Seit Wochen regen viele sich darüber auf, dass Geheimdienste ohne Erlaubnis Menschen ausspionieren. Was macht Geheimnisse überhaupt so faszinierend?
Von Katrin Hörnlein und Christian Staas
Mit Geheimnissen ist das so eine Sache: Man darf sie nicht verraten, sonst sind sie ja nicht mehr geheim… Na prima, dann könnte dieser Text hier eigentlich auch schon wieder enden. Denn Geheimnisse sind scheue und schreckhafte Wesen.
Also andersrum: Was machen Geheimnisse mit uns? Warum sind sie so faszinierend? Sie ziehen uns an, machen uns neugierig, hibbelig. Mancher bettelt sogar, nur um eins zu erfahren. Du bist drin oder Du bist draußen, sagt das Geheimnis. Und natürlich wollen wir drin sein. Wer Geheimnisse kennt, der ist ein bisschen wie ein Auserwählter. Etwas Besonderes.
»Es gibt kein Geheimnis, das die Zeit nicht enthüllt«, hat der Dichter Racine vor mehr als 300 Jahren geschrieben. Anders ausgedrückt: Früher oder später kommt alles raus. Aber ist das wirklich so? Klar, die Geheimnisse, von denen wir wissen, wurden enthüllt, sonst wüssten wir ja nichts von ihnen. Aber sind da nicht noch Hunderte, Tausende, Millionen andere? Nur wo?
Die Vorstellung, dass wir alle von Geheimnissen umgeben sind, kann einen ganz schwindelig machen. Damit ein Geheimnis uns so anziehen kann, muss es sich allerdings erst mal ein bisschen zu erkennen geben. Schau, hier bin ich, aber Du kriegst mich nicht, sagt das Geheimnis. Und natürlich wollen wir es dann unbedingt erwischen.
Stell Dir vor, es liegt ein Brief an Deinen Nachbarn vor Deiner Tür. Ein grau-er, ordentlich beschrifteter Umschlag. Der Absender hat einen normalen Namen: »N. Geisheim« steht da, und darunter eine Adresse in irgendeiner Stadt in Deutschland. Würdest Du diesen Brief lesen wollen?
Aber was wäre, wenn auf dem Brief »streng geheim!« stünde und als Absender »007«? Würdest Du versuchen, den Brief zu öffnen? Würdest Du vielleicht sogar den Klebestreifen über Wasserdampf erwärmen, um an den Inhalt zu kommen? Und wenn Du ein vermeintlich leeres Blatt, das ganz schwach nach Zitrone duftet, herausziehen würdest, kämst Du auf die Idee, es zu bügeln, weil die geheime Botschaft sicher mit unsichtbarer Tinte verfasst wäre?
Wahnsinn, wie schnell sich die wildesten Bilder in unsere Köpfe schleichen, sobald wir »geheim« lesen, hören oder auch nur denken. Das kann einen solchen Sog entfalten, dass Menschen sogar Dinge tun, die sie eigentlich verabscheuen, nur um ein Geheimnis zu erfahren.
Umgekehrt gibt es nichts Schwierigeres, als ein Geheimnis zu bewahren. Alle würden Dich um mich beneiden, und doch darfst Du niemandem von mir erzählen, sagt das Geheimnis. Aber etwas für sich zu behalten kann einen richtig plagen. Und – o nein! – wie schnell hat man sich verplappert!
Denn das Verdrehte an Geheimnissen ist, dass man sie nicht erzählen darf, dass sie aber nur Spaß machen, wenn man sie teilen kann. Hat man allein ein Geheimnis, kann das ziemlich einsam machen. Wir brauchen Mitwisser, um ein gutes Geheimnisgefühl zu haben. Dann erst wird ein Geheimnis zu etwas Schönem, Besonderem, Wertvollem. Zum Beispiel die Stelle am Fluss, an der man, von herabhängenden Ästen versteckt, im Schatten liegen kann, während die Füße im gluckernden Wasser baumeln. Wenn Du so einen Ort kennst, willst Du ihn nur mit der engsten Freundin teilen. Da soll doch nicht Deine ganze Klasse rumturnen. Oder das Rezept für die weltbeste Zitronenlimonade, die so sauer ist, dass sich Dein Zahnfleisch zusammenzieht und es auf Deiner Zunge prickelt. Deine Uroma hat die Zutaten an Deine Oma weitergegeben, die an Deinen Papa und der an Dich. Das verrätst Du vielleicht – ganz vielleicht – Deinem besten Freund. Aber das sollen doch nicht alle wissen! Eher hütest Du es wie einen Schatz.
Ich gehe andere nichts an, sagt das Geheimnis. Aber wie ist das mit Verbrechern? Die haben auch Geheimnisse. Die Diebin vertuscht ihre Tat, der Mörder versteckt sich im Dunkeln. Gibt es also auch schlechte Geheimnisse? Und muss man denen nicht auf die Spur kommen? Zweimal Ja! Geheimnisse, die anderen schaden, sollten nicht geheim bleiben. Jemanden zu schützen ist immer wichtiger, als ein Geheimnis zu bewahren. Deshalb gibt es Detektive, Spione und Polizisten. Sie sind sozusagen professionelle Geheimnislüfter.
Trotzdem: Eine Welt ganz ohne Geheimnisse wäre eine fürchterliche Welt! In einer Welt, in der jeder alles über jeden weiß, gäbe es nichts zu entdecken, zu enträtseln, herauszufinden. Es gäbe kein wunderbares Eingeweihtsein. Wenn jeder immer alles über jeden wüsste, dann könnte man seine Geheimnisse ja gleich in der Zeitung abdrucken.