Wie lebt es sich als Inselkind? Moritz Müller hat uns seine Lieblingsplätze auf Helgoland gezeigt
Von Susanne Gaschke
Drei gewöhnliche Tatsachen über Moritz, erstens: Er ist neun Jahre alt. Zweitens: Er geht in die dritte Klasse. Drittens: Er fährt Waveboard.
Drei ungewöhnliche Tatsachen über Moritz, erstens: Wenn er seine Großeltern besuchen will, muss er erst ein Boot nehmen und dann mit einem kleinen Flugzeug fliegen, und es darf kein Nebel sein. Zweitens: Wenn er draußen spielt, dann kennt ihn jeder, aber auch wirklich jeder Erwachsene, den er trifft. Drittens: Den ganzen Sommer über dürfen Moritz (und seine Freunde) nicht Fahrrad fahren.
Die ungewöhnlichen Tatsachen über Moritz haben damit zu tun, dass er mit seinen Eltern auf Helgoland wohnt. Helgoland ist etwa 1,7 Quadratkilometer groß, liegt 40 Kilometer vom Festland entfernt und ist Deutschlands einzige Hochseeinsel. Weit und breit ist sie von Wasser umgeben, man kann sie nur zur See oder durch die Luft erreichen, und alle Lebensmittel, alle Fernsehapparate, alle Turnschuhe, Werkzeuge, Kochtöpfe und was immer man sonst noch braucht, müssen extra hierherbefördert werden. Wenn mehrere Tage lang schlechtes Wetter ist – Sturm, Nebel –, dann wird in den Geschäften das Gemüse knapp.
Ungefähr 1200 Menschen leben auf Helgoland. Das klingt nach einer ganzen Menge. Aber wenn man sich Tag für Tag sieht, dann sind es gar nicht so viele. Schnell weiß man alle Namen; was die Leute arbeiten, ob sie sich zu Hause streiten und ob sie gut für ihre Kinder sorgen.
Kaum jemand weiß das besser als Moritz, denn sein Vater, Sven Müller, hat eine besondere Aufgabe im Ort: Er ist der Schulleiter der James-Krüss-Schule, der einzigen Schule der Insel. Sie beherbergt eine Grund-, eine Haupt- und eine Realschule (wer nach der 10. Klasse bis zum Abitur weiterlernen möchte, muss aufs Festland ins Internat). 91 Kinder und Jugendliche werden hier unterrichtet, die Klassen sind klein, es gibt schöne Sportangebote, und auf dem Schulgelände halten die Schüler Meerschweinchen, Fische, Schildkröten, Hühner und noch viele andere Tiere (auch Moritz hat seine beiden Kaninchen hier untergebracht). Der Schulleiter ist natürlich ein wichtiger Mann, und alle anderen Erwachsenen achten gern mit darauf, dass sein Sohn sich besonders gut benimmt: »Alle sagen den Eltern, wenn man was macht«, sagt Moritz halb grinsend und halb genervt. Wir verstehen, was er meint, als er Christina, die Fotografin, und mich über die Insel führt, um uns seine Lieblingsplätze zu zeigen – alle grüßen ihn mit Namen. Und als sich Moritz gerade nicht sicher ist, ob wir vor der evangelischen oder der katholischen Kirche stehen, mischt sich sofort eine freundliche Frau ein: »Das ist die evangelische, Moritz, die katholische ist da drüben.«
Immer unter Aufsicht zu sein ist vielleicht ein bisschen lästig, aber gleichzeitig hat das Inselleben große Vorteile für Kinder: Weil alle mit aufpassen, kann man fast überall ohne die Begleitung von Erwachsenen spielen. Abends um sechs Uhr ruft dann ein besonders langes Läuten der Kirchenglocken alle Kinder zum Abendessen nach Hause. Das funktioniere erstaunlich gut, sagt Moritz’ Mutter: »Es ist hier einfach so, und alle halten sich daran.« Auf Helgoland gibt es keine Autos, nur ein paar Elektrofahrzeuge und Bagger für Bauarbeiten, also muss sich niemand vor gefährlichem Straßenverkehr in Acht nehmen. Alle Wege sind kurz, zur Schule brauchen Moritz und sein Vater nur ein paar Minuten. Moritz’ bester Freund Paul wohnt gegenüber im Rekwai, wo Moritz’ Eltern ein hübsches blau-weißes Häuschen haben. Am Ende des Zweiten Weltkriegs und kurz danach war Helgoland durch Bomben und Sprengungen schrecklich zerstört worden; in den 1950er Jahren hat man alles wieder aufgebaut. Von fast jedem Haus und auch von der Schule aus kann man das Meer sehen.
Moritz zeigt uns, dass Helgoland tolle Plätze zum Spielen hat: Da ist die »Düne«, eine Extra-Insel, zu der man mit einer Minifähre fährt. Dort liegen im Sommer alle in der Sonne oder baden; dort kann man auch Robben aus nächster Nähe betrachten (aber Vorsicht: Sie beißen!).
Von der Düne betrachtet, sieht die Hauptinsel aus wie ein mehrstöckiger Kuchen. Unten ist sie von Sandstrand umgeben, wo Klassenkameradinnen von Moritz gern »Ausgesetzt in der Wildnis« spielen. Obendrauf ist sie platt und grün; dieses sogenannte »Oberland« erreicht man, indem man eine 184-stufige Treppe hinaufklettert (sehr anstrengend) oder mit dem Fahrstuhl fährt (das machen die meisten Einwohner). Im Oberland zeigt uns Moritz alte Bombenkrater, die längst mit Gras überwuchert sind. Schafe weiden hier, »und man kann super runterschlittern«, sagt Moritz. Und schlittert. Christina und ich sind da lieber etwas vorsichtiger. Mit Respekt betrachten wir auch die steilen roten Klippen, in deren Nischen und Vorsprüngen Tausende von Seevögeln nisten und ein höllisches Geschrei veranstalten. Senkrecht geht es hier in die Tiefe, und nur ein mickriger Zaun markiert die Kante. Gott sei Dank ist allen Helgoländer Kindern absolut klar, dass man jenseits des Zaunes nicht herumturnen darf.
Warum aber ist auf Helgoland das Radfahren verboten? Das liegt an den Touristen. In ähnlich großen Zahlen wie die Seevögel kommen sie im Sommer hierher, wandern herum, lassen es sich in Kneipen und Cafés gut gehen und kaufen steuerfreien Alkohol und Zigaretten ein (weil die Insel so weit im Meer liegt, gelten hier andere Steuersätze als auf dem Festland, das macht manche Dinge billig). In diesem Gedränge ist für Fahrräder kein Platz – und das ist schon manchmal ärgerlich, findet Moritz. Andererseits wissen alle Insulaner, dass sie den Tourismus brauchen, denn hier wird ja sonst nichts angebaut oder hergestellt, was man verkaufen könnte. Trotzdem ist es am schönsten auf Helgoland, wenn die Ausflugsboote wieder abgedampft sind und es still wird auf dem Oberland, in der Stadt und im kleinen Hafen. Moritz’ Eltern denken manchmal darüber nach, ob sie noch einmal woanders hinziehen sollten, aufs Festland, wo mehr passiert und man nicht so abhängig ist von Touristen, Wind und Wetter. Moritz hat dazu eine ganz klare Meinung: »Ich will hier nicht weg«, sagt er bestimmt. Wer so denkt, ist ein echter Helgoländer.