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Lesestunde in der Wüste

 

Begeistert schmökern die Kinder in der Lesestunde in den Büchern, die die Bibliothekare in die Wüste gebracht haben

In Kenia gibt es eine besondere Bibliothek: Kamele bringen Bücher zu Kindern, die in abgelegenen Dörfern wohnen

Von Nicola Meier mit Fotos von Maria Irl

Khalif liebt Bücher. Bilderbücher. Märchenbücher. Sogar Schulbücher. Hauptsache, er kann etwas lesen. Würde der 13-
Jährige in Deutschland leben, hätte er wahrscheinlich ein richtig volles Bücherregal. Aber Khalif wohnt nicht in Deutschland, sondern in Kenia. Und er besitzt nicht ein einziges Buch. Doch alle zwei Wochen kommt ein Kamel und bringt ihm Lesestoff.

Khalif lebt in Kenia

Khalif lebt in einer Nomadenfamilie. Nomaden sind wandernde Viehhüter. Sie wohnen nicht an einem festen Ort, sondern ziehen mit ihren Tieren umher und bleiben immer dort, wo es Futter für ihr Vieh gibt. Manchmal bleiben Nomadenfamilien Monate an einem Ort, manchmal nur einige Wochen. Khalifs Familie lebt derzeit in der Nähe von Maramtu, einem kleinen Dorf im Osten des afrikanischen Landes Kenia.

In dieser Region ziehen viele Nomadenfamilien umher. Sie wohnen in runden Hütten, die ein bisschen aussehen wie Iglus aus Lehm und Bast. An einem Tag können sie sich ihre Hütten bauen. Nomaden haben wenig Geld, wenig Besitztümer, und Bücher können sie sich meist nicht leisten. Damit Kinder wie Khalif trotzdem lesen können, wurde in der Stadt Garissa vor 15 Jahren eine ganz besondere Bibliothek gegründet: Viermal in der Woche ziehen Bibliothekare mit Kamelen durch die Wüste und bringen Bücher zu den Nomaden.

Abdullahi Osman und Abdirahman Bashir, zwei Mitarbeiter der normalen Bibliothek von Garissa, stehen morgens zwischen den hohen Regalen mit Kinderbüchern und packen eine Auswahl in zwei große Holzkisten. Die schleppen sie auf den Hof und hieven sie auf den Rücken eines Kamels. Es heißt Gafane und ist eines von zwei Bücherkamelen der Bibliothek. Die Tiere wechseln sich bei den Märschen ab. Zusätzlich laufen drei Jungkamele mit, die sich schon mal an die Wüstentouren gewöhnen sollen. Auch zwei Kamelführer sind dabei. Es ist also eine richtige Karawane, mit der Osman und Bashir losziehen.

Mehrere Stunden laufen sie durch Hitze und Staub zu den Nomadensiedlungen. Heute bringen sie die Bücher zur Grundschule in Maramtu, wo Khalif in die vierte Klasse geht. Fast 300 Kinder werden hier unterrichtet. Sie kommen zum Unterricht, solange sie mit ihren Familien in der Nähe wohnen. Als sich die Kamele und ihre Begleiter am späten Vormittag nähern, stehen die Schüler schon an den Fenstern. Eigentlich ist gerade Englischstunde, und die Kinder sollen den Unterschied zwischen this und these lernen. Aber auf die Worte an der Tafel kann sich niemand mehr konzentrieren.

Kamele tragen die schweren Bücherkisten in die Wüste

»Ich bin immer ganz aufgeregt, wenn die Kamele kommen«, sagt Khalif. Die Bibliothekare Osman und Bashir breiten die Bücher auf drei Bastmatten unter einem Akazienbaum vor der Schule aus. Viele Exemplare sind zerlesen, einige vergilbt. Diesem fehlt der Einband, bei jenem ist ein Buchrücken geklebt. Aber für die Kinder sind all diese Bücher ungemein kostbar. Einige Geschichten sind auf Kisuaheli, das ist eine afrikanische Sprache, die meisten aber auf Englisch, der zweiten Landessprache Kenias.

Momo von Michael Ende ist dabei, Charles Dickens’ David Copperfield und Anna Sewells Geschichte von Black Beauty. Auch Schulbücher liegen auf den Matten, mit Matheübungen und Vokabeltraining. Jeder Schüler darf sich für die Lesestunde ein Buch aussuchen. Khalif greift sich an diesem Vormittag eine afrikanische Geschichte mit bunten Bildern und setzt sich zu seinen Mitschülern auf die Erde. Ganz still ist es. Die Kinder haben die Köpfe über die Seiten gebeugt, einige bewegen ihren Zeigefinger unter den Buchstabenreihen entlang, manche murmeln leise Worte vor sich hin.

Dass die Jungen und Mädchen überhaupt lesen können, ist für sie etwas Besonderes. Nicht alle Eltern in dieser Region schicken ihre Kinder zur Schule. Es ist zwar eigentlich ihre Pflicht, aber ob sie sich daran halten, wird nicht genau überprüft. Vielen Nomadeneltern ist Bildung nicht so wichtig, weil sie selber nie zur Schule gegangen sind. Vier von fünf Menschen in diesem Teil Kenias sind Analphabeten, das heißt, sie können nicht lesen und nicht schreiben. Die Bibliothekare hoffen, dass sich die Menschen durch ihre Besuche mehr für Bücher interessieren – vielleicht sogar die Nomaden, die nie lesen gelernt haben.

Und die Kinder sollen den Spaß am Lesen entdecken. Für Osman und Bashir ist diese Arbeit zwar ganz schön anstrengend, schließlich müssen sie bei 30 bis 40 Grad lange Strecken durch die Wüste laufen. Aber sie sind stolz auf das, was sie tun. »Es ist toll, die Kinder lesen zu sehen «, sagt Osman. »Kenia ist ein Land, das immer mehr liest. Und wir tragen unseren Teil dazu bei.«

Für Khalif und seine Mitschüler ist der Lesespaß nach einer Stunde und 15 Minuten vorbei – viel zu schnell, finden die Kinder. Sie würden gern noch länger schmökern. Bücher ausleihen und mit nach Hause nehmen, das dürfen sie nur selten. Es sind schon häufig Bände verschwunden, weil die Kinder mit ihren Familien weitergezogen waren – und die Bücher mit ihnen. Deshalb muss man sich nun für Ausleihtage anmelden.

Die Bibliothekare und die Kamele machen sich am Nachmittag auf den Rückweg nach Garissa. Es wird mindestens zwei Wochen dauern, bis sie wieder nach Maramtu kommen. In der Zwischenzeit besucht die wandernde Bibliothek andere Siedlungen, in denen andere Kinder warten. Khalif muss sich gedulden, bis er das nächste Mal lesen darf. Aber dann wird er ein Buch ausleihen, dafür hat er sich angemeldet. Wenn die Kamele das nächste Mal kommen, wird er zum ersten Mal ein Buch mit nach Hause nehmen. Und dann kann er so lange lesen, wie er will.