Muchtasar ist 14 und lebt im asiatischen Usbekistan. Normalerweise mussten Kinder dort bei der Baumwollernte helfen – jetzt dürfen sie zur Schule gehen
Von Diana Laarz
Im vergangenen Herbst hat sich das Leben der 14-jährigen Muchtasar verändert. Sie wohnt in einem Dorf in Usbekistan. Drei Jahre lang musste sie jeden Herbst bei der Baumwollernte helfen und konnte nicht zur Schule gehen. »Jeden Morgen um acht Uhr kam der Bus, um uns Schüler abzuholen. Ich wäre am liebsten nicht eingestiegen«, sagt sie. Doch im vergangenen Herbst war alles anders. Muchtasar durfte zur Schule gehen, sie musste Hausaufgaben machen – und hat sich darüber gefreut. Kinder müssen in Usbekistan keine Baumwolle mehr pflücken. Bürgerrechtler und viele Unterstützer auf der ganzen Welt haben Kindern wie Muchtasar geholfen.
Usbekistan ist ein Land in Zentralasien. Viele Menschen dort sind sehr arm. In dem Dorf von Muchtasar fällt manchmal für viele Stunden der Strom aus. Ihre Eltern sind Bauern, Muchtasar ist die zweitjüngste von acht Schwestern. Wenn alle zu Hause sind, schlafen die Mädchen gemeinsam in einem Raum auf Matratzen auf dem Boden.
Die Wirtschaft von Usbekistan ist abhängig von der Baumwolle. Die sieht aus wie große Schneeflocken, die an den Zweigen knorriger Büsche hängen. Sie wächst fast auf jedem Feld in Usbekistan. Der Präsident des Landes, Islam Karimow, verkauft sie an Firmen zum Beispiel in Indonesien und Bangladesch, wo daraus billige T-Shirts und Hosen genäht werden. Muchtasar hat gelernt, dass die Baumwolle das »weiße Gold« des Landes ist. Aber Islam Karimow wollte nicht viel Geld für Arbeiter bezahlen, die die Baumwolle pflücken. Kinder sind billiger, sie bekommen nur einen ganz geringen oder gar keinen Lohn. Also schickte der Präsident jeden Herbst fast zwei Millionen Schüler auf die Felder zum Arbeiten. Kinderarbeit ist eigentlich nicht erlaubt, aber Karimow war das egal.
Muchtasar kann sich noch sehr gut erinnern, wie anstrengend das Schuften auf dem Feld war. Jedes Kind bekam einen Beutel um die Hüfte geschlungen, erzählt sie, und begann zu sammeln. Wenn der Beutel voll ist, ist er sehr schwer, den Kindern tat der Rücken weh. Es war heiß, manchmal über 40 Grad. Die Baumwollbüsche wurden vor der Ernte mit einer Chemikalie besprüht, damit die Blätter abfallen. Durch diese Chemikalie wurde die Haut an den Händen rau und rissig. Außerdem darf man nicht zu viel davon einatmen. Jedes Kind musste pro Tag mindestens 40 Kilogramm Baumwolle pflücken. »Ich bin immer sehr schnell müde geworden«, sagt Muchtasar. Aber aufhören durfte sie nicht. Wer weniger als 40 Kilogramm pflückte, bekam Ärger mit dem Schuldirektor. Er drohte mit schlechten Noten.
Dass Muchtasar nun keine Baumwolle mehr pflücken muss, hat sie Menschen wie Dmitri Kossjakow* zu verdanken. Kossjakow ist ein Bürgerrechtler, das heißt, er setzt sich dafür ein, dass die Menschen in Usbekistan frei leben können. Es ist schwierig, in Usbekistan Bürgerrechtler zu sein, denn der Präsident erlaubt es nicht, dass die Menschen zum Beispiel ihre Regierung frei wählen. Darum behindern die Helfer des Präsidenten die Arbeit von Kossjakow. Seine Telefonate werden abgehört, und manchmal wird ihm Angst eingejagt, indem er verhaftet wird. Aber Dmitri Kossjakow macht weiter, obwohl er Angst hat. »Die Kinder in Usbekistan wurden behandelt wie Sklaven im antiken Griechenland«, sagt er.
Der Bürgerrechtler musste seine Arbeit geheim halten. Deshalb hat er in seiner Wohnung in der usbekischen Hauptstadt Taschkent eine Saftpackung so umgebastelt, dass er darin eine Videokamera verstecken kann. Damit ist er aufs Land gefahren und hat heimlich die Schüler auf den Feldern gefilmt. Die Filme schickte er an Organisationen auf der ganzen Welt, um ihnen zu zeigen, was in Usbekistan passiert.
Durch die Arbeit von Kossjakow und anderen Bürgerrechtlern hat sich die Lage in Usbekistan verändert. Viele Organisationen haben beim usbekischen Präsidenten gegen die Kinderarbeit protestiert. Über 80 Kleidungsfirmen haben erklärt, dass sie keine Baumwolle aus Usbekistan mehr benutzen werden. Zu den Unterzeichnern dieses Boykotts gehören adidas, C&A und H&M. Für den Präsidenten wurde die Situation kompliziert. Denn wenn der Ruf der usbekischen Baumwolle so schlecht ist, dass niemand sie mehr kaufen möchte, kann er gar kein Geld verdienen. Deshalb hat er im vergangenen Sommer befohlen, dass keine Kinder mehr auf den Feldern arbeiten dürfen. Dmitri Kossjakow sagt stolz: »Ich glaube, das ist ein Verdienst der usbekischen Bürgerrechtler.«
Muchtasar kann jetzt das ganze Jahr über zur Schule gehen, ihr Lieblingsfach ist Usbekische Sprache und Literatur. Der Bürgerrechtler Kossjakow hört trotzdem noch nicht auf mit seiner Arbeit. Weil die Kinder nun in der Schule bleiben, zwingt der Präsident andere Usbeken, bei der Baumwollernte mitzuarbeiten: Ärzte, Krankenschwestern und Lehrer. Das bedeutet, dass es im Herbst in manchem Krankenhaus zu wenig Doktoren gibt und in mancher Schule zu wenig Lehrer. An Muchtasars Schule arbeiten 80 Lehrer. Im Herbst musste die Hälfte von ihnen Baumwolle pflücken, und Muchtasar konnte manchmal nichts lernen, obwohl sie in der Schule war – denn der Unterricht fiel aus. Dmitri Kossjakow sagt: »Ich will, dass in Usbekistan kein Mensch mehr zur Arbeit gezwungen wird.«
*Name geändert