In vielen Ländern Afrikas herrschen Hunger und Armut. Wer helfen will, kann Geld spenden – oder selbst hinreisen. Sina Giesecke hat in einem Waisenhaus in Ghana unterrichtet.
Von Sina Giesecke
Obroni, Obroni!« Das rief mir Sofia zu, als ich das erste Mal ihren Klassenraum betrat. Obroni bedeutet Weißer – und als Frau mit heller Hautfarbe stand ich in Ghana oft im Mittelpunkt. Die Kinder rannten mir nach, berührten meine Haut oder meine blonden Haare.
Ghana ist ein Land im Westen Afrikas. Es ist sehr heiß dort, und weil nicht alle Straßen asphaltiert sind, wird immer viel Staub aufgewirbelt. Ziegen und Hühner laufen frei am Straßenrand umher. Die Menschen, auch die Kinder, transportieren alles Mögliche auf ihrem Kopf. Die Frauen binden sich ihr Baby mit Tüchern auf den Rücken. So haben sie beide Hände frei, um zum Beispiel Bananen, Nüsse oder Wasser zu verkaufen. Fließendes Wasser gibt es nur in den Städten, und das auch nicht immer. In den Dörfern auf dem Land holen die Menschen das Wasser aus Brunnen. Statt zu duschen, gießt man sich einen Eimer Wasser über den Kopf.
Fünf Wochen verbrachte ich in diesem Frühjahr in Ghana und arbeitete in einem Waisenhaus. Das ganze Jahr über kommen freiwillige Helfer aus verschiedenen Ländern dorthin. Ich spielte mit den Kindern, wickelte Babys, unterrichtete Mathe und Englisch (obwohl ich Grafikerin, keine Lehrerin bin!) – und lernte Sofia kennen.
Das Mädchen ist sieben Jahre alt und lebt in dem Waisenhaus. Mit ihr wohnen dort noch etwa 75 andere Kinder. Einige haben keine Eltern mehr, andere leben hier, weil ihre Familien zu arm sind, um selbst für die Kinder sorgen zu können. Das klingt alles reichlich traurig, doch auch wenn ihnen im Waisenhaus niemand die Familie ersetzen kann, finden die Kinder hier ein neues Zuhause. Und oft hört man sie lachen, wenn sie über den Hof toben und spielen.
Die Kinder leben in mehreren bunt gestrichenen Gebäuden; in zweien sind die Schlafräume untergebracht, in einem die Küche, ein weiteres beherbergt das Büro der Waisenhausleiterin Naomi. Außerdem gehört zu dem Waisenhaus eine Schule, einfache Holzhütten mit Dächern aus Wellblech, durch die es manchmal durchregnet. Die Schule besuchen etwa 100 weitere Kinder, die in der Umgebung leben. Allerdings kommen sie nicht immer zum Unterricht. Wenn gerade kein Geld für den Schulbus da ist, bleiben die Kinder zu Hause. Weil sie so unregelmäßig zum Unterricht erscheinen, verpassen sie viel. Deshalb sind die Kinder in einer Klasse oft unterschiedlich alt. In Sofias Vorschulklasse zum Beispiel lernen Sechsjährige zusammen mit Elfjährigen.
Sofia soll insgesamt elf Jahre lang zur Schule gehen. Das ist in Ghana Pflicht. Wenn Sofia später gute Noten hat, kann sie anschließend die Senior High School besuchen. Die ist vergleichbar mit der Oberstufe des Gymnasiums. Wenn das nicht klappt, kann Sofia im Waisenhaus eine Ausbildung zur Friseurin oder Schneiderin machen.
Wenn morgens um acht Uhr die Schule beginnt, ist das Mädchen schon viele Stunden auf den Beinen. Die Kinder im Waisenhaus stehen nämlich schon sehr früh auf. Sofia trägt zum Unterricht eine Schuluniform, entweder ein gelb-blau gestreiftes oder ein rot-gelb kariertes Kleid. Jede Schule hat eine eigene Uniform, damit man gleich erkennt, wohin die Kinder gehören. Oft ist die Kleidung ziemlich kaputt – an einem Kleid ist der Stoff gerissen, an einer Hose lässt sich der Reißverschluss nicht mehr schließen. Doch die Kinder kennen es nicht anders, und niemand würde auf die Idee kommen, einen Mitschüler wegen seiner Kleidung zu hänseln.
Glitzernde Schulranzen oder Duftradiergummis kennen die Kinder hier nicht. Manchmal mangelt es schon an Stiften und Papier. Die Lehrer sind oft nicht ausgebildet, sondern selbst noch Studenten. Ist einer krank, fällt die Stunde einfach aus, einen Ersatzlehrer gibt es nicht. Und wenn der Strom streikt, was ziemlich oft passiert, findet eben kein Computerunterricht statt.
Verglichen mit Unterricht in Deutschland, geht es hier in den Klassenzimmern reichlich lebhaft zu. Die Kinder beginnen mit ihren Aufgaben meist nicht zur selben Zeit. Während einige von ihnen noch auf einen Anspitzer warten, sind die anderen schon fertig und toben herum. Oft werden sie vom Lehrer dafür nicht ausgeschimpft, manchmal kommt es aber auch vor, dass sie mit einem Stock geschlagen oder an den Ohren gezogen werden. Wenn Sofia ihren Bleistift vergessen hat oder ihr Heft voll ist, kann sie nicht mitschreiben und ihre Aufgaben nicht machen. Da passiert es schon mal, dass sie sich auf ihre Schulbank legt und einfach einschläft.
Der Unterricht wird von Anfang an auf Englisch gehalten. Das ist für Sofia nicht leicht, denn eigentlich spricht sie Twi, das ist ihre Stammessprache. Englisch aber ist die Landessprache in Ghana, denn das Land war einmal eine britische Kolonie. Wenn Aushilfslehrer aus anderen Ländern kommen, so wie ich, ist es natürlich praktisch, auf Englisch unterrichten zu können. Aber schnell merkt man, dass die Schüler einen nicht gut verstehen. Mit Sofia und ihren Mitschülern habe ich mich oft in Zeichensprache verständigt.
Um 15 Uhr ist Schulschluss. Dann spielt Sofia mit den anderen Kindern Spring- und Klatschspiele. Oder sie schnipst Steine und zeichnet Linien in den Sand, bis ganz merkwürdige Figuren entstanden sind. Tanzen mag sie auch sehr gerne – wie die meisten Ghanaer.
Gegen 18 Uhr gibt es Abendessen. Gekocht wird draußen über einem Feuer. Meistens gibt es Reis mit roter Soße. Manchmal auch Hühnerfleisch. Vor dem Essen beten alle gemeinsam, denn die Menschen im Süden Ghanas sind meist sehr gläubige Christen.
Nach dem Abendessen geht es für die Kinder auch schon ins Bett. Ein eigenes Zimmer hat hier niemand, manchmal teilen sich Kinder sogar ein Bett. Sofia schläft in einem Raum mit den Kleinkindern. Und weil es nicht genug Bettgestelle gibt, liegt sie auf einer Matratze auf dem Boden. Viel Ruhe oder Raum für sich haben die Kinder also selten. Aber sehr lang bleibt ohnehin niemand mehr wach. Den meisten fallen die Augen zu – morgens um halb fünf beginnt ja auch schon wieder ein neuer Tag.