Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Ein Heim für kleine Riesen

 

Junge Elefanten brauchen viel Milch und Bewegung/ © Nazan Sahan

Niemand weiß, wo Naipokis Eltern sind. Deshalb wird das Elefantenkind von Tierpflegern mit der Flasche aufgezogen. Zu Besuch in einem besonderen Waisenhaus in Kenia

Von Nazan Sahan

Um sechs Uhr früh schläft Julius Shivengha noch tief und fest, als ein kleiner Elefantenrüssel ihn sanft an der Nase kitzelt. Der Tierpfleger hat auf einer Pritsche im Stall bei dem Elefantenmädchen Naipoki übernachtet. Und jetzt, früh am Morgen, verlangt Naipoki nach ihrer Flasche.

Das Elefantenmädchen ist eine Waise. Niemand weiß, wo ihre Eltern sind, ob sie überhaupt noch leben. Naipoki wurde von Massai, so nennt man Angehörige eines Volksstamms im Westen Kenias, in einem Brunnen entdeckt. Die Massai befreiten Naipoki und brachten sie zu einer Elefantenherde. Aber wahrscheinlich war es nicht die richtige, denn am nächsten Morgen lag Naipoki wieder in dem Brunnen. Diesmal blutete sie am Rüssel. Vermutlich hatten wilde Tiere ihr die Wunden zugefügt.

Da gab es nur noch einen Ausweg: Die Massai riefen den Wildschutzdienst, und der brachte Naipoki in den Sheldrick Wildlife Trust. Das ist ein Waisenhaus für Elefanten, das in der Nähe der kenianischen Hauptstadt Nairobi liegt.

»Naipoki war drei Monate alt, als sie zu uns kam. Wir machten uns große Sorgen, denn sie war sehr geschwächt und hatte diese Verletzungen am Rüssel«, erinnert sich Tierpfleger Julius Shivengha. »Elefantenbabys brauchen in den ersten Lebensjahren die Milch und die Fürsorge der Mütter. Ohne die können sie sterben.« Julius hat das schon erleben müssen. Er arbeitet seit fünf Jahren in dem Waisenhaus. Immer wieder kommt es vor, dass Tierkinder die Flasche verweigern. In den ersten zwei bis drei Jahren ist Milch allerdings unentbehrlich. Elefantenkinder beginnen zwar mit drei oder vier Monaten, Blätter zu fressen. Aber diese werden zunächst noch unverdaut wieder ausgeschieden.

Naipoki hat sich gut eingelebt. Sie ist inzwischen ein Jahr in ihrer Ersatz-Herde. 13 Elefantenkinder leben derzeit im Waisenhaus. Die Elterntiere wurden meist von Wilderern getötet. Es ist verboten, Elefanten zu schießen, aber nur selten wird ein Täter erwischt. Naipoki ist gern mit den anderen jungen Elefanten zusammen, doch am liebsten schmiegt sie sich an ihren Lieblingspfleger Julius, tätschelt ihn so lang mit dem Rüssel, bis er ihr einen Finger entgegenstreckt, an dem sie saugt wie an einem Schnuller.

Julius verbringt immer einen ganzen Tag und eine Nacht mit dem Elefantenmädchen. Aber dann wird er von einem Kollegen abgelöst. Denn Naipoki soll sich nicht zu sehr an eine einzige Person binden. Die Gründerin des Waisenhauses, Daphne Sheldrick, hatte anfangs den Fehler gemacht, sich ganz allein um ein Elefantenbaby zu kümmern. Eines Tages musste Daphne verreisen und das Kleine für ein paar Wochen einem anderen Pfleger übergeben. Zum zweiten Mal in seinem kurzen Leben erlebte das Tierkind einen schweren Verlust: Erst war die richtige Mutter fort, nun auch noch die menschliche Ersatzmama. Das Elefantenkind wurde so traurig, dass es nichts mehr fraß und schließlich starb. Seitdem wechseln sich die Pfleger im Waisenhaus jeden Tag ab.

Julius hat diese Nacht in Naipokis Stall verbracht und ihr alle drei Stunden die Flasche gegeben. »Sie sehen uns als ihre Mütter. Wenn sie Hunger haben, wollen sie ihre Flasche.« Naipoki streckt den Rüssel in die Luft, damit Julius ihr die Flasche geben kann. Sie nuckelt so ungeduldig, dass ihr Milch aus den Maulwinkeln tropft.

Nach der Fütterung darf Naipoki mit den anderen Tierkindern spielen. Die kleinen Elefanten stürmen aufeinander zu, beschnuppern sich und tauschen Zärtlichkeiten aus. Die älteren Männchen rempeln sich an, stellen die Ohren auf, um mit ihrer Größe anzugeben, und treten auch schon mal nach einander. Alle Tiere warten darauf, dass die Pfleger sie in den Wald begleiten. »Dort teilt sich die Gruppe meist auf«, sagt Julius. »Die Älteren trauen sich schon tiefer in den Dschungel, die Jüngeren bleiben lieber in unserer Nähe.«

Draußen im Wald kann man auch beobachten, wie Elefanten sich in einer Herde verhalten. Die älteren weiblichen Tiere bemuttern die Kleineren, legen ihnen liebevoll und beschützend ihre Rüssel über den Rücken. Elefanten leben in großen Herden, wo sich alle gemeinsam um die Kleinen kümmern. Mehr als zehn Jahre dauert es, bis ein Elefant selbstständig in der Wildnis überleben und eigenen Nachwuchs bekommen kann.

Das Familienleben der Tiere wurde erst in den letzten Jahren genauer erforscht, zum Beispiel von der Biologin Joyce Poole, die den Wildschutzdienst in Kenia geleitet hat. Sie fand heraus, dass Elefanten ihre eigene Sprache haben. Sie verständigen sich mit vielen verschiedenen Lauten – vom fast unhörbaren, tiefen Grollen bis zum ohrenbetäubenden Trompeten.

Solche Laute können Julius und die anderen Tierpfleger den Elefantenkindern nicht beibringen, aber alle zusammen, Pfleger, Stiefbrüder und -schwestern, sind der Ersatz für die Großfamilie. Drei Jahre lang bleiben die Jungtiere in dem Waisenhaus, lernen, wo die wohlschmeckendsten Pflanzen zu finden sind und wie man die nahrhafte Baumrinde von trockenen Zweigen abschält. Auch wie man seine Stellung in der Gruppe behauptet und wie man Fußball spielt. Würden die Elefantenkinder in einer Herde aufwachsen, müssten sie mit dieser viel umherziehen und würden so stark und kräftig werden. Damit die Tiere sich im Waisenhaus genug bewegen, gibt es Sportstunden.

Naipoki wird noch zwei Jahre im Waisenhaus bleiben. Wenn sie drei ist, wird sie anderthalb Meter hoch sein und 500 Kilo wiegen – groß, stark und selbstbewusst genug für den nächsten Lebensabschnitt. Sie wird sich von ihrem Lieblingspfleger Julius verabschieden und in einen Transporter steigen, der sie in den 400 Kilometer entfernten Tsavo-Nationalpark bringt. Dort, in der Auswilderungsstation, erwartet sie ein großes Wiedersehen mit Stiefgeschwistern, die schon vor ihr umgezogen sind und die weitere sieben abenteuerliche Jahre mit ihr verbringen werden. Aber das ist schon die nächste Geschichte…