurft, um seine Entmachtung darzustellen.

Hosni Mubaraks Auftritt vor Gericht vor wenigen Tagen markiert ein anderes mögliches Ende, in meinen Augen noch viel schlimmer für den Tyrannen (obwohl dieser Tyrann in keiner Weise mit einem Massenmörder wie Saddam Hussein oder einem Terrorfürsten wie Gadhafi gleichgesetzt werden kann): Der Machthaber als kranker alter Mann, dem der Prozess gemacht wird.

 

Libyen: Der Untergang

Als gerade die große Rede aus dem Führerbunker in Tripolis begann, stand ich in der Podbielskiallee 42 in Berlin-Dahlem. Ich habe versucht, den libyschen Botschafter Jamal El-Baraq zu finden. Die Telefone in der Botschaft werden seit Stunden nicht mehr bedient.

Die Website der Botschaft ist von Oppositionellen gehackt worden. Sie enthält nur noch eine Botschaft an Gaddafi in Arabisch und die Nummer eines libyschen Oppositionellen namens el Ghati. Ich habe also Herrn el Ghati angerufen, der es offenbar sehr eilig hat. Er verwies mich weiter an einen Herrn Mohammed Ben Hmeda, der seit den Siebzigern in Deutschland lebt und 1984 vom Regime in absentia zum Tode verurteilt worden ist. Ben Hmeda macht sich große Sorgen um die Gleichgesinnten in Libyen und kritisiert die immer noch zu schwache Position der Europäer. Gaddafi sei „ein Unmensch“, man habe immer darauf hingewiesen. Er müsse gewaltsam gestürzt werden, darum sei es Blödsinn, wie es Frau Ashton im Namen der Europäer getan habe, beide Seiten zur Gewaltlosigkeit aufzufordern.

Es war falsch, sagt Ben Hmeda, Libyen nach Lockerbie zu rehabilitieren und Waffen an das Regime zu liefern. Es sei klar gewesen, dass diese eines Tages gegen die eigenen Leute eingesetzt werden würden.

Zu den europäischen Ängsten vor Chaos und Bürgerkrieg sagt er, diese würden gezielt vom Regime geschürt und seien genauso unsinnig wie die „Lüge, dass der islamistische Fundamentalismus droht“.

Die ganze Familie Gaddafi müsse entmachtet und vor Gericht gestellt werden. Europa müsse deutlich zu seinem Sturz aufrufen. Die Situation in den Straßen von Tripolis sei ein Alptraum: Söldner schössen auf Zivilisten, um Terror zu verbreiten.

Danach sprach ich noch mit Ali Zeidan, einem anderen Menschenrechtsaktivisten libyscher Herkunft, aber in Deutschland geboren. Er erzählte mir, dass die Mitarbeiter der Botschaft in Berlin – sechs Libyer – entlassen worden seien, weil sie sich geweigert haben, für das Regime zu demonstrieren. Er forderte den Botschafter auf, sich vom Regime zu distanzieren wie schon viele seiner Kollegen (bei den UN, in Indien, bei der Arabischen Liga). Morgen um 13 h will Ali Zeidan an einer Demo vor dem Auswärtigen Amt in Berlin teilnehmen.

Gaddafi, sagte Ali Zeidan, habe dem Volk den Krieg erklärt, und sein Sohn habe dies mit seiner Rede bestätigt. Es fehlen dringend Medikamente und in einzelnen Städten auch schon Nahrungsmittel. Die Bundesregierung müsse ein deutliches Statement abgeben, meint er.

Die Oppositionellen sind voller Hoffnung, dass auch in Libyen der Wandel zum Besseren gelingen kann und drängen den Westen, sich nicht von der Propaganda des Regimes einschüchtern zu lassen, dass nach Gaddafi die Sintflut kommt.

Unterdessen bleibt mein Versuch, den Botschafter zu stellen, erfolglos. Keine Reaktion auf meine Anrufe, keine Reaktion in der Botschaft auf mein Klingeln. Ein einsamer, verfrorener Wachtmann schaut mich von ferne  nervös an. In der Podbielskiallee 42 ist das Licht schon aus.

p.s. 5oo Meter weiter unten in der Allee, gleich auf der anderen Seite, ist die iranische Botschaft. Wie gerne würde ich die Gespräche hören, die dort dieser Tage geführt werden.

 

Gaddafis Ende?

Gaddafi ist nach Gerüchten, die in diesen Minuten auf Al-Jazeera kursieren, auf dem Weg nach Venezuela. Auch wenn das nicht stimmen sollte: einleuchtend ist die Vorstellung schon. Chavez und Gaddafi, das odd couple der Weltpolitik. Die beiden verdienen einander.

Aus dem Grünen Buch die Passage zur Frage, wie man gewaltlos gesellschaftlichen Wandel organisieren kann (während Gaddafis Schergen immer noch scharf schießen):

HOW DOES SOCIETY
           READJUST ITS
       DIRECTION IN CASE OF
      DEVIATION FROM ITS LAW?
                  

  If an instrument of governing is
dictatorial, as in political systems in
the world today, the society's vigilance
towards deviation from law will have
only one way to gain readjustment.
That is violence, which means revolu-
tion against the instrument of gov-
erning. This violence or revolution,
even if it is an expression of the feeling
of the society against deviation, is not
carried out by the whole society. It is
undertaken only by those who have the
initiative and boldness to proclaim the
will of the society. However, this
approach is the way to dictatorship, for
this revolutionary initiative increases
the opportunity for an instrument of
governing, representative of the peo-
ple, to arise. This means that the
instrument of governing is still dictato-
rial. Moreover, violence and change by
force are themselves undemocratic,

                  [39]


although they take place as a result of
the existence of a previous undemocra-
tic situation. The society that is still
entangled around this resultant is a
backward society. What, then, is the
solution?
  The solution is for the people to be
the instrument of governing from
basic popular congresses to the Gener-
al People's Congress. The government
administration is abolished and re-
placed by people's committees. The
General People's Congress should be a
national congress where basic popular
congresses, people's administrative
committees, unions, syndicates and all
professional associations come
together. If a deviation from the socie-
ty's law takes place under this system,
it should be dealt with through a demo-
cratic revision rather than by force.
This is not a process of voluntary
choice of the method of change or of
treatment, rather it is an inevitable
result of the nature of such a democra-
tic system. In such a case, there is no
outside group against which violent
action may be directed or which may
be held responsible for deviation.