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Baum + Stein= Kunst

 

Hat da ein Vogel ein Nest aus Stein gebaut? Nein, das ist ein Werk des Künstlers Giuseppe Penone/ Giuseppe Penone, »Idee di Pietra«, VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Die Documenta ist eine der wichtigsten Kunstausstellungen der Welt. Alle fünf Jahre findet sie in Kassel statt. Hier kann man staunen – und nachdenken

Von Christof Siemes

Einmal hat ein Künstler auf der Documenta ein Loch in die Erde gebohrt, einen Kilometer tief, und es mit Stäben aus Messing gefüllt. Das Kunstwerk hieß Erdkilometer, man konnte von ihm nicht viel sehen außer dem runden Anfang, so groß wie ein Handteller. Ein anderer Künstler pflanzte 7000 Eichen, weil er die Verwaltung von Städten blöd fand und sie lieber »verwalden« wollte. Die Bäume stehen heute noch. Und einmal wurde ein Haus für Schweine und Menschen gebaut – die Besucher gingen rein und konnten, nur durch eine große Glasscheibe getrennt, sehen, wie sauwohl sich die Tiere fühlten. So sind sie, die Kunstwerke auf der Documenta: nicht einfach nur schöne Bilder oder kunstvoll geformte Gegenstände, sondern verrückte Sachen, die zum Nachdenken darüber anregen sollen, wie wir eigentlich leben. Oder darüber, was für ein dickes Wunder die Erdkruste ist, über die wir jeden Tag spazieren. Oder warum wir immer mehr Bäume abhacken, um unsere Städte zu vergrößern. Und was die Tiere machen, bevor wir sie töten und essen.

Angefangen hat die Kunstausstellung einmal ganz anders. 1955 war das, zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Damals fand in Kassel die Bundesgartenschau statt. Aber der Maler, Designer und Kunstprofessor Arnold Bode meinte, man sollte dort nicht nur schöne Blumen zeigen, sondern auch Kunstwerke. Vor allem solche, die in Deutschland kaum bekannt waren, weil sie während der Herrschaft von Adolf Hitler und den Nationalsozialisten verboten und verpönt waren: abstrakte Malerei, also Bilder, die keine klar erkennbaren Gegenstände oder Personen zeigen, sondern Farbfelder, Linien, geometrische Formen. Bode erfand für seine Schau den Namen Documenta (aus Lateinisch docere = lehren und mens = Geist), er wollte also den Menschen etwas beibringen über die sogenannte zeitgenössische Kunst – Werke, die nicht vor Jahrhunderten entstanden sind, sondern jetzt, in der Zeit, in der wir gerade leben. Damit war Bode so erfolgreich, dass die Documenta fortan alle vier, später alle fünf Jahre stattfand.

Und so ist es noch heute: Für genau 100 Tage (in diesem Jahr vom 9. Juni bis zum 16. September) verwandelt sich die Stadt in eine einzigartige Schule des Sehens. Eigentlich ist das ein Wunder, denn normalerweise finden solche Ausstellungen in berühmten Städten statt, in Berlin, London oder New York. Kassel sei »die hässlichste Stadt westlich von Sibirien«, hat ein Journalist sogar mal geschrieben. Aber das war übertrieben, und deshalb werden in diesem Jahr fast eine Million Besucher bei der Documenta erwartet. Gezeigt werden die Werke von rund 160 Künstlern an mehreren Orten: im Fridericianum (einem schlossartigen Gebäude, das 1779 als eines der ersten öffentlichen Museen in Europa errichtet wurde), in der vor wenigen Jahren neu gebauten Documenta-Halle, in einem alten Kino und in der Karlsaue, einem Park, so groß wie 3200 Fußballplätze. Billig ist so eine Großveranstaltung nicht, diesmal kostet sie etwa 26 Millionen Euro. Dafür ist es eine einmalige Gelegenheit, zu sehen, was die Künstler in aller Welt bewegt, wie sie denken, malen, filmen, fotografieren, formen, gestalten.

Ausgewählt werden die Künstler vom jeweiligen Leiter der Documenta. Der wechselt bei jeder Ausgabe der Ausstellung, diesmal ist es die Amerikanerin Carolyn Christov-Bakargiev. Nach ihrer Ernennung vor gut drei Jahren ist sie erst einmal rund um die Welt gereist und hat Künstler besucht, um die besten, interessantesten für ihre Ausstellung zu finden. Wer genau alles dabei ist, wird immer erst kurz vor der Eröffnung bekanntgegeben – so soll die Spannung erhöht werden. Ein Teilnehmer in diesem Jahr ist der Franzose Pierre Huyghe: Er hat eine Art verwilderten Garten angelegt, in dem während der ganzen 100 Tage ein Gärtner, ein Hund und auch ein eigens herbeigeschafftes Bienenvolk leben.

Die Chefin möchte, dass die Besucher über diese Kunstwerke nachdenken und dabei begreifen, dass der Mensch nicht der Mittelpunkt der Welt ist. Sie ist beeinflusst von einem alten griechischen Philosophen, der sagte, dass wir niemals wissen können, wie zum Beispiel ein Hund die Wirklichkeit sieht. »Aber wir können trotzdem nach Wissen suchen.« Und dabei Respekt lernen für die tollen Pflanzen, Tiere, Dinge, die uns umgeben.

Dazu ist die Documenta da: Einen Sommer lang mithilfe von Kunstwerken die Welt einmal anders anzuschauen. Das erfordert ganz schön Mut. »Ich möchte, dass Besucher sich ein wenig unsicherer fühlen, wenn sie die Documenta gesehen haben«, sagt Frau Christov-Bakargiev. Man soll »alles, was man angeblich weiß, durcheinanderwirbeln und noch einmal von vorne anfangen«.

Ein weiteres Documenta-Kunstwerk, mit dem man das in diesem Jahr ausprobieren kann, stammt von dem Italiener Giuseppe Penone. Er hat einen Baum aus Bronze gegossen, in dessen Krone ein zwei Tonnen schwerer Stein liegt. Wie kommt der da hin? Was soll der da? Können Steine auf Bäumen wachsen? Damit man sich mit solchen Fragen nicht allein herumschlagen muss, gibt es das »Studio d(13)«, ein spezielles Programm für Kinder und Jugendliche. Künstlerinnen und Künstler haben Materialien ausgewählt und Aufgaben vorgeschlagen, mit denen Ihr die Ausstellung wie einen Abenteuerspielplatz erforschen könnt.